Die Hölle als Schoß der Welt

Lektürenotizen von Almut Tina Schmidt zu Stanislaw Lem, Wolfgang Hildesheimer, Alejandro Zambra, Leonora Carrington, Nathalie Sarraute, Flann O’Brien, Heimito von Doderer, Walter Serner, Franziska zu Reventlow, Eugen Egner, Inger-Maria Mahlke, Inger Christensen.

Online seit: 17. September 2022

Stanisław Lem: Die vollkommene Leere

„Aber lohnt es sich wirklich, mit derartigen Witzen Meisterwerke abzutun?“ Von Abtun kann keine Rede sein. Unter Stanisław Lems Kritiken imaginärer Bücher findet sich nur ein einziger Verriss. Die überambitionierten Konzepte der vorgestellten Werke sind zwar kaum anders als parodistisch zu verstehen; aber selbst dort, wo die Darstellung künstlerischer Kompromisslosigkeit in Albernheit abgleitet – „Joachim Fersengeld ist ein Deutscher, er hat seine ,Perycalypsis‘ auf Holländisch geschrieben (diese Sprache kennt er so gut wie gar nicht, was er in der Einleitung zugibt), und in Frankreich herausgebracht“ – dominiert Respekt vor der verstörenden Macht des Fiktionalen, auch am Rand sprachlicher Verständlichkeit und auch im Grenzbereich zum Philosophisch-Physikalischen. Sei es in der Unendlichkeit beliebiger intertextueller Verweisketten, der „Idee des palimpsestischen Spiels, das der Kosmos ist“, sei es innerhalb privater Wahnsysteme auf der Figurenebene: „Für diese Menschen stimmt ganz einfach alles mit allem überein, es passt alles zu allem“ – für den Rezensenten ein beunruhigender Befund. „Verlogene Wahrheit und nichtauthentische Authentizität“, mal gezielt konstruiert, mal aus persönlicher Not geboren: dass das bei ihm Abwehrinstinkte gegenüber avantgardistischen Entgrenzungen und „Hunger nach einem nahrhaften Realismus“ auslöse, wie die einleitende Pseudorezension dieser Sammlung von Pseudorezensionen unterstellt, mag einleuchten und greift dennoch selbstverständlich zu kurz: bei jedem noch so „gut geerdeten Realismus“ kann es sich bloß um eine weitere Fiktion handeln. Auch die Position des distanzierten Kritikers bietet nur vermeintlich Halt: „Der Verfasser dieser Worte kann eigentlich auch nicht Holländisch, ist aber durch den Titel, die englische Einleitung und die wenigen verständlichen Wörter im Text zu der Ansicht gekommen, er eigne sich trotzdem als Rezensent.“ Die Lust dieses „Rezensenten“ am Meta- und Paratext spricht aus jedem einzelnen seiner ironischen Entwürfe. Und mögen einige der parodierten literarischen Experimente inzwischen angestaubt wirken; erschreckend viele Kommentare und Prognosen, über die Digitalisierung, über das vertrackte Verhältnis von Text und Welt, über „die Kultur als Fehler“ sind seit Beginn der Siebzigerjahre aktuell geblieben. „Unsere machtvolle Zivilisation zielt auf die Erzeugung möglichst unhaltbarer Produkte in möglichst haltbarer Verpackung.“ Und manche nie verwirklichten Buchprojekte finden ihre Vollendung in der Kritik.

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Wolfgang Hildesheimer: Tynset

Einen fiktiven Kunstverhinderer (Gottlieb Theodor Pilz, 1789–1856, unter anderem verantwortlich für das Ende der Dramatikerkarriere des späteren Turnvaters Friedrich Ludwig Jahn, beteiligt am Verstummen Gioachino Rossinis) und einen tragisch verhinderten, von seinen Eltern in eine Konzertpianistenlaufbahn gezwungenen genialen Versicherungsagenten feiert Wolfgang Hildesheimer in den Lieblosen Legenden. Im Vergleich zu diesen frühen Grotesken sind seine Romane weniger gut gealtert, was erklären mag, weshalb der Roman Tynset, in dem ein Ich-Erzähler sich nachts quer durch die abendländische Geschichte und Kultur in Richtung Tod assoziiert, es nicht unter die gängigen Pandemielektüren geschafft hat. Dabei entwickelt die als Fuge angelegte konzentrierte Binnenerzählung über einen Soldaten, der 1522 die Pest in das große Gemeinschaftsbett eines englischen Wirtshauses einschleppt, von wo aus die Infektion sich unsichtbar („schien der Mond?“) weiter und weiter ausbreitet, durch ihre rhythmische Gestaltung einen unerbittlichen Sog.

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Inger Christensen: Das gemalte Zimmer

In den Fresken der Camera degli Sposi in Mantua hat Andrea Mantegna die Herzogsfamilie und ihren Hofstaat verewigt – ein großes Wort, doch die Art und Weise, wie Inger Christensen in ihrer Erzählung die porträtierten Figuren zum Leben bringt, lässt keine andere Formulierung zu. Ganz im Sinn von Mantegnas perspektivischen Experimenten konzentriert sie sich auf Randgestalten: den Sekretär Marsilio Andreasi, die kleinwüchsige Nana, bei Christensen eine außereheliche Tochter der Herzogin. Über diese Figur drängen irritierende Großfamiliengründungsmythen in die Erzählung – Inkarnationen der literarischen Obsessionen von Nanas leiblichem Vater Enea Piccolomini, Erfolgsautor erotischer Lyrik und Romane, später Papst (Pius II.), und entwickeln eine verhängnisvolle Kraft. Doch auch die bleibt nicht unrelativiert. Am Ende dreht sich die Perspektive radikal: Nachdem zunächst die Porträtierten ins Leben getreten sind, steigt nun in einer umgekehrten Bewegung der zehnjährige Bernardino, Sohn des Malers und selbst bereits Nachwuchskünstler, in die Fresken hinein – entzückenderweise in Form eines Aufsatzes über seine Sommerferien. In der Tiefe der gemalten Landschaften begegnen dem Kind mythologische Figuren aus den Deckenfresken. Schließlich ist es nicht der Held Herkules, sondern der Musiker Orpheus, dem es gelingt, mit seiner Kunst den Tod zu überwinden: Bernardinos Schwester erkennt in der Frau des Musikers ihre verstorbene Mutter. „,Es ist Vater‘, sagt sie. ,Er hat unsere Mutter wieder nach Hause gebracht.‘ ,Ja‘, sagte ich, ,ich wusste, dass es sich machen ließe.‘“ Doch diese Macht der Kunst verspricht nicht nur – als einzige – Rettung, sie stellt die Wirklichkeit in Frage: „,Ich liebe Geschichten‘, sagt Gentilia. ,Komm, wir wollen zu unserer Mutter gehen und sie dazu bringen, dass sie uns alles darüber erzählt, wie unser Vater sie mit sich zur Welt zurückbekommen hat.‘ Welche Welt, denke ich. Aber ich sage es nicht.“

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Inger-Maria Mahlke: Wie ihr wollt

Kleinwüchsig ist auch Mary Grey, Cousine von Elisabeth I. und Bloody Mary I. und somit ziemlich weit oben in der Thronfolge und doch ganz außen vor. Sie sagt selten „ich“ und ist umso präsenter, mit ihren Geltungsansprüchen, ihrem Kampf um Teilhabe. Als Identifikationsfigur biedert sie sich nicht an. Inger-Maria Mahlkes sprachlicher Zugriff auf die Figur, auf die Zeit, lässt die Distanz nie vergessen. Fern jeder ahistorischen Pseudoauthentizität erzählt der Roman von den Mechanismen der Macht in unübersichtlichen Krisenzeiten, entwirrt die Grundzüge eines komplexen Herrschergroßfamilienkonflikts samt konfessioneller Wirren. Beiläufig erhellen präzise Details schwer fassbare Lebensbedingungen: die regelmäßigen Gewaltexzesse, die extreme Armut der Bevölkerung, der unbequeme Alltag auch der extrem Privilegierten, Pestalarm und Schwitzfiebergefahr – „,Die Umstände sind unglücklich‘“, lautet der beschwichtigende Euphemismus. Und alles fressen die Motten, bevor sie besinnungslos zum Licht stürzen, in ihr Verderben.

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Eugen Egner: Die wahren Zusammenhänge

„,Wahrscheinlich wissen Sie von seiner Mottenobsession‘, begann die junge Frau.“ Motten durchflattern das Werk von Eugen Egner, im Erzählband Die wahren Zusammenhänge dienen sie unter anderem als Rohstoff für „Sakralobjekte“, es gibt eine „Mottenzuchtstation“. Und eine „Schaltstelle der Wirklichkeit“. Ein Staunen über die Wörter, eine Begeisterung für die Unbeholfenheit von Phrasen prägt Egners groteske Erzählungen, ein Staunen, das in Komposita wie „Mundharmonikavirtuosenentschädigungsstelle“ mündet und in Bekenntnisse wie: „Mit der Bewegung im Raum stehe ich auf Kriegsfuß […] und seit vorigem Jahr habe ich große Schwierigkeiten mit Reihenfolgen.“ Und schon ist alles möglich, „infolge einer Deformation der Naturgesetze“ – Egner versteht sich auf die anmutigsten Pseudoerklärungen. In phantastisch vergrößerten Wohnungen verliert sich das Raum-Zeit-Kontinuum, seltsame Arbeitsaufträge und noch seltsamere Forschungsunternehmungen führen ins Verderben, allerdings droht Gefahr, sich auf dem Weg dorthin zu verlaufen. Familienkonstellationen erweitern sich durch Verstorbene über das üblich Verstörende hinaus. Gängige Lebensform ist die „Tarnexistenz“. Polizisten ermitteln, kombinieren und kapitulieren: „,Ja, völlig ausgeschlossen, ich weiß‘, gab Straub zu, „trotzdem war es so.‘“ Und so steht da „ein mannshoher luftdichter Glassturz, unter dem ich als toter Zwanzigjähriger aufbewahrt wurde (ich war in jungen Jahren bei einer ungeschickt durchgeführten Musikaufnahme ums Leben gekommen). Obgleich dem erstklassig konservierten Leichnam nichts Unheimliches oder Abstoßendes eignete, wirkte die Konfrontation mit ihm immer etwas irritierend auf mich, der ich inzwischen fast siebzig war“. In den Worten liegt die ganze Unberechenbarkeit der Welt. „Wie lange mag es denn dauern, bis die Landschaft von allein wieder dreidimensional wird?“

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Franziska zu Reventlow: Der Geldkomplex

Alle Probleme sind Geldprobleme – die nicht immer zuverlässige Ich-Erzählerin von Franziska zu Reventlows kurzem Roman steht zu dieser Weltanschauung, auch wenn sie sie zunehmend als Belastung empfindet: „[E]s gab einen Moment, wo ich anfing zu rechnen, blind und inbrünstig zu rechnen. Ich rechnete beim Aufwachen und beim Einschlafen, rechnete, wo ich ging und stand, rechnete all die Summen, die ich brauchte, in meinem früheren Leben gebraucht hätte und späterhin brauchen würde, zusammen und wieder auseinander, kalkulierte alle vorhandenen und nicht vorhandenen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten in der Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Mein ganzes Leben zog wieder an mir vorüber bis in die kleinste pekuniäre Einzelheit, ich sah ein, dass ich niemals genug Geld gehabt hatte und voraussichtlich nie genug haben würde – […] und so ging es fort bis ins Endlose.“ Die Pathologisierung dieses „Komplexes“ akzeptiert sie scheinbar unbedarft, auch weil ihr – mangels Geld – Optionen jenseits der Nervenheilanstalt fehlen. Sämtliche Behandlungsversuche scheitern allerdings und werden verdrängt durch immer neue Anstrengungen, doch noch irgendwie an Geld zu kommen. Auf ihre Umgebung – im Wesentlichen ohnehin glücklose koloniale Abenteurer und Erbschleicher – wirkt das weniger abschreckend als ansteckend. Dieser Weg kann nur ins Casino führen. Und zu einem Bankencrash: Am Ende ist auch die Erzählerin endlich Gläubigerin – sämtliche Summen haben den letzten Rest an Realität verloren.

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Walter Serner: Die Tigerin

Treffen sich die Prostituierte Bichette und der Hochstapler Fec, Spezialisten für das Falsche im Falschen, und beschließen, es mit der wahren Liebe zu versuchen. Wie ernst sie das meinen, wissen sie selbst nicht – und sind bereit, das jederzeit gegeneinander zu verwenden. Aus Leidenschaft wird ein lustvoller Kampf um die Deutungshoheit, der allmählich entgleist, bis der Hochstapler dran glauben muss. „Aber man einigte sich auch diesmal nicht. Nur in einem Punkte herrschte Einmütigkeit: nämlich darin, dass Fec eben doch nur ein Trottel gewesen wäre.“

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Heimito von Doderer: Die Strudlhofstiege

Heimito von Doderers Figuren haben Eigenschaften, aber genau so viele zu viel, dass es schon wieder passt. Je komplexer die Figuren, desto apodiktischer der erste Eindruck: „recht dumm“ sei der Leutnant Melzer, „lächerlich, unsolid, wenig Vertrauen erweckend“ der zweite Protagonist René Stangeler – das ist doch eine Ausgangslage; meist folgt die erste Relativierung bereits im Nachsatz. Wer wen wann wie wahrnimmt, das ist innerhalb von Doderers dynamisch verwickeltem Beziehungsgeflecht die große geheime Frage; und was, aller Wahrnehmungsintensität zum Trotz, übersehen wird. Der gesellschaftliche Skandal beginnt in dem Moment, in dem öffentlich wird, was verborgen bleiben sollte, egal, wie lächerlich die Angelegenheit, ganz egal, wie unverhältnismäßig im Vergleich zu dem, was die übrigen Beteiligten selbst so alles treiben. Bei aller Präzision der Beschreibung: das Wesentliche bleibt unfassbar. Die Namen sitzen (Etelka Grauermann, Rittmeister Eulenfeld e tutti quanti), aber es sind doch alles nur Abkürzungen, nicht nur im Fall von Mary K. und dem kleinen E.P. „Wir wissen Melzers Vornamen nicht. Nein, der Autor weiß den Vornamen seiner Figur nicht, er weiß ihn wirklich nicht“. „(Im Grunde sind das lauter Gemeinheiten.)“

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Flann O’Brien: Der dritte Polizist

Die Hölle ist ein anderer, der vielleicht halb schon ein Fahrrad ist, doch kein Fahrraddiebstahl wird jemals restlos aufgeklärt, auch kein Mord, oder ist man selbst vielleicht schon ein Polizist? Wir bleiben dran.

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Nathalie Sarraute: Sagen die Dummköpfe

Die Hölle sind die anderen. Verunsichert, verletzlich und bedürftig sind sie alle unter Nathalie Sarrautes Vergrößerungsglas, so viel ist zu erkennen im Gewirr der Einzelheiten, der Phrasen und Befindlichkeitserklärungen. Zugehörigkeit ist alles, Abgrenzung hat Methode, als ritualisiertes Auf- und Abwertungsspiel. „Plötzlich Wörter, eine Strophe, eine einzige, sie schwebt, sie entfaltet sich“, schon scheint alles verschoben: Vorwürfe gegen einen der profiliertesten Wortführer sind aufgetaucht, Hinweise auf Denunziation in einer verleugneten Vergangenheit, und wecken Sehnsucht nach radikaler Distanzierung: „[I]ch bin hochgezogen, emporgehievt worden, wir schweben, wie im Hubschrauber, im Flugzeug, und dort unten kann auch ich die Form sehen, die sich sehr scharf abzeichnet … Ja, je höher wir emporsteigen, umso […] deutlicher werden seine Umrisse. Es ist jemand, der ganz angepasst aussieht. Ein Schlappschwanz“. Ein Wechsel in ein anderes intellektuelles Lager wird erwogen: „Es sind Kennwörter, die Zugang erlauben … Wörter, die mir nur ins Ohr geflüstert zu werden brauchen, damit ich glückselig nach dort hinüberwechsle, woher sie kommen, wo sie sind, im ewigen Frieden, im ,wahren Licht‘.“ Doch schon setzen die Beschwichtigungen ein, die Diskursreihen schließen sich wieder, und man steckt drin.

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Leonora Carrington: Das Hörrohr

„Carmella ist nicht eigentlich boshaft, sie hat nur einen etwas ausgefallenen Sinn für Humor.“ Carmella schenkt der 92-jährigen Ich-Erzählerin das Hörrohr, das ihr zu realistischeren Kenntnissen darüber verhilft, wie ihre Familie über sie denkt. Weitere Wahrnehmungsschocks folgen, als sie in ein ungewöhnliches Altersheim abgeschoben wird: Teile ihres Mobiliars sind an die Wände gemalt, von der Wirklichkeit kaum zu unterscheiden. Die Erfahrungen und Erinnerungen und höheren Erkenntnisse der übrigen Heimbewohnerinnen wirken auf die Erzählerin zunächst wie Wahnvorstellungen. Aber sie ist bereit sich anzupassen, findet Freundschaft und Trost: „Glück ist nicht allein für junge Menschen reserviert.“ Die Schriften einer sehr seltsamen Heiligen erweitern ihren spirituellen Horizont in phantastisch weltliche Gefilde. Als eine der alten Damen das Geheimnis einer anderen Mitbewohnerin – oder eher: eines Mitbewohners – lüftet, ist sie so schockiert, dass sie diesen umbringt. Die Heimleitung versucht den Mord zu vertuschen; als könnten die übrigen alten Damen nicht ihren Augen trauen. Dabei merken sie doch auch genau, wie die Pole sich verlagern, die Welt vereist, die Hölle sich öffnet – „,aber Hölle ist nur eine Art der Benennung. In Wirklichkeit ist dies der Schoß der Welt, aus dem alle Dinge kommen‘“, klärt eine unheimliche Doppelgängerin die Erzählerin auf. Sie zwingt sie, in einen Riesentopf voll Brühe zu springen – landet aber durch eine rätselhafte Vertauschung selbst darin. Befreit von ihrem Alter Ego, löffelt die Erzählerin Fleischsuppe und ergibt sich gemeinsam mit ihren Freundinnen einem allmählich wieder heitereren Wahn, dank dem sie auch den eisigsten Verschiebungen auf der Welt noch etwas abgewinnen kann.

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Alejandro Zambra: Multiple Choice

„Der Aufbau dieses Buches folgt dem der sprachlichen Prüfung [des chilenischen akademischen Eignungstests], wie sie bis 1994 gültig war und die neunzig Multiple-Choice-Fragen enthielt, unterteilt in fünf Abschnitte.“ Was Alejandro Zambra hier formal macht, hätte man früher Experiment genannt; und zwar ein zwingendes. Inhaltlich kreisen die je nach Kategorie einzufügenden oder auszuschließenden Begriffe und zu sortierenden Sätze um Überwachung und Gewaltverhältnisse, dann wieder um Banalitäten; die Erzähltexte im Abschnitt „Textverständnis“ reflektieren auf so unterhaltsame wie subtile Weise Alltagserfahrungen während einer Jugend in Chile unter Pinochet, die reduzierten Wahlmöglichkeiten in der Diktatur, die Kapitulation des Bildungssystems vor der Dreistigkeit der Eliten. Und die nach der Lektüre anzukreuzenden vorgegebenen Interpretationsphrasen – „83. Der Vergleich zwischen Kind und Haustier zeigt: I. Die Widersprüche einer Generation, die unter dem Vorwand einer pessimistischen Weltsicht lieber Haustiere hatte als Kinder. II. Die Notwendigkeit, die verantwortungsbewusste Haustierhaltung gesetzlich zu regeln. III. Die Notwendigkeit, die verantwortungsbewusste Kinderhaltung gesetzlich zu regeln.“ – veranschaulichen, was eine Diktatur, aber auch jedes andere sture Erwartungsmanagement, der Sprache antun kann.

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Almut Tina Schmidt, geboren 1971, lebt als freie Schriftstellerin in Wien.

Quelle: VOLLTEXT 4/2021

Online seit: 17. September 2022