Eines der größten Rätsel der Kunst: die Kanonbildung. Die Frage, warum jemand zu den „Exponenten“ einer Epoche zählt oder eben nicht. Was ist das Kriterium? Die leichte Wiedererkennbarkeit? Die eindeutige Eingliederung in ein Raster? Die populäre Gefälligkeit? Die unpopuläre Widerborstigkeit? Das tragische Schicksal? Die Überlieferungslage? – Vermutlich eine Mischung aus alledem. Verbunden mit einer großen Portion Ungerechtigkeit. Der Spruch vom „Urteil der Geschichte“ ist verlogen, unterstellt er doch eine Art kollektive Auseinandersetzung und Anstrengung, um aus dem Gros des Geschaffenen für alle nur das Beste herauszufiltern. Doch davon kann ja keine Rede sein, eher vom genauen Gegenteil: Einer Dankbarkeit des Kulturkonsumenten, wieder einmal nicht selbst wählen zu müssen, sondern sich auf vertraute Namen verlassen zu dürfen. Von den meisten der Vergessenen haben nur die Wenigsten gehört, geschweige denn ihre Werke gelesen oder sie mit Anderen, Bekannten verglichen. Und so bleibt es dabei, dass der monolithische Reinmar von Zweter vom formenreicheren Walther von der Vogelweide überdeckt wird, der exzentrischere und extremere Daniel Casper von Lohenstein vom gemäßigteren Andreas Gryphius, der durchkomponierte glasklare Leo Perutz vom fragmentarischen mäandernden Franz Kafka.
Zu den „Überdeckten“ gehört auch der Dichter Wilhelm Klemm (1881–1968). Und das, obwohl er in Kurt Pinthus’ Menschheitsdämmerung, dieser Gralsburg der deutschsprachigen Moderne, einen durchaus prominenten Platz einnimmt. Anders als zum Beispiel Max Herrmann-Neiße, Walter Rheiner, Oskar Loerke oder Alfred Henschke, alias Klabund, die, trotz ihrer gewaltigen und bedeutsamen Gesamtwerke, dort überhaupt nicht vorkommen. Mit ganzen 19 Gedichten ist Klemm vertreten. Georg Heym dagegen mit 13, Georg Trakl mit 10, Gottfried Benn und Alfred Lichtenstein jeweils mit 8 und Jakob van Hoddis mit 5. Da sich die Menschheitsdämmerung als „ein Dokument des Expressionismus“ versteht, dürfte mit dieser Auswahl angedeutet
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