Andreas Maier: Neulich

Neulich dachte ich an Klaus Schöffling.

Online seit: 29. Januar 2018

Neulich dachte ich an Klaus Schöffling. Ich denke immer an Klaus Schöffling, wenn ich alte Pressefotos von mir sehe. Fotos, auf denen ich einen Bart hatte. Derzeit habe ich keinen, denn derzeit haben alle um uns herum Bärte, gut geschnittene, hübsch gepflegte Bärte. Was mich an diesen gepflegten Kurzbärten besonders stört, ist die stets scharf gezogene untere Schnittkante am Hals, ich kann gar nicht sagen, wieso ich so allergisch auf sie reagiere. Urplötzlich wuchsen all diese Bärte um uns herum aus dem Boden wie in Asterix Band 1, Asterix der Gallier. Aber vergleichen wir einmal den typischen Hip-Bart etwa mit dem Bart eines Wendländers, wo sie seit Jahrzehnten Bärte tragen (und überdies jonglieren können). Der Wendlandbart sieht aus wie eine alte Eiche. Da steckt Lebenserfahrung drin, Widerstand. Der stand jahrelang im rauhen Wind, der kennt Feldarbeit, Schweiß und Hitze. Der hat sich nie im Spiegel angeblickt. Der weiß quasi gar nicht um sich, der ist einfach nur da und war es, so scheint es, schon immer. Sein Ursprung verliert sich im Dunkel der Geschichte. Er ist so etwas wie das bartgewordene Substrat eines ganzen Menschenschlags und insofern in erhöhtem Maße symbolfähig. Wenn der Satz stimmt, dass man im Wendland der Wahrheit näher ist, dann hat diese Wahrheit vornehmlich die Form eines Bartes. Eine bärtig-jonglierende Wahrheit. Deshalb sagt man über allgemein bekannte Wahrheiten ja auch, sie hätten einen Bart.Andreas Maier ZitatDer Hip-Bart dagegen taucht urplötzlich auf, pilzartig schlägt er sich in einem eben noch bübisch glatten Gesicht nieder und wird auch sofort gestutzt und gehegt und gepflegt und beobachtet und fototechnisch dokumentiert wie das eigene Kind, zu dem man in etwa demselben Verhältnis wie zu diesem Versuchsbart steht. Der Bart als vorübergehende Wunscherfüllung, man hat ein kleines Spatium im Lebensplan zwischen Aromenkochkurs auf La Gomera und Gipfelskisurfen in Nepal und füllt es mit einem Bart. Der Bart wird umhätschelt, ihm gilt die ganze Aufmerksamkeit, die Brille wird passend zu ihm ausgesucht, die Kleidung, man gewöhnt sich sogar eine bestimmte Gangart und Körperhaltung des Bartes wegen an, man stellt das ganze Leben auf diesen Bart ab, aber natürlich nur interimsmäßig, denn er wird keinen Bestand haben, die nächste Mode kommt um die Ecke geschossen, und schon ist der Bart ab, so wie das Kind jetzt Ritalin bekommt, damit es endlich Ruhe gibt.

Diese Neubärte haben auch überhaupt nichts Russisches, dabei war das Urbild des Bartes für mich immer russisch. Ich habe mir damals explizit versucht, einen russischen Bart stehen zu lassen. Ein russischer Bart wird nicht geschnitten, niemals und an keiner Stelle. Es gibt keinerlei Schnittkanten. Mit der Zeit begann mein Bart zu stinken. Ich nahm das natürlich gar nicht wahr, aber meine Frau. Am Anfang fand sie es noch süß, wenn sie durch die Wand des Apfelweinglases beobachten konnte, wie meine ersten, damals noch recht kurzen Oberlippenbarthaare sich in die goldene Flüssigkeit senkten. Der Cheflektor des Suhrkamp Verlags, selbst aus früheren Zeiten erfahrener Bartträger, sagte damals, bald würde ich nur noch mit Strohhalm trinken können. Und tatsächlich hatte ich nicht geahnt, welche Ansprüche ein russischer Bart an einen stellen und welche Schwierigkeiten er einem entgegenbringen würde. Nach fünf Monaten konnte ich morgens nur noch meinen Milchkaffee trinken, indem ich ein großes Handtuch unter mir ausbreitete, auf welches der Milchkaffee, der von meinem Oberlippenbartteil rann, schadlos herabtropfen konnte. Anschließend musste ich den Bart immer mit Seife waschen und war erst dann wieder halbwegs gesellschaftsfähig. Mein Mund war schon seit Wochen nicht mehr zu sehen, auch nicht beim Sprechen. Mein Mund war nur noch eine Vermutung in meinem Gesicht. Meine Frau wühlte sich auch nur noch sehr selten zu ihm durch. Es waren allerdings nicht bloß die diversen Essens- und Flüssigkeitsreste, die dem Bart Aromenvielfalt gaben, sondern er roch nach ihren Angaben vor allem: drüsig. Es muss eine Art von subkutanem Bartschmalz geben, das fortwährend vom Kinn her rückfettet bis weit in den Bart hinein.

Aber soweit ich mich auch mühte mit meinem Tolstoi-Dostojewskij-Solschenizyn-Bart und ihn wachsen ließ – alle paar Wochen begegnete ich Klaus Schöffling in der Stadt, immer zufällig, und es reichte ein Blick aus seinen Augen, ein ganz leise süffisanter himmelblauer Blick, und ich war gedemütigt. Klaus sah meinen Bart nicht einmal abschätzig an. Damit hätte er ihm schon zu viel Ehre erwiesen. Als der junge Marcel in der Recherche zum ersten Mal jener Gruppe junger Mädchen in Balbec an der Mole begegnet, charakterisiert Proust die Mädchen folgendermaßen: „Sie legten allem gegenüber, was nicht zu ihrer Gruppe gehörte, keine posierte Verachtung an den Tag, sondern ihre aufrichtige genügte ihnen schon.“

Einmal sagte Klaus: „Mich kriegst du nie“.

Das erinnerte mich unmittelbar an meinen verstorbenen Chemielehrer Jungblut (zeit seines Lebens bartlos, ehemaliger U-Boot-Soldat, Holzbein, dick). Eines Tages fuhren wir im Bus – Grundkurs Chemie – zur Henninger Bräu Aktiengesellschaft nach Frankfurt am Main, wo es damals noch einen Turm gab, der Henninger-Turm hieß, den es jetzt nicht mehr gibt und für den, da er über ein Jahr manuell rückgebaut wurde, jetzt der AFE-Universitätsturm gleichsam stellvertretend gesprengt wurde, obgleich das eigentlich dem Henninger-Turm gebührt hätte. Wir machten eine Brauereiführung, unter anderem im Henninger-Turm. Anschließend gingen wir in die Probierstube. Dort tranken wir Bier auf Kosten des Hauses und aßen Würste. Ein Schülerleben. Wir tranken ziemlich schnell, denn der Bus wartete. Irgendwann suchte ich die Toiletten auf, stellte mich an die Pissrinne, und plötzlich erschien dieser Jungblut neben mir, schaute abschätzig und sagte: „Na, Maier, selbst hier ziehst du noch den kürzeren“.

Daran dachte ich, als Klaus Schöffling zu mir sagte: „Mich kriegst du nie.“

Mein Leben, meine Demütigungen. Jungblut ist schon lange tot, Klaus Schöffling wird sechzig, und bei mir ist der Bart ab. Und auch wenn es erst am 14. Mai ist: Klaus, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Was wäre Frankfurt ohne Dich? Du bist und bleibst der Bart unseres Herzens.

Andreas Maier, geboren 1967, lebt als freier Schriftsteller in Frankfurt am Main.

Quelle: VOLLTEXT 1/2014 (28. Februar 2014)

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