ALEXANDER KLUGE Zorn und Zeit heißt Ihr Buch. Sie beginnen mit dem berühmten Anfang der Ilias: „Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus.“ Wie würden Sie das übersetzen im Griechischen?
PETER SLOTERDIJK Der im Griechischen dominierende Ausdruck ist thymós in der klassischen Zeit. Bei Homer handelt es sich aber um einen anderen Ausdruck, die menis. Das ist ein Wort, das auch mit dem Wort für Manie stammverwandt ist. Menis und Manie haben gemeinsam, dass sie einströmende Kräfte sind, die das Subjekt wie einen Kanal befallen und es in einen Zustand gehobener Energetisierung versetzen. Anders als es die deutschen Übersetzer gemacht haben, beginnt Homer nicht mit der Anrufung der Göttin, die das Singen unterstützen soll, sondern er setzt das Akkusativobjekt Zorn an die erste Stelle im Satz. Menin, „den Zorn singe, Göttin, des Peleussohns Achilles“. Es ist Europas erstes Wort, weil es an der ersten Stelle im ersten Satz unseres Gründungsdokumentes steht. Wenn man von der Johanneischen Instruktion berührt ist, dass im Anfang das Wort war, muss man sich das erste Wort, das unseren Kulturzusammenhang prägt, genauer ansehen. Da öffnet sich ein großes Archiv.
KLUGE Können Sie die Familie dieser starken Emotion beschreiben, die erst kartografiert ist, wenn Sie die Zeit hinzunehmen, die Stapelbarkeit von Wut, den Stau, die Metamorphosen des Zorns?
SLOTERDIJK Die philosophische Psychologie der Griechen hatte das seelische Feld als einen Energieraum beschrieben, der zwei Fokusse ausbildet mit einem schwachen Epizentrum in der Mitte, wo die vernunfthaften Regungen angesiedelt sind. Es handelt sich um das Ich und das vernünftige Selbst, das aber von sich aus energielos ist. Es ist wie ein Wagenlenker zwischen zwei Pferde gestellt, die in die verschiedenen Richtungen ziehen. Die Chance der Vernunft oder der vernünftigen Persönlichkeit besteht darin, dass man mit diesen bipolaren Energien ständig Kompromisse und taktische Manöver ausführt. An dem einen Pol haben wir die begehrenshaften Regungen, die mit dem Eros verknüpft werden. Der kann hoch und profan sich artikulieren. Auf der anderen Seite haben wir die thymoshaften und die stolzhaften Regungen, die aber auch zwischen hoch und tief sich artikulieren von einem edlen Gerechtigkeitsstreben her, das von Empörung begleitet ist, bis zu dem Ressentiment, das entsteht, wenn der Ausdruck eines gerecht empfundenen Zorns gehemmt wird, sodass sich Reste bilden, die deponiert werden und dabei ihre Lagerfähigkeit erweisen. Der Hass, von dem man heute viel gesprochen hat, ist nichts anderes als die Konservenform eines Zorns, der in seiner spontanen Eruption gehindert worden war. Aber das kennen die allerältesten Griechen zunächst noch nicht. Wenn Achilles, der für uns als der Prototyp des zürnenden Mannes gegolten hat, von seinem Zorn ergriffen wird, dann flammt in ihm die Kampfkraft auf. Es gibt nur einen Modus, in dem sich auch Achilles als Opfer des Ressentiments zeigt. Nach dem Entzug eines Ehrengeschenkes – das ist die hübsche Sklavin, die der Heerführer Agamemnon für sich reklamiert hat – muss er als der Kraft nach Erste dem dem Rang nach Ersten nachstehen. Da zieht er sich grollend in sein Zelt zurück und überlässt die Griechen ihrer Niederlage. Erst als sein Freund Patroklos von Hektor erschlagen wird, vereinigt sich seine ursprüngliche menis wieder und der Zorn flammt exemplarisch auf.
KLUGE Achilles hat ein kleines Gift in sich. Als er Hektor besiegt, bindet er ihn an seinen Streitwagen und schändet den Leichnam, indem er ihn nackt um die Mauern Trojas fährt.
SLOTERDIJK Er geht vom Ausleben seiner menis einen Schritt zu weit in die Hybris hinein. Hybris ist dieser verbrecherische Übermut, mit dem sich ein Handelnder in eine frevelhafte Richtung gehen lässt – übrigens auch unter dem Antrieb eines fehlgeleiteten Stolzes. Die menis produziert auch Überschüsse und Bastarde. Wenn sich der Handelnde solchen Kräften zu weit hingibt, gerät er in das hybride Feld und fordert die Götter heraus. Menschen werden nicht nur von ihren erotischen oder begehrenshaften Regungen geprägt. Wir haben im 20. Jahrhundert eine Psychologie praktiziert, die den Akzent stark auf diesen Pol setzt und dabei den anderen Pol zwar nicht vergessen, aber doch unbetont gelassen hat, wonach Menschen auch von diesen stolzhaften Regungen geprägt sind. Dieser thymotische Regungsherd zersplittert sich in einen Regenbogen von Einzelaffekten, die mit dem Stolz als solchem beginnen, dem Geltungsdrang oder der Ambition, dem Verlangen, vor einer Öffentlichkeit seine eigenen Werten zur Darstellung zu bringen.
KLUGE Das ist der Grenzzaun um meine Person, um mein Land, um meinen Stamm, um meine Gesellschaft, den kein anderer betreten darf. Es handelt sich um Grenzziehung und daraus folgt Krieg.
SLOTERDIJK Dieser Zaun ist aber nicht nur eine Grenze, sondern auch ein Helmbusch, ein Panasch, ein Hoheitszeichen, dessen Aufstellung auch bedeutet: Hier stehe ich, hier hat mein Geltungsbedürfnis sein Zeichen aufgerichtet. Wenn solche Zeichenaufrichtungen missachtet werden und man spürt, dass der Partner oder der Gegner, an den diese Signalements gerichtet sind, die Zeichen ignoriert und missachtet, regt sich Zorn. Der Zorn ist der natürliche Begleiter des Gerechtigkeitsgefühls. Wenn der Zorn aufflammt, ist meistens schon eine Stauung dieses primären Ehrverlangens mit im Spiel.
KLUGE Nietzsche hätte an Ihrem Buch mit größtem Interesse verfolgt, dass Sie Entzerrung des Zorns vom Ressentiment betreiben, dass Sie Eigenschaften beschreiben, die man nicht verbieten könnte, die entweder als Sub- oder als Haupttext Kulturen und Menschenleben bestimmen.
SLOTERDIJK Ich hatte das Gefühl beim Schreiben dieses Buches, Nietzsches Arbeit weiterzuführen. Nach einem hundertjährigen Experiment mit seinen Diagnosen und seinen Prognosen war es wieder an der Zeit, diese thymotische Analyse, die Ressentimentanalyse neu aufzulegen und dieses große Programm einer Kulturtherapie, das Nietzsche gefordert hat, unter den heutigen Bedingungen zu reformulieren.
KLUGE Nietzsche hätte mehrere Worte, Wortfolgen, Wortkaskaden nicht verstehen können. Sie wenden mühelos Kategorien der Ökonomie, die sich in den Frühschriften von Karl Marx finden an wie beim Cross-Mapping. Man legt eine Karte auf eine andere, erfährt die Differenzen und fängt an zu fragen. Was ist eine Bank in diesem Geschäft des Zorns? Wie geht der Austausch?
Der Hass ist nichts anderes als die Konservenform eines Zorns.
SLOTERDIJK In der Moderne haben wir durch unseren vereinseitigten Ökonomismus vergessen, dass Kapitaltheorie und Geldtheorie immer auch eine Aussage über die Sammelbarkeit von Werten implizieren. Die grandiose Beobachtung von Karl Marx zur Definition des Kapitals stützt sich auf die Unterscheidung zwischen dem Schatz und dem Kapital. Das sind zwei Zustände von aufgehäuftem Wert, die sich unterscheiden durch die Tatsache, dass bei dem Schatz eine Anhäufung im Zeichen der Trägheit geschieht, wobei die zeitlose Gegenwart des Wertes bei sich selber den Reiz darstellt. Wir müssen uns vorstellen, wie Aladin die Schatzkammer betritt und in der Gegenwart dieses blendenden Wertes das Numinose innerweltlich erfahren kann. Das kann man mit einem Millionenscheck nicht erleben. Hier ist das als Kapital
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