Neulich

Eine Kolumne von Andreas Maier

Online seit: 23. Januar 2016

Neulich las ich Vaterhaus von Bea Dieker und traf auf eine Stelle, in der das Kind in eine Besenkammer gesperrt wird. Ich begann über Besenkammern nachzudenken. Ich werde öfter gefragt, wie Erinnerung funktioniert. Das Eigentümliche an Erinnerung ist, dass man sie nicht nachprüfen kann, ohne sie zu verändern. Denn dann ginge sie von einer Erinnerung mit all ihren Möglichkeiten in Wissen über. Dem Wissen fehlt im Gegensatz zur Erinnerung aber der Möglichkeitsraum. Eine Erinnerung dagegen ist beweglich und hat eine Geschichte.

In unserem Haus gab es eindeutig keine Besenkammer, das heißt, ich konnte nicht in eine solche eingesperrt worden sein. Die kleinsten Räume in unserem Haus waren die beiden Gästetoiletten, aber ich kann mich nicht erinnern, jemals in einer solchen eingesperrt worden zu sein. Meine Eltern können mich nicht eingesperrt haben.

Jedoch habe ich so ein gewisses, wie soll ich sagen, Erinnerungsgefühl. Ich sehe etwas Weißes vor mir, wohl eine weiße Tür, und eine Treppe. Vielleicht eine Kammer unterhalb einer Treppe. Zugleich ist es luftig. Irgendwo ist Grün.

Im Haus in der Uhlandstraße, in dem mein Onkel mit seiner Mutter lebte, gibt es eine solche Kammer. Man kann darin stehen, sich aber nicht umdrehen, und wenn man aus ihr etwas herausholen will, betritt man sie nicht eigentlich, sondern bleibt auf der Türschwelle stehen und greift hinein. Erleuchtet wird sie von einer niedrig hängenden Glühbirne in bloßer Fassung.

Hier muss ich allerdings sagen, dass ich zum einen diese Kammer Jahre meines Lebens selbst als Besenkammer benutzt habe, auch noch, als ich die Ortsumgehung begann, mir aber nie die Erinnerung an ein dortiges Eingesperrtsein zur Kindheitszeit kam. Es ist da auch nichts luftig, die Kammer hat kein Fenster. Ich habe zeitweise in meinem Leben viel geputzt. Immer, wenn alles in meinem Leben in Unordnung war, habe ich angefangen, das Haus zu putzen, von oben bis unten, was etwa zwei komplette Tage gebraucht hat.

Ich hatte einmal Russinnen zu Gast (solche, denen man den Sekt einschenken muss, weil sie sich niemals selbst einschenken würden, und die sich beschweren, wenn die Würstchen nicht gepellt sind), und sie konnten nicht glauben, dass der perfekte Zustand des Hauses allein in mir seinen Urheber hatte.

Zum anderen war meine Großmutter eine solche Seele von Person, dass  ich ihr in keiner Weise zutraue, mich jemals in eine Kammer gesperrt zu haben oder überhaupt irgendwohin. Sie gab mir lieber Weinbrandbohnen und Eierlikör. Überhaupt war es in ihrem Haus immer ganz ruhig und still, und das heißt, dass auch ich ruhig und still gewesen sein muss.

Aber was ist dieses Weiße, wo ist die Tür, welche Treppe habe ich vor Augen? Bei meiner anderen Großmutter, der Frau des Oberfinanzpräsidenten, habe ich mich immer äußerst unwohl gefühlt. Wenn meine Eltern früher, als ich ein kleines Kind war, verreisten, wurde ich entweder in ein Kinderhotel gesteckt, was für mich eine so große Hölle war, dass ich fast das Bewusstsein verlor und in den Tagen dort nur vor mich hindämmerte. Oder sie gaben mich zu der Oberfinanzpräsidentengattin nach Frankfurt in die Grillparzerstraße. Dort musste ich mich mittags hinlegen. Dort musste ich immerfort etwas.

Dort traf sich auch immer die ganze Großfamilie. Da mussten dann alle Kinder in den Garten und spielen. Ich musste mit allen Cousins und Cousinen spielen. Ich konnte nicht fliehen, mein eigenes Zimmer war weltenweit entfernt, nämlich 35 Kilometer in Friedberg in der Wetterau, ich hatte keinen eigenen Platz, keinen Rückzug, ich war aufgelöst im Kollektiv. Ich weiß nicht, wie oft sich die Großfamilie traf, alle waren stolz auf diese Großfamilie, ich verstehe so etwas ja bis heute nicht, sehe ich Fotos von damals, wird mir noch heute übel.

Draußen ist immer Grün, und dann geht es ins Haus hinein, und weiter hinten ist diese Treppe. Aber ich glaube, der Raum dort war nicht unter der Treppe, sondern daneben. Er war auch nicht dunkel, im Gegenteil, er hatte ein Fenster.

Diese Erinnerung ist nicht nachprüfbar. Erstens ist das Haus längst verkauft, es wohnen völlig fremde Menschen darin. Zum anderen würde keiner der noch lebenden Beteiligten jemals zugeben, dass ich dort eingesperrt worden sei. Aber ich lese eine Stelle über Besenkammern, komme ins Nachdenken, schreibe diese Kolumne, und nun habe ich also eine mögliche Sommergrünbesenkammererinnerung an das Haus meiner Großmutter in der Grillparzerstraße in Frankfurt am Main, eine Erinnerung, von der ich vor einer Stunde noch nichts wusste.

Offenbar funktioniert Erinnern in etwa so.

Andreas Maier, geboren 1967, lebt als freier Schriftsteller in Hamburg. Zuletzt veröffentlichte er im Suhrkamp Verlag die Romane Das Haus (2012), Die Straße (2013) und Der Ort (2015).

Quelle: Volltext 3/2015