Andreas Maier: Neulich

Neulich fuhr ich mit dem Fahrrad nach Frankfurt-Sachsenhausen.
„Die wenigen Leute laufen scheu und in Endzeitstimmung an einem vorbei, irgendwie rattenhaft, Verschlagenheit scheint sich breitzumachen.“

Online seit: 26. Januar 2021

Neulich fuhr ich mit dem Fahrrad nach Frankfurt-Sachsenhausen. Das mache ich in letzter Zeit oft, denn ich mag die S-Bahn nicht, und ich werde immer so seltsam nachdenklich, wenn ich die Menschen in der Bahn sehe. Durch den Wald ist aber schön, wenn auch zunehmend kälter. Immerhin hängen noch ein paar Blätter an den Bäumen, und manchmal scheint auch die Sonne. Hell ist es ja immerhin noch bis sechzehn Uhr so einigermaßen.

Die Wegstrecke beträgt zwölf Kilometer. Das ist nicht viel. Aber ich fahre tatsächlich fast nur durch Wald. Man ist an der frischen Luft und hat viel Zeit zum Nachdenken. Nach einer guten halben Stunde komme ich an der Haltestelle Louisa vorbei. Dort standen wir, ein paar Trinker, vor einem halben Jahr bei Sonne, Wind und Wetter und nahmen verschämt unseren Apfelwein zu uns, den wir auf Metallstangen abstellten, die dort einen Grünstreifen begrenzen.

Wir wussten, dass wir dermaleinst dorthin zurückkehren würden, auch im Winter. Nun wird dort aber seit Monaten, und mindestens bis Februar, die Haltestelle umgebaut, alles ist abgesperrt. Dort kann niemand mehr hin. Wir sind vertrieben.

Ich komme eine Minute später an der Apfelweinwirtschaft Zur Buchscheer vorbei, das Gatter ist geschlossen, kein Lebenszeichen im Hof oder hinter einer Scheibe, alles dunkel. Hier war ich früher manchmal fünfmal die Woche. Wir hatten dort einen Stammtisch. An diesem Stammtisch saß ich seit vielleicht zehn Jahren. Der Stammtisch war noch viel viel älter, er ging über Generationen, das ganze frühere Personal ist längst weggestorben, Herr Minnich, Heinz Renner, Dieter Schlabitz (Schweige-Dieter), Paul, Heiner und Leute wie ich rückten nach auf dem Weg zum Tod. An diesem Stammtisch haben wir auch stets, schon besoffen, einen Teil des 24. Dezember verbracht, wir haben dort vor sechs Jahren von Udo Jürgens’ Tod erfahren und dann seine Lieder gesungen. Was haben wir nicht alle immerfort dort erlebt.

Ich glaube, ich habe bis heute in keiner Wirtschaft je so viel Geld gelassen wie im Gemalten Haus. Es müssen über hunderttausend Euro sein.

Weiter durch dunkler werdende Straßen, fast wie am Anfang des berühmten Udo-Jürgens-Liedes, auf die Schweizer Straße. Ich schließe mein Fahrrad ab. Hier standen früher die Touristen vor der Apfelweinwirtschaft Zum Gemalten