Andreas Maier: Neulich

Digital Detox im Hause Maier – „Die Brüder Karamasow lesen sich erstaunlich schnell, wenn man mal kein Internet hat.“

Online seit: 23. August 2019

Neulich (Vorsicht, es folgt die langweiligste Kolumne aller Zeiten) ging mein Computer kaputt. Er blieb zweieinhalb Wochen kaputt. Niemand machte mir Hoffnungen, er könnte noch einmal zu sich kommen. Aber man wird ja nur betrogen von den Professionellen! Keine Ersatzteile mehr, hieß es, Modell zu alt, irreparabel. Das Einzige, was kaputt war, war ein kleines Kabel.

Zweieinhalb Wochen war bei mir also ein kleines Kabel kaputt. Es ging nachts um halb zwölf entzwei, gerade hatte ich noch eine E-Mail geschrieben, da kam ein großes graues Fragezeichen auf meinen ansonsten völlig leeren Bildschirm. Es blinkte. Ich ging lieber sofort schlafen.

Meine Frau kam irgendwann zurück, und als ich neben ihr saß und las, fragte sie: Was machst du denn da? Ich sagte, ich schneide Seiten auf.

Am nächsten Morgen schlug ich den Computer auf, es erschien ein graues, blinkendes Fragezeichen.

Es erschien aber, metaphorisch gesprochen, das noch viel größere blinkende Fragezeichen in mir. Während ich Kaffee kochte, dachte ich über meinen Zustand nach. Ich konnte nun also keine Mails mehr empfangen. Ich konnte nicht nach Neuigkeiten über Eintracht Frankfurt schauen. Ich konnte meinen Eintracht-Blog (www.blog-g.de) nicht mehr lesen. Ich konnte keinen Perlentaucher bekommen, nicht einmal VOLLTEXT war möglich. Es gab keine Nachrichten. Es waren keine Videos erreichbar. Gab es schon Weltkrieg? Und wie würde das Wetter? Wo war überhaupt meine Frau? Ging denn mein altes Nokia-Handy wenigstens noch? (Ich habe nur ein altes Nokia-Handy, das inzwischen etwa fünfmal am Tag ausfällt – es ist genauso alt wie mein Computer: acht Jahre – mit acht Jahren ist man als Kommunikations- und Rechenmaschine heutzutage so alt wie unter den Menschen die Über-Hundertjährigen; man könnte also Gottes Lob singen: so schlecht sind unsere Körper nicht.)

Mein altes Nokia-Handy ging noch. Mein letzter Draht zur Welt.

Ich habe mit Internet und den modernen Medien nicht so viel zu tun. Kein Facebook und so weiter. Ich besitze ja auch, das habe ich nun schon geschätzte dreihundertmal in diesen Kolumnen geschrieben, keinen Fernseher. Deshalb hat der Moment des Nachdenkens beim Kaffeekochen auch nicht so lang gedauert.

Ein Freund von mir lebte einmal ein paar Jahre in Russland und fuhr eines Tages über den Baikalsee. Es handelte sich um ein kleines Boot mit Außenbordmotor. Der Freund mitsamt damaliger Frau (Russin, aus Blagowestschensk) nahm vorn im Boot Platz, dahinter steuerte der gemietete Bootsbesitzer das Boot. Sie fuhren in den See, meilenweit, und sahen bald fast nur noch Wasser. Russland ist weit, und seine Seen sind es auch. Dann ging der Motor kaputt. Der Bootsbesitzer drehte sich eine Zigarette, öffnete das Motorengehäuse (oder auch nicht, vielleicht gab es keins), schraubte am Motor herum, zog das Start-Seil: Nichts passierte. Er werkelte vielleicht eine Viertelstunde, dann nahm er zwei Ruder und begann zu rudern. Mein Freund war damals schon lang genug in Russland, um die Situation nicht für beängstigend, sondern für ganz normal und eben russisch zu halten: motorenlos auf dem riesigen See, aber man hat ja Ruder.

(Mein russischer Mönchsfreund Alexej, dessen Vater Lkw-Fahrer war, sagte: Wenn Du unterwegs bist in Sibirien und du bleibst liegen, hast du etwa 48 Stunden. Erst lässt du den Motor laufen, solange du noch Benzin hast und dadurch die Heizung läuft. Dann beginnst du, falls möglich, die Ladung zu verfeuern. Am Ende zündest du die Reifen an. Wenn bis dahin noch keiner an dir vorbeikam, wird es langsam eng.) (Natürlich gab es damals noch keine Handys.)

Nach zwei, drei Stunden Ruderei, während deren das Land keinen Zentimeter näher zu kommen schien, kam zufällig ein Boot auf sie zu. Nach kurzer Diskussion einigte man sich darauf, dass mein Freund und seine Frau auf das größere Boot umstiegen und der Bootsbesitzer in seinem Ding abgeschleppt würde. So fuhr das größere Boot an, das Seil spannte sich, und nach kurzer Weile riss es, sodass der Mann im kleinen Boot, offenbar an all das völlig gewöhnt, zurückblieb. Das Letzte, was mein Freund von ihm sah, war, dass er die Zigarette, die er sich eben gedreht hatte, ins Wasser warf und wieder nach den beiden Riemen griff.

Mir wurde also, wie dem Mann im Boot, meine Situation innerhalb von Sekunden völlig klar. Einen neuen Computer würde ich mir nicht am selben Tag kaufen. Den alten zur vermeintlichen Reparatur zu bringen, hatte ich auch keine Lust. Ich habe nie Lust auf Computerläden (ich brachte die Maschine erst eine Woche später weg, um die Diagnose irreparabel zu bekommen; ein Freund reparierte sie dann noch einmal eineinhalb Wochen später innerhalb von drei Minuten).

So stand ich mit meiner Kaffeetasse herum und hätte mich für von aller Welt verlassen und jedweder Möglichkeit beraubt sehen können, wie der Mann im Boot.

In Wahrheit war ab da einfach alles wieder so wie früher. Ich griff nach den Brüdern Karamasow. Die hatte ich zum letzten Mal 2004 gelesen. Zu der Zeit hatte ich noch kein Internet gehabt. Die Brüder Karamasow lesen sich erstaunlich schnell, wenn man mal kein Internet hat. Jetzt lese ich gerade Friedrich der Große in seinen Briefen und Zeugnissen, ein Buch von 1912, das ich mir vor zwanzig Jahren auf einem Wühltisch gekauft, aber nie gelesen hatte. Teils sind die Seiten noch nicht aufgeschnitten.

Meine Frau kam irgendwann zurück, und als ich neben ihr saß und las, fragte sie: Was machst du denn da?

Ich sagte, ich schneide Seiten auf.

Sie googelte währenddessen irgendetwas.

Das Erstaunlichste dieser zweieinhalb Wochen: Alle hatten zwar effektive Probleme, mit mir in Kommunikation zu treten, aber dennoch beglückwünschten mich alle.

Praktische Anweisungen kann ich für mich aus dieser langweiligsten aller denkbaren Kolumnen (Computer-Detox, eh bloß ein Hipster-Thema) nicht ziehen, nur: Beim nächsten Mal werde ich den Computer auch nicht sofort reparieren lassen oder neu kaufen. Das waren nämlich wirklich echt schöne Tage. Und wenn ich dann noch das Handy vergaß, war das Gefühl von Freiheit, Entschuldigung, schlicht und einfach wie früher.

Andreas Maier, geboren 1967, lebt als freier Schriftsteller in Hamburg. Er veröffentlichte im Suhrkamp Verlag unter anderem die Romane Die Straße (2013), Der Ort (2015), Der Kreis (2016), Die Universität (2018), Die Familie (2019) und den Kolumnen-Band Was wir waren (2018).

Quelle: VOLLTEXT 2/2019 – 28. Juni 2019

Online seit: 23. August 2019