Neulich war ich im Momberger. Das ist eine Apfelweinwirtschaft in Frankfurt-Heddernheim. Ich stand am Tresen und unterhielt mich mit dem Wirt (es war kurz vor der Kelterzeit). Später stand noch Gerhard, ein Stammkunde, bei uns. Gerhard ist mir vor Jahren dadurch aufgefallen, dass er stets mehrere Mobiltelefone und manchmal auch Kleincomputer bei sich trägt, die er auf verschiedenste Weise in der Wirtschaft miteinander verkabelt, um mit ihnen Dinge zu tun, die ich nie begreife. Nennen wir ihn technikaffin. Vor 21 Jahren, also vor unausdenklichen Zeiten, hat er, damals noch auf dem Videotrip und ebenfalls bestens ausgerüstet, in Sachsenhausen ein Konzert des „Sachsenhäuser Apfelweinquartetts“ abgefilmt, drei Stunden lang. Das Konzert fand im Hof der Apfelweinwirtschaft Klaane Sachsehäuser statt, es sangen vier stadtbekannte Apfelweinwirte („Ja de Dorscht, de Dorscht, de Sachsehäuser Dorscht!“). Vor einigen Wochen hat Gerhard mir endlich eine Kopie seiner Aufnahme überreicht, es ist eine Zeitreise in die Vergangenheit.
1995 machte ich gerade meinen Magister. Zwei Jahre zuvor hatte ich meine Frau kennengelernt, die dann erst einmal die nächsten fünfzehn Jahre meine Freundin sein sollte. Ein Großteil der Menschen auf dem Film ist heute längst tot. Die Gesellschaft hat sich inzwischen fast komplett ausgetauscht, aber eigentlich sah Sachsenhausen damals aus wie heute, nur die Autos waren ganz andere, die Leute waren ein bisschen anders angezogen, hatten etwas andere Brillen, und hier und da standen noch Bäume, die heute nicht mehr stehen. (Und keiner hatte Telefone.)
Ich sprach mit Gerhard am Buffet im Momberger über den Film, die Menschen von damals, all die Toten, die damals noch lebten. Gerhard sagte, ich könne ja darüber mal ein Buch schreiben. Ich sagte, wie er wisse, machte ich das sowieso permanent. Im Folgenden sprachen wir allgemein über Bücher, wann denn mein letztes herausgekommen sei und so weiter.
Manchmal werde ich von Fremden im Momberger erkannt. Hin und wieder kommen sie sogar angeblich wegen mir, weil sie den Momberger aus meinen Texten kennen. Vor Kurzem war eine Gruppe da, die mich aber nicht anzusprechen wagte, es wurde mir nur am Folgetag erzählt. Die Gruppe saß im Kolleg und traute sich nicht ans Buffet, weil ich dort stand, der Schriftsteller Andreas Maier. Sie lasen die Speisekarte und entdeckten darauf ein Gericht „Hacksteak à la Maier“. À la Maier bedeutet in der Regel, dass ein Spiegelei oben drauf ist. Sie aber dachten, das Hacksteak sei nach mir benannt, und bestellten daraufhin alle Hacksteak à la Maier.
Inzwischen, als ich mit Gerhard am Buffet stand und über seinen Film, die Toten und meine Bücher sprach, hatte sich ein dritter Mann am Buffet eingefunden, den ich vom Sehen her nicht kannte und den ich nicht weiter beachtete. Er hörte interessiert zu und fragte mich in einer Gesprächspause sehr bald, was ich für Bücher schreibe.
Diese Frage ist immer schwer zu beantworten. Für alle Schriftsteller ist sie schwer zu beantworten, allerdings kommt es mir regelmäßig so vor, als sei sie für mich noch einmal eine Stufe schwerer zu beantworten. Denn ich schreibe ja eigentlich über gar nichts. Über keine Themen, keine Diskurse, und Handlung gibt’s bei mir auch nicht. Meistens sage ich, ich schreibe keine Krimis. Ich meine das nie unhöflich. Aber das Thema ist dann immerhin in der Regel schon beendet. Also sagte ich auch hier, ich würde keine Krimis schreiben.
Der Mann musterte mich plötzlich intensiv. Irgendetwas geschah gerade in ihm. Ich hätte jetzt erwartet, dass er so etwas sagen würde wie: Sind Sie dieser Frankfurter Schriftsteller, der andauernd über Apfelweinwirtschaften schreibt? Manchmal kommt es sogar vor, dass jemand fragt: Sind Sie der Autor der Ortsumgehung? In letzterem Fall bin ich natürlich immer für einen Moment mit der Welt im Reinen.
Der Mann sagte aber nichts in diese Richtung, er fragte urplötzlich: Sind Sie der, der das Udo-Jürgens-Buch geschrieben hat?
Ich konnte das nicht verneinen und fragte einigermaßen erstaunt, wie er dazu komme, ein Buch über Udo Jürgens zu lesen? (Ich muss dazu sagen, dass ich sowieso nach wie vor erstaunt bin, dass überhaupt irgendwer ein Buch von mir liest, daran habe ich mich auch nach sechzehn Jahren noch nicht wirklich gewöhnt.)
Seine Antwort war etwas unerwartet. Er sagte, Udo Jürgens habe eine gewisse Rolle in seinem Leben gespielt, und in seiner Familie. Seine Familie, das heißt, seine Mutter, kannte Udo Jürgens früher sogar persönlich.
Das ist für mich inzwischen nichts ganz Ungewöhnliches mehr. Ich habe im vergangenen Jahr viele Briefe von Frauen erhalten, die einstmals Udo Jürgens persönlich gekannt hatten, auch im Frankfurter Raum, einige dieser Briefe waren voller Andeutungen, ich fürchte, für manche der Briefautorinnen diente ich irgendwie als Stellvertreter U.J.s.
Udo Jürgens, so der Mann, hatte früher seine Mutter immer mal wieder besucht. Wann? So ums Jahr … Er nannte eine Jahreszahl, die dem Augenschein nach etwa seinem Geburtsjahr entsprach. Es gibt, sagte er, da eine Vermutung, der er aber nie wirklich habe nachgehen wollen.
Jetzt musterte ich den Mann. Etwa 1,75 groß, braunes (und braungebliebenes) Haar, braune Augen, leichter Querstand des einen Auges, die spezifische Ohrenform (die Ohren sahen aus wie die U.J.s nach seiner ersten Klagenfurter Ohrenoperation), der ganze Typus.
Noch bevor der Mann es aussprach, sagte ich – ungefragt, vielleicht war das nicht ganz höflich von mir, aber es war völlig offensichtlich: Sie sind ein Sohn von Udo Jürgens!
Er: Er wisse das nicht genau. Er habe das nie nachprüfen …
Ich: Aber natürlich sind Sie unzweifelhaft ein Sohn von Udo Jürgens! Sie sehen ja haargenau so aus!! (Besser gesagt, er sah aus wie eine Person, die sich mit Udo Jürgens zu 50 Prozent vermischt hatte, aber der U.J.-Teil war bemerkenswert rein erhalten und drang durch die andere Hälfte sozusagen überall hindurch.)
Er: … nie nachprüfen lassen, das habe er nicht gewollt, er sei sehr glücklich aufgewachsen, in einem wunderbaren Elternhaus … das hätte ja alles durcheinandergebracht … deshalb hätten sie sich auch nicht so sehr dafür interessiert. Manchmal singe er selbst. Wenn er Udo-Jürgens-Lieder sänge, fänden es viele schon frappant …
Er sagte dann, er sei 56 Jahre alt. Damit lief er nun seit 56 Jahren herum, als optisch halber Udo Jürgens, und ich dachte gleich: Was für eine Aufgabe!
Aber ich dachte natürlich auch: Was man in einer Apfelweinwirtschaft so erlebt! Wenn schon in Heddernheim ein Sohn von Udo Jürgens unerkannt durch die Welt läuft, wo dann noch? Mir fielen Zahlen von Bob Marley und B.B. King ein, beide sollen ja geschätzt jeweils so um die 70 Nachfahren haben. Vielleicht ist das bei Udo Jürgens noch viel höher anzusetzen, er sah ja auch besser aus als Bob Marley oder B.B. King. Am Ende könnte man überall vermuten, dass …
Wir sprachen dann noch eine Weile am Buffet des Momberger über Konzerte, Bücher und die Toten, dann fuhr ich nach Hause und schob mir Gerhards Konzert-DVD mit dem Apfelweinwirte-Quartett ein.
Ich schaute mir Wolfgang Wagner an, den Wirt meiner Stammwirtschaft Zu den Drei Steubern, Dreieichstraße Ecke Klappergasse, wie er Sierra Madre sang, am 31.5.1995 im Hof vom Klaane Sachsehäuser. Er sang wie ein Vögelchen. Er wurde drei Jahre vor Udo Jürgens geboren. Gegenseitige Abkunft hier: ausgeschlossen.