Gebrochenes Schweigen

Zum Werk von Anna Baar. Von Stefan Gmünder

Online seit: 26. Januar 2023
Anna Baar © Johannes Puch
Auf der Suche nach dem „ewigen Dort“: Anna Baar. Foto: Johannes Puch

„Die Welt, der Schmerz, die Erde, die Mutter, die Menschen, die Wüste, die Ehre, das Elend, der Sommer, das Meer.“ Diese zehn Begriffe notierte Albert Camus 1951 unter der Überschrift „Antwort auf die Frage nach meinen zehn bevorzugten Worten“ in sein Tagebuch. Ich weiß nicht, ob Anna Baar mit Camus, der die Kindheit einmal als Leim bezeichnete, der an der Seele haften bleibt, etwas anfangen kann, ich weiß nicht, ob sie ihn als Autor schätzt, ich glaube aber in ihrem Werk ein paar dieser Wörter gehäuft zu finden – und einiges dessen zu erkennen, was ihr algerischer Kollege „das mittelmeerische Denken“ nennt. Es ist ein Denken über die geografischen und religiösen Bruchlinien hinweg, ein Denken, das die Fülle des Lebens feiert und zugleich um das Maßhalten weiß, ein Denken, das den hässlichen Zweckbau eines reinen Ratio­nalismus ebenso ablehnt wie die grell beleuchteten Potemkinschen Dörfer des Totalitarismus und jeglicher Ideologie. „Ich glaube an den Süden als einzige Himmelsrichtung“, schreibt Anna Baar in einem Text mit dem Titel „Schweigen in Vergangenheitsform“ in ihrem Prosa- und Essayband Divân mit Schonbezug (Wallstein, 2022). Sie spricht darin auch von jenen, die in ihrer Heimatstadt Klagenfurt – und dieses Phänomen gibt es in unterschiedlichen Ausprägungen überall – bei jeder Gelegenheit ein ewiges Gestern aufleben lassen mit viel Bier, Pomp, Fahnen und Trara.

Kreisen um die Utopie

Diesem ewigen Gestern stellt die 1973 in Zagreb geborene Tochter einer aus Dalmatien stammenden Mutter und eines österreichischen Vaters, die in Wien und Klagenfurt aufwuchs, zur Schule ging und studierte, in einem anderen Text den Süden als „ewiges Dort“ entgegen. Das „ewige Dort“, von dem Anna Baar spricht, ist keine romantische Metapher für das ländlich Schöne und gleichzeitig Befremdende der Kindheits- und Jugendsommer, die sie bei ihren vom Zweiten Weltkrieg gezeichneten Großeltern auf der Insel Brač verbrachte, oder jedenfalls nicht nur, es ist ein nach Halt suchendes Kreisen um die Utopie eines Ankommens, das es im Leben nicht gibt, das sich aber in der Kunst finden oder beschwören lässt.

Anna Baar wird nicht aufhören, dem privaten und kollektiven Schrecken Schönheit entgegenzustellen, den Duft von Feigen, das Gefühl von Wind in den Haaren.

In einer Welt, in der für unsere Augen und Ohren alles gleichzeitig geschieht, der Krieg im Osten, die Wahlen im Westen, die Angst im Norden, das Elend im Süden und der Villacher Fasching, in einer Zeit, die zunehmend auf Auseinandersetzung fokussiert und in der das Geschehen wie ein reißender Fluss an uns vorbeijagt, kann man als Leserin, als Leser und auch als Kunstsenat gar nicht dankbar genug für eine Schriftstellerin wie Anna Baar sein. Warum? Weil sie an ihrem unverbrüchlichen, radikalen und zuweilen wütenden Glauben an die Macht der Worte festhalten wird. Weil sie nicht wegschauen oder weghören wird und weil sie nicht damit aufhören wird, dem privaten, aber auch kollektiven Schrecken eine unglaubliche Fülle von Schönheit entgegenzustellen, den Duft von Feigen, Mandeln, Granatapfelblüten, das Gefühl von Wind in den Haaren und den Geschmack türkischen Honigs im Mund. Weil sie mutig ist – und eine Zweiflerin zugleich. Weil sie nicht ruhen wird, von unserer Zeit zu sprechen und von jenem unsichtbaren Seil der Sprache, das die Verbindung zu den Toten und unserer Geschichte hält und somit ein Band des Lebens ist. Weil sie nicht schweigen oder ausweichen wird. Weil sie an Träume glaubt.

„Wie hab ich mich durch die Nächte getragen mit deinem Krieg! Ich hab dein Leben nachgestellt, es am eigenen Leib erfahren.“

In Anna Baars zweitem Roman Als ob sie träumend gingen (Wallstein Verlag, 2017) gibt es einen Jungen mit Hummeln im Hintern, oder wie sie im Dorf sagen, mit einem Vogel im Kopf. Ort der Handlung ist Dalmatien. Aus diesem Jungen wird später ein Kriegsheld werden, ein Partisan, der sich jenen mit dem „Totenkopf auf Helm und Mantelkragen“ entgegenstellt, später zur See fährt und am Ende, als die Kraft ausgeht, stumm ein von Krieg und Verlust geprägtes Leben lebt, ein Leben, in dem selbst die Träume aus Kriegs-​szenen bestehen. Jetzt liegt er auf einer Pflegestation.

Das klingt verheerend und das wäre es auch, würde nicht Anna Baar die Geschichte dieses Mannes erzählen, der seine Erlebnisse auf Kassetten sprach, die er kurz vor seinem Tod der Erzählerin des Buches in die Hand drückt: Mit einem Auftrag: „Erzähl du meine Geschichte.“ Dieser Mann heißt übrigens Klee, es ist der Name, den ihm seine Kriegskameraden gaben, und es ist der Name jenes realen Malers Klee, dessen berühmte Zeichnung Angelus Novus einen Engel zeigt, der sich mit erhobenen Händen und aufgerissenen Augen von etwas wegzubewegen scheint, einer Katastrophe wahrscheinlich, die Trümmer auf Trümmer häuft, wie Walter Benjamin schrieb.

Atmosphären

Der Engel möchte bleiben, die Toten wecken, das Zerschlagene zusammenfügen, doch vom Paradies her weht ein Wind, der den Engel mit den geöffneten Flügeln unaufhaltsam in eine Zukunft treibt, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm in den Himmel wächst. Er kann seinen Blick nicht abwenden. Anna Baar schafft es, in diesem großen Roman, in dem die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verfließen, den Blick dieses Engels und auch den Fokus der Geschichte Klees, der im Krieg alles, auch den Bruder und die große Liebe verlor, in eine andere Richtung zu lenken. Nämlich ins Offene hinaus, weg vom brodelnden Chaos. „Nicht wer im Augenschein die Wahrheit sucht, vermag gerecht auf ein Leben zu schauen, nur der Liebende und offenen Herzens Staunende. Er wird auch die im Dunkeln sehen“ heißt es an einer Stelle – und an einer anderen, an Klee gerichtet: „Geh in die größere Geschichte! Die Frage ist nicht ‚Wie hast du gekämpft‘. Sie lautet ‚Wie hast du geliebt‘.“ Das sind gewaltige, große Sätze.

Die Leichtigkeit ihrer Prosa täuscht über deren Präzision hinweg. Wort für Wort, Sekunde um Sekunde bekommen in diesen Sätzen ihren Platz.

Gewaltig? Groß? Ja, ich weiß, das klingt pathetisch, ist aber so gemeint, es sind, hoffe ich, mehr als nur schöne Worte, lipe riči, wie die unverwüstliche Großmutter, eine ebenfalls vom Krieg geprägte Komplementärfigur zu Klee in Anna Baars erstem Roman Die Farbe des Granatapfels (Wallstein Verlag, 2015) immer wieder sagt. Sie sagt es zu ihrer österreichisch-kroatischen Enkelin und Erzählerin des Buches, die von ihr beschützt, bemuttert, aber auch ständig belehrt als Kind und Jugendliche die Sommerferien auf der Insel Brač verbringt, um später in Wien, Klagenfurt und anderswo ihren Weg zu suchen und das Weiterfürchten zu lernen, weil sie mit einer Angst zu kämpfen hat, die nur bedingt ihre eigene ist: „Wie hab ich mich durch die Nächte getragen mit deinem Krieg! Ich hab dein Leben nachgestellt, es am eigenen Leib erfahren, als hätte sich dein Schicksal in mir fortgepflanzt, als säße mir deine Angst in den Knochen, als nagte dein Hunger an mir, als hieltest du mich im Würgegriff deiner Geschichten, der unerzählten auch, denn wo die Worte fehlen, türmt sich der Verdacht.“ Zu diesem Verdacht kommt noch ein Zweifel an der Sprache. Während das Deutsche, also die Hauptsprache der Erzählerin, für die kroatische Großmutter die Sprache der mordenden, Befehle bellenden Feinde, der „Ibermenschen“ aus dem Norden bleibt, gilt das Kroatische umgekehrt jenseits der Karawanken, wo die Erzählerin lebt, als Sprache derer „da unten“, als Sprache der Tschuschen, Partisanen, Nichtsnutze.

Schweigen oder Sprechen? Das ist eine Frage, die Anna Baar in ihren ersten beiden Romanen und vielen ihrer Essays und Reden, insbesondere über die Kärntner Heimatgeschichte, immer wieder stellt. Wobei das Schweigen, wenn es um das wahre Gesicht des Krieges geht, international ist. Es herrscht auf der Seite der vermeintlichen Sieger ebenso wie auf der Seite der Besiegten, und es herrscht auf der Seite der Täter, die manches nicht an-sprechen ebenso wie aufseiten der Opfer, die es nicht aus-zusprechen vermögen. Kann man als Schriftstellerin also sprechen über das, was nicht gesagt werden kann? Kann man – und das gilt für ein wie immer geartetes Einzelschicksal ebenso wie für kollektive Erfahrungen – erzählen von einem Grauen jenseits der Sprache, weil es keine Worte gibt für das quälende Entsetzen?

Nein, man kann Schweigen nicht brechen, schreibt Anna Baar in Divân mit Schonbezug, jedenfalls das kollektive nicht, das eigene hingegen schon. Indem man dafür eine adäquate Sprache und mehr noch als einen Inhalt eine Form sucht. Beides, Sprache und Form, hat Anna Baar gefunden. Und wie! Daher möchte ich in der gebotenen Kürze gern über die Schlagworte Komposition, Rhythmus, Atmosphäre, Dichte und Leichtigkeit sprechen, die mir für die Bücher dieser Autorin wichtig scheinen und ihre literarische Stimme so unverwechselbar, kühn und bedeutend machen.

Anna Baars Prosa ist leicht, federleicht, doch das Schwebende ihrer Sätze täuscht über deren stupende Präzision hinweg. Wort für Wort, Sekunde um Sekunde bekommen in diesen Sätzen ihren Platz. Und es ist diese detailversessene Genauigkeit, die eine der großen Stärken dieser Autorin erst ermöglicht: das Schaffen von Atmosphäre. Viele, auch Rezensenten, glauben, es handle sich bei dieser sogenannten Atmosphäre um Beiwerk, etwas leicht Herzustellendes, etwas Gemachtes. Ich glaube, das stimmt nicht, Atmosphäre hat wenig mit Beschreibung, aber viel mit dieser Dichte und Kondensierung zu tun, die, wenn sie variiert wird, auch das Tempo des Textes, seinen Rhythmus bestimmt – und seine Musikalität.

In Interviews hat Anna Baar diesbezüglich auf eine Kompositionsschulung im Musikgymnasium und den Einfluss von Musikpoeten wie Bob Dylan, Leonard Cohen und Patti Smith hingewiesen. Und in der Tat glaube ich, dass diese Autorin ihre Texte komponiert, und ich sage bewusst nicht konstruiert. Komposition hat mit Intuition zu tun und mit Spiel, in Anna Baars Prosa ist es ein meisterhaftes Spiel mit Perspektiven-Verschiebungen und erzählerischen Kippeffekten, die das Vergangene und Gegenwärtige, das Vertraute und Fremde, das Faktische und das Fiktionale in einem Wimpernschlag verschmelzen lassen.

Alles ist in ihren Büchern gleich und gleichzeitig, nah und fern, vertraut und fremd, wahr und erfunden. Das abbrennende Haus vor langer Zeit, vor dem ein Mann steht – und das abbrennende Haus in der Gegenwart, vor dem ein anderer, fiktiver Mann in einem anderen Krieg steht, fließen bei ihr in eins. Es gibt keine Zeit in der Literatur und keine Wahrheit in der Kunst, die Picasso einmal als Lüge bezeichnete, der eine tiefe Wahrheit innewohnt. Als im besetzten Paris ein deutscher Besatzer bei Picasso auftauchte und ihm eine Reproduktion des Gemäldes Guernica vor die Nase hielt, das die Bombardierung des gleichnamigen Dorfes durch die Faschisten zeigt, und fragte: „Haben Sie das gemacht?“, antwortete Picasso: „Nein Sie“.

Lebensrettender Sprung

Lassen Sie mich, um vielleicht doch noch zu einem Ende zu finden, auf zwei Worte aus dem Werk Anna Baars eingehen: Asche und Nil. Seit ihrem ersten Roman schwebt immer wieder Asche durch die Bücher und Essays dieser Autorin, selten stammt sie von Toten oder zerstörten Häusern, fast immer aber von Zigaretten, selbst gerauchten, vor allem aber von den unzähligen von der literarischen Großmutter gepafften.

Diese ephemeren Gespinste reden von Feinstofflichkeit und von etwas, das war, ist und auch wenn man es kaum sieht, immer bleiben wird. Asche ist es auch, die die Anfänge von Anna Baars Schreiben prägt. Zwanzig Jahre lang hat sie alle ihre Texte verbrannt, weil sie ihr nicht gut genug waren und weil sie nichts festschreiben, das Flüchtige nicht bannen wollte. Doch manchmal ist das Flüchtige stärker als das Wollen, manchmal jagt das Schicksal eine oder einen um den halben Erdball, bevor die Bestimmung gefunden wird, und manchmal dauert es ein halbes Leben, ehe man zur ersten Zeile ansetzt, die man auch gedruckt sehen möchte. Dass Anna Baar diesen Sprung gewagt hat, ist unser Glück und ich hoffe auch ihres.

Und Nil? Das ist der Titel von Anna Baars bislang letztem Roman, mit dem sie, glaube ich, an der nächsten Etage ihres Werkes zu bauen begonnen hat, einer Etage, die sich einer autobiografischen Lesart verschließt. Vordergründig handelt der Roman von einer Geschichtenerfinderin, die vom Chefredakteur eines Frauenmagazins beauftragt wird, in der nächsten Ausgabe endlich ihre Fortsetzungsstory zu einem Ende zu bringen. Doch im Hintergrund oder im Untergrund des Buches rumoren weit wichtigere Fragen als eine Redaktions-Deadline. Es sind Fragen nach Wahrheit, Realität – und nach Schöpfung. Kann Schreiben das Leben von anderen beeinflussen, oder das eigene gar? Kann das Ende eines Buches tödlich und ein Sprung von der Klippe lebensrettend sein? Liegt Böhmen am Meer und fließt der Nil tatsächlich durch Klagenfurt? Lassen wir es offen. Ich möchte, nachdem ich in dieser Rede viele Umwege genommen habe, mit Worten der Autorin aus dem Roman Nil (Wallstein Verlag, 2021) enden: „Der wahre Dichter vermag jedes belanglose Schicksal ins große Ganze zu stellen, Ort und Zeit zu durchqueren, als sei er leibhaftig zugegen. Du denkst nur deinen Teil, aber das Eigentliche will dir nicht in den Sinn, der Fluss, die Berge Ruandas, denen er munter entspringt, die Wüsten, die er durchfließt, um als gewaltiges Delta endlich ins Meer zu münden. Vielleicht gibt es gar keine Dichter. So wie die Dinge liegen, sind sie längst ausgestorben, wie die Haderlumpen und stolzen Rohrpostbeamten, Fassbinder, Allesschlucker. Oder weißt du noch einen, der dich mit bloßen Worten in sein Innerstes reißt?“ Ja, liebe Anna Baar, ich kenne eine.

Der mit 30.000 Euro dotierte Große Österreichische Staatspreis ist die höchste, von der Republik alternierend in den Sparten Architektur, Literatur, Bildende Kunst und Musik vergebene Auszeichnung. In der Literatur ging der Preis u. a. bereits an Ingeborg Bachmann, Peter Handke, Ilse Aichinger und Friederike Mayröcker. Die Preisträgerinnen und Preisträger werden vom Kunstsenat ausgewählt, der aus den früher Ausgezeichneten besteht, die auf Lebenszeit in den Senat gewählt sind. Bei diesem Text handelt es sich um die leicht adaptierte Fassung der am 25. Januar gehaltenen Laudatio.

Stefan Gmünder, geboren 1966 in Solothurn, ist Redakteur der Zeitschrift VOLLTEXT und der Tageszeitung Der Standard.

Quelle: VOLLTEXT 1/2023

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