Neulich: Totalreduktion

Von Andreas Maier. „Unreinlich bin ich bislang noch nicht geworden, aber mir geht unterdessen fast jeder Mut ab, mir noch Kleidungsstücke zu kaufen.“

Online seit: 3. Mai 2020
Andreas Maier © PhotographerFFM
„Bin ich eigentlich immer noch der einzige Mensch in Frankfurt, der mit einem Apfelweinglas durch die Stadt läuft?“
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Neulich lief ich durch den Herbst. Ich beginne mich ja selbst immer mehr aufzulösen. Nicht zuletzt merke ich es daran, dass ich nicht mehr an die Zukunft denke. Das Leben, wann kommt es, wie wird es sein, das fragst du dich so lange, bis es längst dagewesen war (Plusquamperfekt). Früher habe ich z. B. von einem Haus auf dem Land geträumt. Heute träume ich gar nichts mehr, wozu denn? Heute bin ich froh, wenn wieder Herbst ist und ich halbwegs meine Ruhe habe. Das ist allerdings immer noch der größte aller Träume.

Manchmal habe ich das Gefühl, mich in eine Art von Totalreduktion hineinzureduzieren. Vor ein paar Tagen lehnte ich an einer Hauswand in der Nähe des Frankfurter Doms, es war an dem Tag, als mal wieder das große Stadtgeläut zu hören war. Das passiert ein paarmal im Jahr, zahllose Innenstadtglocken sind dann zu hören, alle angeblich sogar tonlich irgendwie aufeinander abgestimmt. Dort, in unmittelbarer Nähe des Doms, hörte ich natürlich nur die Domglocken. Vorher war ich ein bisschen durch die Stadt gestreunt, ein Apfelweinglas in der Hand. Bin ich eigentlich immer noch der einzige Mensch in Frankfurt, der mit einem Apfelweinglas durch die Stadt läuft? Ich trage es wie andere ihre Gucci-Handtaschen, oder wie die heißen. (Manchmal laufe ich auch mit dem Apfelweinglas durch Hamburg). Das Glas hatte ich vom Konstabler-Wochenmarkt mitgebracht, Apfelwein von Alfons Dienst aus Friedberg-Ockstadt, meiner Heimat. Aus der Wetterau, die auch ein 33 bis 45 hatte, wie alle, und vielleicht bis heute. Ich teilte mir die Füllung ein, am Dom war tatsächlich noch ein Drittel drin.

Ich bin jemand geworden, der nur noch in der Kneipe herumsitzen will. Was soll man da filmen?

Am Ende des seltenen Großgeläuts schlägt immer noch ein paar Minuten die größte, lauteste und berühmteste aller Frankfurter Glocken, die Gloriosa. Ich stand an der Hauswand, hatte die Augen geschlossen und kam mir vor wie ein Taubblinder, der nur eine unbegreifliche Ahnung von der Außenwelt hat. Die Gloriosa ging durch mich hindurch, jede Zelle vibrierte, ein himmelsartiges Ganzkörperwummen, rhythmisch, schöner als jede Musik. Wäre ich imbezil, würde ich auch so vor mich hinwummern. Aber vielleicht bin ich es ja längst (oder war es schon immer).

Diese Totalreduktion betrifft inzwischen auch andere Teile meines sogenannten Lebens. Ich richte meine Wohnungen kaum noch ein. Es ist mir auch ziemlich egal geworden, ob in der Vorratskammer oder im Kühlschank Sachen vorhanden sind. Was habe ich früher für Menüs gekocht! Jetzt hole ich mir nicht mal mehr Mineralwasser aus dem Laden, sondern trinke gleich aus der Leitung.

Ich fege auch kein Laub mehr.

Unreinlich bin ich bislang noch nicht geworden, aber mir geht unterdessen fast jeder Mut ab, mir noch Kleidungsstücke zu kaufen. Der dumpfe Gloriosa-Zustand ist da viel schöner. Und man kann ja auch nachhaltig tragen.

Ach ja, Pläne. Auch so ein Thema. Um mich herum schmieden alle dauernd Pläne, auch die, die noch viel älter sind als ich. Reisen werden geplant. Theaterbesuche. Events. Kulturelle Höhepunkte werden erlebt. Radtouren konzipiert. Nobelpreise erstrebt. Da sitzen sie dann wochenlang vor dem Telefon und warten auf den Nobelpreis. Neulich waren zwei Bekannte von mir sechs Wochen auf Neuseeland. Ein Freund von mir erzählte vor kurzem begeistert von seinen Wales-Plänen. Ich kann gar nicht beschreiben, was ich empfinde, wenn ich das höre. Ich nicke dann höflich. Meine Verhaltensweise in diesem Fall würde ich am ehesten als Wegducken beschreiben.

Wenn mich jemand zufällig berührt, bin ich manchmal geradezu erschüttert. Vielleicht wird ja alte Haut sensitiver.

Es gibt einen Filmemacher, der einen längeren Film über mich machen will. Wir treffen uns jetzt öfter. Ich glaube, ich mache ihn