Neulich

Von Andreas Maier. Die legendäre Udo-Jürgens-Kolumne.
„Ich weiß nicht genau, was da passierte, aber es passierte. Es schoss ein goldenes, leicht rötlich getöntes, warmes Licht in mich hinein, nicht unähnlich der Wirkung von Wodka oder Morphinen.“

Online seit: 4. Februar 2016

Neulich wurde ich verwandelt. Nicht nur die Kirche kann verwandeln. Auch Menschen können verwandeln. Mich verwandelte eine Gymnasiallehrerin aus dem Giessener Raum, es ist nunmehr allerdings auch schon wieder zweieinhalb Jahre her. Es war im Haus der Wetterauer Malerin, diese weilte zu der Zeit auf Kreta, um ihre Kinder zu malen. Denn die Wetterauer Kinder werden ja immer auf Kreta gemalt. Und während die Wetterauer Kinder auf Kreta gemalt wurden, hüteten wir das Haus der Malerin und bekamen Besuch von der Gymnasiallehrerin, die mit der Malerin einstmals zusammen studiert hatte, in Siegen, einer Stadt, in der es angeblich immer regnet.

Ich selbst war 25 Jahre zuvor mit der Malerin nach Siegen gefahren, weil sie dort ihre Mappe abgab. Das war mein einziger Siegenaufenthalt. Es soll dort tatsächlich wirklich immer regnen. Selbst meine Frau hatte keinen angenehmen Siegenaufenthalt, sie war da einmal vor drei Jahren. Sie schweigt darüber. Der Name Siegen sollte doch eigentlich einer Stadt Glück bringen!

Den Erzählungen nach war es in Siegen so unwirtlich und übrigens auch ständig kalt, dass die spätere Gymnasiallehrerin und die spätere Malerin meistens gemeinsam in einem Bett übernachteten, zwecks Wärmeaustausch, und die eine ihre Beine um die andere schlang, so wie die Männer das früher auch in den Schützengräben in der Nacht gemacht haben und die Zaunkönige im Winter bei uns immer noch tun.

Über die Gymnasiallehrerin wusste ich zuerst immer nur aus Erzählungen, sie war anfänglich, also nach dem Studium, auch keine Gymnasiallehrerin, sondern bei irgend so einem Popfunk in Köln oder vielleicht bei RTL, keine Ahnung. Meine erste Begegnung mit ihr war auf einer Party. Als schon alle ziemlich betrunken oder bereits gegangen waren, entwickelte sie die „Theorie von der Spießigkeit ihrer Eltern“.

Mit dem Wort Spießigkeit hat es das intrikate Problem, dass es sich natürlich immer gegen den es Aussprechenden wendet. Meine Frau und ich waren damals an jenem Abend mal wieder die von Gott gesandten Anti-Spießigkeits-Jäger und fuhren mit flammendem Schwert dazwischen. Beweis für die Spießigkeit der Eltern der Gymnasiallehrerin aus dem Giessener Raum war, dass diese Mitglied eines Tennisvereins waren. Meine Frau ist Professorin für katholische Theologie an der Universität Hamburg, Rotherbaum, und ihr deutschsprachiges Lieblingspoplied heißt nach wie vor Ich wünschte ich würde mich für Tennis interessieren, dessen erste Strophe folgendermaßen lautet: „Ich wünschte ich würde mich für Tennis interessieren / das Spiel ist sicherlich nicht schwierig zu kapieren / ich wäre ganz bestimmt ein anderer als ichs jetzt bin / es wäre unbedingt ein Leben mit mehr Sinn.“

Wir zwangen die Gymnasiallehrerin an diesem Abend, dieses Lied zu hören, und wir argumentierten unbedingt für Tennisvereine, also, dass Tennisvereine auch nicht schlimmer als alles andere seien, und gipfelten in dem langweiligen Hauptargument, der Antispießer sei sowieso die höchste Form des Spießers etc. Das Gespräch lief dann endgültig auf Grund durch die schlussendliche Volte der Gymnasiallehrerin, sie selbst sei ja auch schon seit zehn Jahren Mitglied in einem Tennisverein. Eine schönere Form, jemandem die Sprache zu verschlagen, war in dem Moment kaum denkbar. Seitdem habe ich eine Art Grundvertrauen in die Diskursfähigkeit dieser Frau.

Also, die Verwandlung. Sie übernachtete vor zweieinhalb Jahren bei uns im Haus der Malerin und hatte Musik mitgebracht, wohl, weil sie ohne diese Musik nicht auskommt oder sich dann in fremden Häusern verlassen fühlt, wenn sie die Musik nicht dabeihätte oder wie auch immer. Wir saßen später am Abend am Küchentisch, einem riesigen Holztisch, tranken Wein (der Mann der Malerin ist Weinhändler), und sie musste dann plötzlich, vielleicht wie ein Junkie, ihre Musik hören. Sie steckte also ihr Gerät in irgendein Gerät, so macht man ja heute Musik an, und dann begann die Musik, und sie schaute uns erwartungsfroh und mit einem bereits von den ersten Takten seelisch komplett beruhigten Lächeln an. Es war Udo Jürgens.

Meine Frau und ich schauten unter uns. Ich wusste ja, dass diese Frau eine Retronudel ist, auch wenn ich in solchen Worten gar nicht denke. Griechischer Wein ging noch, aber dann kam so ein Lied mit einem Drachen. Da will jemand vom reichen Vater eigentlich gar nichts erben und will auch nicht, dass dieser Reichtümer für den Sohn aufhäuft, sondern der Sohn will mit dem Vater lieber einen Drachen bauen. Das fuhr mir schon in die Magengegend, meine Frau zeigte Schmerzen in der Miene, und nach dem dritten Lied sagte sie, das sei jetzt schon o.k., aber vielleicht auch genug.

Die Gymnasiallehrerin war enttäuscht, aber sie wollte noch nicht aufgeben, und plötzlich merkte ich: Die will das gar nicht hören, die will, dass WIR das hören. Ihr versteht das nicht, sagte sie. Ich: Was ist denn daran zu verstehen oder nicht zu verstehen? Sie sagte: Das ist ganz großes Kino. Das muss man aber erst einmal begreifen. Ich sagte, das sei eine Ansammlung von, na ja, Melodien, und dann solche Texte, Drachen, Vater.

In das vierte Lied, das dann noch kam, ging ich mit ganz großer Ablehnung hinein. Das fing noch viel peinlicher an. Tuschige Akkorde, dann ein „Manchmal komm ich so klein mir vor mit meinen großen Tönen“. Also da geht’s um einen Sänger. Dann kommen plötzlich von irgendwoher Bilder, die der Sänger sich da anschaut. Von irgendeinem Maler. Was soll das? Dann steigert sich das ganze zum Refrain. „Denn mein Bruder ist ein Maler …“.

In diesem Augenblick passierte es. Ich weiß nicht genau, was da passierte, aber es passierte. Es schoss ein goldenes, leicht rötlich getöntes, warmes Licht in mich hinein, nicht unähnlich der Wirkung von Wodka oder Morphinen, und legte sich über die Töne, den Gesang und mich. Die Verwandlung war: Alles, was mir eben noch peinlich gewesen war, war es plötzlich nicht mehr. Meine Seele hatte sich für Udo Jürgens und ein mir bislang verschlossenes Stück dieser Welt geöffnet und alles das in diesem Moment bereits verstanden, keine Ahnung warum. Am Ende des Lieds war ich bereits in Tränen, und als dann noch die Schlusswendung kommt und der Bruder seinerseits nun zitiert wird: „Denn mein Bruder ist ein Sänger …“, war es um mich geschehen. Ich fühlte mich nach dem Lied etwa so, als hätte ich fünfzehn Stunden lang Doktor Schiwago geschaut und wusste nun, was die Gymnasiallehrerin mit „ganz großes Kino“ meinte. Wir hörten dann noch weitere Lieder, jedes war wie fünfzehn Stunden Doktor Schiwago am Stück, und ich weiß noch, dass der Abend mich sehr auslaugte, denn Udo Jürgens laugt einen total aus.

Bemerkenswerterweise war meine Frau völlig resistent. Sie saß nach wie vor mit großen Vorbehalten da, und hier muss ich, auch wenn ich den Rahmen des Textes damit sprenge, eine weitere Geschichte anfügen, von der ich nicht ganz weiß, ob ich sie erzählen darf, aber ich muss ja keine Namen nennen. Doch, einen nenne ich, Arnold Stadler.

Es war an einem oberitalischen See. Mehrere Schriftsteller waren versammelt, Herren wie Damen. Es las eine Lyrikerin Lyrik, in einem kleinen Saal. Es war die phänomenalste, allerdings auch außergewöhnlichste Lesung meines Lebens, denn anschließend hatte jeder im Saal einen Nervenzusammenbruch, die sich an die Lesung anschließenden Ausfallerscheinungen dauerten bis spät in die Nacht, den Namen der Lyrikerin werde ich nicht nennen. Sie las mit leiser Stimme, man musste sich sehr konzentrieren, das war natürlich ein Trick, und sie las sehr seltsame Dinge, die uns alle die Sinne verwirrten, in früheren Jahrhunderten hätte man die betreffende Lyrikerin noch am selben Abend standrechtlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Lediglich zwei Menschen blieben verschont, einmal eine sehr sehr alte andere Lyrikerin, einfach weil sie schwerhörig war und kein Wort mehr verstand, und zum anderen der wie immer großartige und menschlich einfach so profunde Arnold Stadler, der sich einige Minuten nach Beginn der Lesung zurücklehnte, die Arme verschränkte, kritisch schaute, vielleicht ein wenig grimmig sogar, und sein Gesichtsausdruck sagte: damit habe ich nichts zu tun und damit sollte man auch nichts zu tun haben und ich billige das nicht. Er sagte freilich kein Wort. Ich schaute ihn an, aber er konnte auch mich mit diesem Blick nicht retten, ich war anschließend rettungslos in Grund und Boden wie alle anderen auch.

Meine Frau hatte an dem oben beschriebenen Abend exakt den Ausdruck von Arnold Stadler im Gesicht. Ich aber bin verloren und ausgelaugt, so laufe ich seit zweieinhalb Jahren herum, daran ist diese Gymnasiallehrerin aus dem Giessener Raum schuld, nächstens gehen wir wieder zu Udo Jürgens. Wir gehen jetzt immer zu Udo Jürgens. Ich werde immer anämischer. Ich sehe aus wie ein Junkie. Einmal Merci Cherie kostet mich inzwischen die Kraft von drei Lebenstagen. Das ist keine Ironie. Das ist ernst.

Andreas Maier, geboren 1967, lebt als freier Schriftsteller in Frankfurt am Main. Zuletzt veröffentlichte er im Suhrkamp Verlag die Romane Das Haus (2012) und Die Straße (2013).

Quelle: Volltext 4/2014 (3. Dezember 2014)
Online seit: 4. Februar 2016