Bevor der Mensch die Schrift erfand

Alexander Kluge im Gespräch mit dem Prähistoriker Hermann Parzinger über dessen Buch Die Kinder des Prometheus

Online seit: 18. April 2023

ALEXANDER KLUGE Ihr Buch trägt den Untertitel Eine Geschichte der Menschheit vor Erfindung der Schrift. Wann ist das?

HERMANN PARZINGER Die Erfindung der Schrift unterscheidet sich je nach Kulturraum. In Mesopotamien findet sie im späten vierten Jahrtausend vor Christus mit der sumerischen Schrift statt. In Ägypten ist es etwa zur selben Zeit, vielleicht ein bisschen früher. In anderen Gebieten, zum Beispiel in China, ist es später. Aber die Schriftlichkeit ist ein Merkmal von Hochkulturen, von Zivilisationen. Das Buch beschäftigt sich mit der Entwicklung davor, vom Vegetarier, dem Australopithecus, über den Aasfresser und Jäger und Sammler bis hin zu komplexen Gesellschaften, die noch keine Hochkulturen darstellen. Die vielleicht ältesten Hominidenreste in der Sahelzone, also im heutigen Tschad, sind sieben Millionen Jahre alt, aber sehr umstritten. Definitiv beginnt diese Geschichte vor vier bis drei Millionen Jahren. Je weiter die Geschichte fortschreitet, desto mehr beschleunigt sie sich. Wir haben einige Millionen Jahre, aus denen wir ein paar wenige Skelettreste von Hominiden kennen. In dem Moment, in dem das Herstellen von Werkzeugen beginnt, vor zweieinhalb Millionen Jahren in der Olduvaiphase in Tansania, Ostafrika, wird der Mensch kreativ und denkt problemlösend. Das ist für den Archäologen entscheidend. Die Anthropologen oder Paläoanthropologen befassen sich mit der biologischen Menschwerdung und die Archäologen mit den kulturellen Hinterlassenschaften des Menschen. Diese Phase beginnt vor etwa zweieinhalb Millionen Jahren. Die letzten zehntausend Jahre der Menschheitsgeschichte haben eine unglaubliche Dynamik und Geschwindigkeit entwickelt im Vergleich zu den Millionen Jahren davor.

KLUGE Sie sprechen von einer Million, von zweieinhalb Millionen Jahren vor heute. Da gibt es kein Licht in Form von Kerzen. Selbst das Feuer gibt es zu dem Zeitpunkt nicht – wenigstens nicht menschlich – beherrscht. In den Nächten ist es dunkel.

PARZINGER Vor allem das Feuer hat eine entscheidende Bedeutung, es war eine der wichtigsten Innovationen der Menschheitsgeschichte. Das Feuer spendet Wärme. Man kann kältere Gebiete besiedeln. Nicht umsonst ist man aus Afrika ausgewandert nach Europa, nach Asien. Das war der Homo erectus oder Homo ergaster, die bereits das Feuer beherrschten. Das Feuer hilft auch, Speisen verdaulicher zu machen. Tierische Nahrung, also Fleisch, kann gebraten werden, pflanzliche Nahrung, die kochend zubereitet wird, ist besser verdaulich. Der Körper kann die Nährstoffe dieser Nahrung besser aufnehmen. Er entwickelt sich biologisch weiter. Das Gehirnwachstum nimmt enorm zu. Dies war für die Menschheitsentwicklung vom Homo ergaster und Homo erectus bis zum Homo sapiens entscheidend.

KLUGE Sie können räuchern, Fleisch haltbar machen.

PARZINGER Die Haltbarmachung spielt eine zentrale Rolle, und Feuerstellen sind soziale Mittelpunkte.

KLUGE Das sind Versammlungsstätten, wo erzählt wird.

PARZINGER Wenn irgendwo die Sprache entstanden ist, dann an der Feuerstelle. Auch die ältesten Musikinstrumente des frühen Homo sapiens im Jungpaläolithikum finden sich im Umfeld von Feuerstellen.

KLUGE An der Wasserquelle und an der Feuerstelle sind die Versammlungsorte.

PARZINGER Die Wasserstelle muss man nur aufsuchen. Aber das Entzünden von Feuer ist eine höhere intellektuelle Herausforderung für den Menschen gewesen.

KLUGE Da sind es noch wenige Individuen gewesen.

PARZINGER Man muss im Vergleich zu späteren Zeiten von niedrigen Zahlen ausgehen.

KLUGE Fast acht Milliarden sind wir jetzt.

PARZINGER Davon sind wir damals weit entfernt. Zahlen anzugeben ist schwierig, wir haben nur einzelne Funde von Frühmenschen, die sich vor allem auf Afrika, Europa und Asien verteilen. Es ist schwer, das hochzurechnen. Es tauchen immer wieder neue Linien auf, wie der Denisova-Mensch etwa im Altai, der wohl die asiatische Variante des europäischen Neandertalers darzustellen scheint. Was sich aus so früher Zeit, vor Millionen von Jahren, an menschlichen Skelettresten oder auch Gerätschaften erhalten hat, ist auch eher zufällig entdeckt worden. Unser Bild der frühesten Menschheitsgeschichte ist äußerst bruchstückhaft.

KLUGE Nachts ist es dunkel. Aber es gibt auch keine Namen, die mitteilbar sind. Mögen die sich was mitgeteilt haben, sie haben es nicht schriftlich niederlegen können.

PARZINGER Man muss davon ausgehen, dass die früheste Kommunikation eher eine Art Grunzen und Mimik war. Wir wissen das nicht. Die Genetiker können Entwicklungen an Genomen feststellen, um die Sprechfähigkeit zu ermitteln. Auch anhand der Ausformung des Zungenbeins können die Paläoanthropologen Einordnungen vornehmen. Beim Neandertaler war die Sprechfähigkeit ausgeprägter als bei seinem Vorgänger, dem Homo heidelbergensis. Der frühe Homo sapiens unterscheidet sich von uns heute nur wenig. Das ist vor 50 000 Jahren gewesen. In Afrika beginnt die Entwicklung des Homo sapiens dagegen schon vor 100 000 oder 80 000 Jahren. Das ist die früheste Zeit, in der der moderne Mensch „fertig“ war.

KLUGE Er ist biologisch fertig. Das Hirn ist in etwa so groß wie bei uns. Das ist der Anfang des modernen Menschen.

PARZINGER Wir sprechen beim Homo sapiens nicht nur vom biologisch, sondern auch vom kulturell modernen Menschen. Es geht nicht nur um die Sprache, die man dort voraussetzen kann; wie differenziert sie war, ist eine andere Frage. Auf jeden Fall gibt es eine sprachliche Verständigung, alle Voraussetzungen sind da. Dann ist aber auch die Organisation entscheidend. Wir haben Fundplätze, die arbeitsteilige Strukturen belegen. Es gab komplexe Treibjagden, für die es Führungspersönlichkeiten braucht. Das war zum Teil schon vor dem Homo sapiens. Es gibt ferner eine Vorstellung vom Jenseits. Der Neandertaler war der Erste, der Bestattungen angelegt hat, also über das Leben nach dem Tod nachgedacht hat. Der Neandertaler hat auch Kuriosa gesammelt, Versteinerungen zum Beispiel. Er hat die Umwelt beobachtet. Das ist bei Hominiden entscheidend. Der Homo sapiens hat in den Gräbern auch angefangen, den Verstorbenen Beigaben mitzugeben für das Leben nach dem Tod. Er produzierte Kunst, Skulpturen, kleine Figurinen. Die Felsmalereien der in Südwestfrankreich und Nordspanien überlieferten Eiszeitkunst besitzen eine Dynamik, eine Lebensechtheit, eine Beweglichkeit, sogar mit Perspektive, was sie zur ersten Weltkunst werden lässt. Die ist um 20 000 oder 15 000 vor Christus entstanden.

KLUGE Ein moderner Mensch braucht Gründe. Wenn er Gründe hat, kann er sein Verhalten anders entwickeln, als seine genetische Ausstattung es vorsieht. Er ist kein Automat.

PARZINGER Es geht um die ständige Suche nach einer weiteren Optimierung seiner Überlebensfähigkeit, seiner Ernährung, seiner Versorgung. Deshalb kommt der Mensch später auch zur Sesshaftigkeit und zum produzierten Wirtschaften. Die Bevölkerung nimmt zu, die Geburtenraten steigen, wenn man sesshaft ist. Das mobile Leben ist ein limitierender Faktor. Andererseits hielt es ein Gleichgewicht.

KLUGE Es gab wenige Kinder und lange Abstände zwischen den Geburten.

PARZINGER Nehmen wir Alaska und dortige Wildbeutergruppen, Vorläufer der heutigen Inuit, und das Fayyum in Ägypten im fünften und sechsten Jahrtausend vor Christus. Das sind zwei unterschiedliche Weltregionen, einerseits das Fayyum in Ägypten, feuchtes Gebiet, und andererseits subarktische Regionen. In beiden Gebieten sehen wir die sogenannte ökologische Bremse wirken. Im Fayyum ist es wunderbar für Wildbeuter: Jagen, Fischen, Sammeln von essbaren Pflanzen. Man lebt im Überfluss. Ähnlich in Akaska mit den überreichen Lachsvorkommen. Wozu soll man dort zum Ackerbau übergehen?

KLUGE Im Paradies wird nicht gearbeitet.

PARZINGER In Adamagan auf den Aleuten gab es eine Siedlung. Da müssen aufgrund der Zahl der Häuser teilweise bis zu tausend Menschen gelebt haben. Das waren Wildbeuter, aber die lebten wie im Paradies: Fischfang, Unmengen von Lachs, Robbenjagd. Das Meer hat alles im Überfluss gegeben.

KLUGE Das Schlaraffenland macht faul. Diese Reserve ist wiederum der Ort, wo Freiheit und Neuentwicklung entstehen. Es ist ambivalent. Das pure Paradies macht faul, aber durch die Möglichkeit des Paradieses entsteht ein Evolutionsschub aus Freiheit.

PARZINGER Wenn der Mensch sesshaft ist, Ackerbau und Viehzucht betreibt, erzeugt er einen Nahrungsüberschuss. Er kann speichern für schlechte Zeiten, für den Winter. Aber da stellt sich die Frage des Eigentums. Wenn Menschen zusammen wohnen in größerer Zahl, entsteht ein Regelungsbedarf. Wildbeutergruppen waren relativ klein. Wie war diese riesige Siedlung auf den Aleuten organisiert bei tausend Menschen, die gejagt und gefischt haben? Gab es ein Gemeinschaftseigentum? In den frühen neolithischen Siedlungen waren Speicherbauten auch für die Gemeinschaft vorhanden. Wie wird die Verteilung geregelt? Da kommen wir an die Punkte, wo wir mit unseren rein archäologischen Quellen nicht mehr weiterkommen. Politische Führung spielt schon früh eine Rolle. Wir haben in Mesopotamien ab dem fünften Jahrtausend künstliche Bewässerung, um in diesen ariden Gebieten an Euphrat und Tigris Kulturpflanzen anbauen zu können. Das muss organisiert werden. Die Arbeitskräfte müssen eingeteilt werden, es braucht eine Planung. Wer macht das? Aber das ist schon bei Göbekli Tepe die Frage, diesem gigantischen Heiligtum in Südostanatolien aus dem zehnten Jahrtausend vor Christus. Das geht nicht ohne Baumeister.

KLUGE Das sind stadtähnliche Gebilde.

PARZINGER Dort sind es vor allem riesige Kultplätze; es handelt sich um einen Ort, der aus einer Agglomeration von Rundbauten besteht. Da finden sich Skulpturen, mit Reliefzier, deren Bedeutung wir nicht vollständig verstehen. Schon in solch frühe Kulturen braucht man Persönlichkeiten, die so etwas planen, organisieren und strukturieren können.

KLUGE Es ist Kooperation in einer frühen Stufe vorhanden.

PARZINGER Personen, die eine solche Position in ihrer Gesellschaft, in ihrer Gruppe erreichen, müssen besondere Fähigkeiten besitzen. Sie hatten sich ein Erfahrungswissen angeeignet, waren besonders geschickt. Auch Charisma dürfte wichtig gewesen sein. Das waren Führungspersönlichkeiten, wie es sie heute gibt, welche die Massen mitreißen.

KLUGE Erst jagen die Menschen, die Nomaden oder Wildbeuter, den Herden nach und bleiben lebenslänglich an ihnen. Dann fassen sie das Glück, das der Clan und die Gesellschaft bringt.

PARZINGER Das war schon so bei der frühen Jagd in der Zeit des Homo heidelbergensis, vor ungefähr 300 000 Jahren. In Schöningen wurde ein Museum errichtet, wo die dort in einer Schicht eingelagerten und deshalb erhaltenen Holzspeere zu sehen sind. Mit denen lauerte man einer Herde von Wildpferden auf, die dort an die Wasserstelle gingen. Man hat die Herde komplett mit diesen Holzspeeren erlegt.

KLUGE Zwanzig Tiere, fünfzig Tiere?

PARZINGER In dieser Größenordnung. Man hat die Holzspeere nachgebaut und erprobt und dabei festgestellt, dass sie sich von der Gewichtsverteilung, von den Flugeigenschaften und von der Zielgenauigkeit nicht von heutigen Wettkampfspeeren unterscheiden. Das war weit vor dem Homo sapiens. Welches Erfahrungswissen steht dahinter? Erfahrungswissen muss weitergegeben werden. Dazu braucht es Sprechfähigkeit und auch geschickte Menschen, die solch eine Treibjagd organisiert haben. Wenn sie dann so eine Herde erlegen, dann haben sie auf einen Schlag Unmengen an Fleisch. Man hat auch das Fell verarbeitet und die Knochen zerschlagen, weil das Knochenmark sehr nahrhaft ist, die Sehnen der Tiere wurden ebenfalls verarbeitet und wie Schnüre genutzt.

KLUGE Aber das Fleisch wird schnell schlecht. Man kann nicht ein Schlachtfest veranstalten und sich vollprassen.

PARZINGER Gewiss hat man große Feste gefeiert und dabei Unmengen an Fleisch verzehrt. Aber weil das Erlegen einer ganzen Herde ein Glücksfall war, musste man schnell reagieren, um das Fleisch haltbar zu machen, durch Trocknen oder Räuchern. Das braucht auch Organisation. Da muss es Leute geben, welche Verantwortung übernehmen. In Nordamerika gab es den Buffalo Jump. Das hat in der Späteiszeit begonnen und geht bis zur europäischen Besiedelung Nordamerikas weiter. Die Strategie besteht darin, diesen Büffel- oder Bisonherden aufzulauern, sie langsam auf eine Felsklippe zuzutreiben und dann in Panik zu versetzen, etwa durch Feuer oder lautes Schreien. Europäische Reisende, die das noch in der Zeit der Eroberung Nordamerikas beobachten konnten, haben gesehen, wie sich ein Indianer einen Bisonkopf über seinen Kopf hält, ein Bisonfell überwirft. Die Herde wird in Panik versetzt, sie rennt auf eine Klippe zu und stürzt dort in die Tiefe. Dann liegen dort plötzlich regelrechte Fleischberge.

KLUGE Die werden verarbeitet wie in Chicago.

PARZINGER Sie werden entweder durch den Sturz getötet oder die Gliedmaßen sind gebrochen. Dann ist es leicht für eine Jägergruppe, sie zu erlegen. So ein Bison ist ein riesiges Tier und bringt Unmengen an Fleisch. Dort wurden dann Dankesrituale durchgeführt. Man hat sofort mit der Verarbeitung angefangen: Fell, Fleisch und auch das Knochenmark.

KLUGE Die Kinder des Prometheus heißt Ihr Buch. Der hat einen Bruder, den Epimetheus, den Nachdenker. Dieser Bruder ist ein Schusselkopf. Bei der Verteilung der Eigenschaften auf alle Lebewesen missglückt etwas. Der Mensch hat nichts abbekommen. Er wird nackt geboren. Er hat kein richtiges Fell, kein Raubtiergebiss. Er ist für die Jagd nicht besonders geeignet. Er ist zunächst Aasfresser, kann aber so nicht überleben.

PARZINGER Er war damals noch nicht in der Lage, zu jagen. Er musste das nehmen, was Raubtiere zurückgelassen haben. Aber wie kann er das Fleisch in Portionen verarbeiten, die er schlucken kann? Dazu erfindet er die Steingeräte, die das Fleisch schneiden lassen. Das war ein großer Sprung zum Jäger, auch im Hinblick auf die Ernährungsqualität.

KLUGE Sie sprechen von der Speerschleuder, mit der man siebzig Meter schießen kann.

PARZINGER Die Speerschleuder ist eine Verlängerung der Hebelwirkung des Armes. Es handelt sich um ein Stück Holz mit einem Haken an einem Ende, wo man den Speer einhängt. Dann schleudert man ihn Richtung Ziel. Etwas später, nach dem Ende der Eiszeit, kommt es zur Erfindung von Pfeil und Bogen. Die Speerschleuder wird nach dem Ende der Eiszeit aufgegeben und nicht weiter tradiert. Pfeil und Bogen werden bis zur Erfindung des Schießpulvers beibehalten.

KLUGE Ich muss die Sehne zurückziehen, um den Pfeil abzuschießen. Das ist das Gegenteil von Werfen, eine Überlistung der Naturkräfte. Die Nähnadel ist aus Knochen, mit einem Loch. Jetzt kann ich Wämser miteinander kombinieren, die Kooperation der Dinge organisieren.

PARZINGER Der Mensch hat vorher schon Fellkleidung getragen. Aber die Kleidung kann man jetzt besser abdichten. Man hat schon in der Altsteinzeit Hütten gehabt, aus Holzgestänge oder aus großen Mammutknochen. Aber sie müssen mit etwas abgedeckt gewesen sein. Hier kann man eine Verbindung herstellen, die eine bessere Qualität hat als zuvor. Damit ist die Besiedlung von dauerkalten Gebieten möglich.

KLUGE Man kann Klebstoffe aus Birkenpech herstellen und damit Dinge, die nicht zueinander wollen, miteinander verknüpfen.

PARZINGER Das geschieht relativ bald nach der Erfindung des Feuers. Schon in der Zeit des Homo erectus hat man Bitumen, einen harzartigen Klebstoff, genutzt. Den muss man erhitzen, um ihn herzustellen. Er wird in erster Linie verwendet, um in Holzschäften Steinklingen einzusetzen. Die kann man schlecht festbinden. Man muss eine Verbindung herstellen, die von innen kommt, mithilfe von Klebstoff.

KLUGE Sie beschreiben die Verbindung zwischen Greifhand und Verstand. Die Fingerspitzen sind für die Identifikation von Individuen bis heute brauchbar. Sie sind offenkundig mit ihrem Feingefühl direkt mit dem Kopf des Menschen korreliert und geben wiederum zusätzliche Freiheit. Der aufrechte Gang ermöglicht, dass die Hände frei sind. Jetzt werden sie aber intelligent verwendet, nicht nur zum Greifen, Werkzeugmachen oder Betasten, also zur Erotik, sondern auch zum Ausdruck. Ich rede mit den Händen.

PARZINGER „Mit den Händen reden“ oder „Fingerspitzengefühl“ sind bei uns Redeweisen, die auf den neuartigen Einsatz der Hände und der Finger zurückgehen. Das war die entscheidende Voraussetzung dafür, dass der Mensch gestalterisch tätig werden kann. Das setzt wiederum eine entsprechende Strukturierung im menschlichen Gehirn voraus, eine Entwicklung, die diesen Einsatz ermöglicht und das gestattet, was der Mensch mit den Händen hergestellt hat, vom ersten Gerät, um das Aas zu zerteilen, bis letztendlich zur Weltkunst des Homo sapiens in den späteiszeitlichen Höhlen.

KLUGE Friedrich Engels beschreibt die Entstehung der Hände aus der Arbeit, die Entstehung der Intelligenz aus der Arbeit. Manche Leute behaupten, dass die frühen Menschen sich in die Mutter gekrallt haben bei der Flucht. Diese Berührung, diese Zärtlichkeit kann auch die Fingerspitzen ausmachen.

PARZINGER Das ist eher reflexartig, was bei Tieren ähnlich ist. Der Mensch hat den Tieren den gezielten Einsatz voraus, der nicht reflexartig geschieht. Wenn man bei Neugeborenen den Finger in den Handteller legt, greifen die sofort zu. Es gibt diese Reflexe, aber eben auch das, was über das Reflexhafte hinausgeht.

KLUGE Die Verbindung von Sprache und Hand zeigt, was modern ist am Homo sapiens. Mit einer Kralle, die für ein Raubtier praktisch ist, wäre das unmöglich. Haben andere Tiere auch Fingerspitzen?

PARZINGER Man weiß von Affen, zum Beispiel von Schimpansen, an denen man entsprechende Untersuchungen durchgeführt hat, dass sie Steine, Stöcke oder andere Hilfsmittel benutzen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Da ging es darum, eine Nuss zu knacken. Die Affen nehmen einen Stein und hauen darauf. Wenn Delfine ihre Nahrung suchen, in Gegenden mit Korallen, die scharf sind, stülpen sie sich eine Muschel oder Schwämme über die Schnauze, um sich dabei nicht zu verletzen. Aber diese Tiere benutzen nur, was sie vorfinden, sie stellen nichts her. Als ältester Beleg dafür, vor zweieinhalb Millionen Jahren, dass der Mensch gezielt etwas produziert hat, dienen Funde aus der Olduvaischlucht in Tansania. Man hat einen Stein so gespalten, dass scharfe Kanten entstehen. Das hat eine andere Qualität, das ist zielgerichtetes Handeln. Dieses Zielgerichtete dient auch beim frühen Homo sapiens in der Späteiszeit nicht mehr nur zur Sicherung der Ernährung, sondern wirkt auch bei der Kunst und der Musik.

KLUGE Es ist die Erzeugung einer Realität neben der Realität durch die Vorstellung. Das Informieren ist das eine, und das Erzählen ist das andere. Dieses Erzählen mit dem subjektiven Faktor, dem anderen etwas mimetisch vorzumachen, beherrschen die Menschen.

PARZINGER Diese Kunst war auch ein Mittel der Kommunikation. In den Höhlen müssen um die Felsbilder auch Rituale stattgefunden haben. Versteht sich hier die Familie bereits als Ritualgemeinschaft? Das Transzendentale wird sichtbar, wenn der Mensch etwas verarbeiten muss, was er sich nicht erklären kann. Das begegnet uns auch vor Beginn der Sesshaftigkeit mit Ackerbau und Viehzucht. Man erkennt das auch bei Göbekli Tepe, diesem Heiligtum der letzten Wildbeuter um 10 000 vor Christus, einer riesigen Kultanlage mit gigantischen Pfeilern mit Reliefzier, die Fabelwesen, Befruchtungsszenen und andere Motive zeigen. Hier vollzieht sich ein fundamentaler Wandel im Verständnis der Natur. Man hat Tiere, auch Pflanzen, über Jahrhunderttausende beobachtet. Man hat ein riesiges Erfahrungswissen über sie angesammelt. Die Domestikation war ein allmählicher Prozess. Man hat Jungtiere eingefangen, gezähmt, am Ende gezüchtet. Mit den Pflanzen war es ähnlich. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten hat man essbare, wilde Pflanzen abgeerntet; dann hat man angefangen, sie zu verpflanzen, einen kleinen Gartenbau um die Lagerplätze angelegt. Schon der Homo sapiens vor Ende der Eiszeit hat in Australien Buschbrände entfacht, um den dichten Wald zu lichten, damit die essbaren Pflanzen besser wachsen können und auch die Jagd leichter ist als in dichter Bewaldung.

KLUGE Warum entsteht der Homo sapiens in Afrika?

PARZINGER Das können wir nur feststellen, aber nicht näher begründen. Gewiss hat das auch mit den natürlichen Lebensverhältnissen zu tun, die in Afrika gemäßigter waren. Der Homo sapiens taucht vor etwa 50 000 Jahren über den Nahen Osten in Asien auf, macht seinen Weg entlang Südasien, aber auch in Richtung China. Damals waren noch große Wassermassen an den Polkappen in Form von Eis gebunden. Der Meeresspiegel war um über 100 Meter tiefer als heute. Südostasien, diese Inselwelt, war ein zusammenhängender Subkontinent. Er hieß Sunda. Große Teile Indonesiens, der Philippinen, waren mit dem südostasiatischen Festland verbunden. Gegenüber von Sunda gab es eine schmale Wasserstraße, die vielleicht 50 oder 70 Kilometer breit war. Sahul ist die Landmasse mit Australien, Tasmanien, Neuguinea und den umgebenden Inseln. In Sahul ist der moderne Mensch schon vor 50 000 Jahren gewesen; etwa zur selben Zeit kam er auch nach Europa. Der europäische Beitrag zur Humanevolution ist der Neandertaler. Der war zwischen der Iberischen Halbinsel und dem Nahen Osten verbreitet. Während der Existenz des Neandertalers in Europa ist parallel dazu in Afrika aus früheren Formen von Homo erectus und Homo ergaster der Homo sapiens entstanden. An diesen Übergängen selbst ist die Quellenlage jedoch schlecht. Wir haben auch in Afrika wenig Belege für die früheste Phase des Homo sapiens, besser belegt ist er in der Spätphase. Wie ist der Neandertaler aus dem Homo heidelbergensis entstanden? Wir kennen diesen Übergang ebenfalls nicht. Wir haben viele Belege des Homo heidelbergensis in seiner Spätphase, nicht in seiner Frühphase. Entsprechendes gilt für den Neandertaler. Ein wichtiger Befund für den Homo sapiens ist die Blombos-Höhle in Südafrika, um 80 000 und 70 000 vor Christus, bereits mit früher Kunst. Alle anderen Belege für kulturelle Modernität, von denen es mehr in Europa und in Asien gibt als in Afrika, datieren jünger. Der Schritt nach Amerika ist erst vergleichsweise spät.

KLUGE Vor 150 Millionen Jahren gibt es Pangäa, den großen Zentralkontinent, wo alle Kontinente sich versammeln; das Wasser ist auf Panthalassa verteilt. Pangäa beginnt sich auseinander zu dividieren. Da gibt es nichts, was hominidisch ist. Wenn Sie sagen „plötzlich“ als Archäologe, dann heißt das in mehreren Tausend Jahren.

PARZINGER Wenn es um die frühe Menschheitsgeschichte geht, sind es sogar Zehntausende von Jahren. Der Ausdruck „plötzlich“ ist ein von mir rhetorisch eingesetztes Mittel; auch der Begriff der neolithischen Revolution, den Gordon Childe in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts geprägt hat, ist falsch und richtig zugleich. Es sind Entwicklungen, die über sehr lange Zeiträume verlaufen und sich langsam summieren. Die Sesshaftwerdung und die Domestikation sind nicht in einem Moment oder innerhalb von wenigen Jahren erfunden worden. Es war ein langer Prozess des Entwickelns über Tausende von Jahren. Hier von einem Sprung zu reden, ist nur ein rhetorisches Mittel, um sich klarzumachen, was das für das menschliche Leben an fundamentalen Veränderungen bedeutet hat, und diese waren dann durchaus revolutionär.

KLUGE Es gibt manchmal Ackerbauern, die nomadische Vorfahren hatten, und plötzlich sind sie wieder Viehzüchter und werden zum Nomaden. Es geht manchmal rückwärts.

PARZINGER Ein Nomade muss vorher Viehzüchter oder Ackerbauer gewesen sein. Mit herumziehenden Menschen, die jagen, sammeln und fischen, sind Wildbeuter gemeint. Der Nomade hat das Stadium des Wildbeuters schon verlassen. Man spricht umgangssprachlich vom nomadisierenden Leben und meint damit den Wildbeuter. Aber der Nomade ist jemand, der auf dem Niveau der Viehzucht ist. Es gibt also Landwirte, die Ackerbau und Viehzucht betreiben, und dann zum Nomaden werden. Sie lassen den Ackerbau weg und spezialisieren sich auf die Viehzucht wie die Steppennomaden. In der westägyptischen Wüste, in der Ostsahara, im Grenzgebiet nach Libyen, Tschad und Sudan, sind über viele Jahre Fundstellen erforscht worden, wo im neunten und achten Jahrtausend bereits erste Keramiken hergestellt wurden. Das waren Wildbeuter, die zu Wanderhirten wurden. Sie züchteten erste Rinder. Das Hausrind war also eine lokale Domestikation in den nordafrikanischen Sahara-Gebieten und wurde nicht etwa dort eingeführt. Es ist unabhängig davon auch im Nahen Osten domestiziert worden. Schafe und Ziegen, die in der östlichen Sahara später auftauchen, sind dort aus dem Nahen Osten eingeführt worden. Die Sahara war damals nicht wie heute eine Wüste, sondern ein Gebiet, in dem eine reiche Tierwelt existierte. Wir wissen durch Felsbilder und Knochenfunde, dass dort Giraffen und Elefanten lebten, Tiere, die nicht domestizierbar sind.

KLUGE Warum kann man Elefanten nicht domestizieren?

PARZINGER Sie lassen sich halten und zähmen, auch als Nutztiere einsetzen, aber nicht domestizieren. Nur die Domestikation führt zu biologischen Veränderungen der Wildform, nicht die Zähmung. Bei einem gezähmten Elefanten war der Arbeitseinsatz wichtiger, als ihn zu Fleisch zu verarbeiten. Es gibt Siedlungen in Kasachstan aus dem vierten und dritten Jahrtausend vor Christus, Botai zum Beispiel, wo man den Beginn der Pferdedomestikation in der Steppe beobachten kann. Dort hat man etwa 75 Hütten ausgegraben und Hunderttausende von Pferdeknochen gefunden. Aufgrund der Schnittspuren ist klar, dass das Pferd am Anfang ein wichtiger Fleischlieferant war. Es gibt aber Hinweise, dass sich dort der Übergang zur Domestikation des Pferdes vollzog. Man hat zunächst Wildpferde gejagt und verspeist. Dann beginnt schrittweise die Domestikation. Das Pferd wird danach überwiegend nur mehr als Reit- und Zugtier genutzt. Aber dennoch wird zum Beispiel in Kasachstan bis heute Sucuk gegessen, die kasachische Pferdewurst. Der Mensch musste stets herausfinden, welche Wildtiere in seinem natürlichen Umfeld Domestikationspotenzial hatten. Deshalb ist in Australien nie Ackerbau und Viehzucht entstanden vor der europäischen Einwanderung, weil es weder Wildpflanzen noch Wildtiere gab, die sich hätten domestizieren lassen.

KLUGE Die Hunde nähern sich den Nahrungsresten des Menschen. Sie kommen freiwillig, passen sich an und werden Jagdgefährten.

PARZINGER Der Hund ist das erste Haustier des Menschen, diente aber von Beginn an nicht zur Ernährung. Es mag Kulturen gegeben haben, wo man sie auch verspeist hat. In China werden sie heute noch gegessen. Sie haben in erster Linie eine Funktion als Jagdhelfer, Wachhund und Begleiter. Man kann davon ausgehen, dass der Hund sich über die Reste ernährt hat, die bei der Jagd anfielen. Später wurde er so lebensunfähig, dass er vom Menschen ernährt werden musste. Das ist auch bei anderen Haustieren so, bei Rindern und Schafen. Die werden im Zuge der Domestikation erst kleiner, schwächer und überlebensunfähiger gegenüber ihren wilden Vorfahren. Es ist eine gewisse Degeneration, aufgrund derer sie sich auch leichter halten lassen. Dann setzt durch die Zucht ein anderer Prozess ein. Sie werden fülliger, erbringen mehr Fleisch und dienen nur noch der Fleisch- oder Milchversorgung.

KLUGE Die Evolution des menschlichen Gehirns ist nicht nur eine physiologische Frage. Der frühe Homo sapiens hat das gleiche Gehirn, das wir haben. Die Synapsen werden dasselbe gemacht haben. Aber er hat noch kein soziales Gehirn, er kann nicht den anderen Menschen in seinem Kopf abbilden. Die Intelligenzen, die in seinem Körper stecken oder in der Gruppe, treten später hinzu, sodass er eine Gesellschaftsbildung in sich trägt.

PARZINGER Es sind alle Anlagen da, um komplexe Gesellschaften entstehen zu lassen. Es braucht seine Zeit, weil dort Erfahrungswissen gesammelt werden muss. Welcher Regelungsbedarf ergibt sich im Laufe der Entwicklung innerhalb von Siedelgemeinschaften? Das entwickelt sich über die folgenden Jahrtausende. In der Eiszeitkunst des frühen Homo sapiens spürt man eine enorme Beobachtungsgabe der Natur und der Umwelt, die in Bilder umgesetzt wird. Die lebensnahe Felsbildkunst mit ihren großartigen Tierbildern kennzeichnet Höhlen vor allem in Südwestfrankreich, Nordspanien und vereinzelt noch Oberitalien. Am Niederrhein kommen Schieferplatten vor, auf denen Kritzeleien zu sehen sind. Sie haben eine ähnliche Qualität wie die Malerei in diesen Höhlen, sind allerdings graviert. Dabei werden auch Menschen dargestellt. Diese Bilder wirken fast wie Karikaturen: Köpfe im Profil mit Bart, dicken Nasen und anderen individuellen Merkmalen. Diese Beobachtungsgabe ist bemerkenswert, die Abstraktionsleistung, etwas in ein konkretes Bild umzusetzen, was den Menschen nicht schematisch wiedergibt. Strichmännchen oder Ähnliches wurden noch Jahrtausende später gemacht. Doch hier werden echte individuelle, fast portraithafte Züge erkennbar.

KLUGE Sie sind wie ein Evolutionsforscher, ein Archäologe und wie ein Geschichtsschreiber tätig. Es gibt Entwicklungen, die nicht reversibel sind. Wenn man raffiniert wurde, die Listen des Odysseus beherrscht und betrügerisch ist, kann man nicht wieder naiv werden, weil die anderen mir misstrauen.

PARZINGER Die Stadt übernimmt bestimmte neue Funktionen, muss aber auch ernährt werden. Es ist typisch, dass sich um Städte oder stadtartige Zentren ländliche Siedlungen entwickeln, die in eine Arbeitsteilung eintreten. Wann kommt es zu einer Hierarchisierung der Siedlungslandschaft, wo einzelne Siedlungstypen unterschiedliche Funktionen übernehmen? Die Kleinen ernähren den Großen, aber bekommen vom Großen wiederum besondere Produkte, die er mit anderen Großen durch Fernhandel organisiert. Es ist kein Rückschritt, wenn man vom Wildbeuter zum Viehzüchter wird, vielleicht auch zum vollwertigen Landwirt mit Ackerbau. Dann spezialisiert sich das weiter, dem jeweiligen Lebensraum und dessen Möglichkeiten angepasst. Man wird wieder Nomade, konzentriert sich auf die Viehzucht. Das ist kein Rückschritt, denn sonst würde man zugrunde legen, dass nur diejenige Entwicklung, die in Richtung unseres heutigen Lebens führt, ein idealer Prozess ist. Wenn der Mensch Nomade wird, passt er sich seinem Lebensumfeld an, in Steppengebieten etwa, ob in Afrika, Asien oder auch in Nordamerika. Wir haben Gebiete in Zentralasien, wo im Dualismus die Stärke liegt. Dort gibt es einerseits die Oasenwirtschaft, wo sich städtisches Leben entwickelt, wo um die Zeitenwende auch Schrift, sogar Münzprägung und Ackerbau mit künstlicher Bewässerung zu beobachten sind; dort dehnen die Menschen ihre Anbaugebiete aus, die Bevölkerung wächst. Andererseits leben in deren Umfeld Nomadengruppen, die sie mit Fleisch und Milchprodukten versorgen. Der eine hat das, was der andere nicht hat. Das ist eine Arbeitsteilung in großen Teilen Zentralasiens, die über Jahrtausende existiert.

KLUGE Je komplexer eine Gesellschaft ist, desto schärfere Anforderungen sind vorhanden. Wenn der IS mit Konzepten aus dem siebten Jahrhundert, aber mit modernen Waffen angreift, dann ist er entlastet. Seine Emotion ist rabiater herstellbar, als wenn er sich auf die komplexe heutige Wirklichkeit einstellt.

PARZINGER Das ist extrem archaisch. So kann man sich Eroberungszüge der Araber bei der Ausbreitung des Islams vorstellen. Eroberungen waren auch im Altertum blutig. Aber wenn man aus der Geschichte etwas lernen kann, dann anhand der Beispiele des Römischen und des Osmanischen Reichs. Wenn ein Reich dauerhaft erfolgreich sein soll, muss es eine andere Grundlage haben, die über Gewalt hinausgeht. Die Römer waren nicht zimperlich beim Erobern von neuen Gebieten. Aber wenn eine Eroberung abgeschlossen war, versuchten sie, die bestehenden Strukturen (ob in Gallien, auf der Iberischen Halbinsel oder im Nahen Osten) des eroberten Gebietes in die eigene Herrschaft zu integrieren. Das Ziel war, die Menschen zu romanisieren, sie dauerhaft zu Bürgern des Römischen Reiches zu machen. Mit den Germanen hat das nicht funktioniert. Die waren noch nicht so weit und hatten keine vorstaatlichen Gebilde, welche die Kelten, die Gallier, die Iberer, die Daker, die Thraker und auch die Illyrier schon ausgebildet hatten. Wenn man dort ein Stammeszentrum in Besitz nahm, besaß man zugleich auch das gesamte Stammesgebiet. Bei den Germanen war das anders. Dort hätten die Römer Dorf für Dorf erobern müssen. Es wäre ein endloser Guerillakrieg geworden. Aber für welchen Preis? Oder nehmen Sie die Schlacht auf dem Amselfeld von 1389, wo das serbische Heer aufgerieben wurde. Das ist heute noch ein Trauma für die Serben. Aber das Osmanische Reich hat trotz aller Einflussnahme auch tolerant gehandelt und den unterworfenen Gebieten eine religiöse und auch kulturelle Eigenständigkeit zugestanden.

KLUGE In der Modernität können drei Grundelemente immer neu beobachtet werden. Das eine ist die Anpassungsfähigkeit, das zweite ist die Innovation. Das wäre das Gegenteil von Anpassung.

PARZINGER Die sind miteinander verknüpft. Die Anpassung an einen Lebensraum führt wieder zur Innovation.

KLUGE Das dritte wäre eine Reserve, die aus dem direkten Leben, der Jagd und dem Raub erübrigt wird, die eine Freiheit und Abstraktion ermöglicht. Ich kann mir den Kopf des anderen vorstellen. Schon Darwin sagt, dass der Homo sapiens in Afrika entstanden ist. Warum haben die anderen Kontinente den Homo sapiens nicht hervorgebracht?

PARZINGER Es gibt die frühesten Vorläufer des Menschen, die in der großen Gruppe des Australopithecus zusammengefasst werden, in der Zeit von vor vier bis etwa zweieinhalb Millionen Jahren nur in Afrika. Daraus entstanden – wiederum nur in Afrika – der Homo erectus und der Homo ergaster. Diese waren die ersten, die dann auch Asien und Europa erreichten. Die Ausbreitung von Afrika auf andere Kontinente wurde möglich, weil durch den Übergang vom Aasfresser zum Jäger die Ernährung besser wurde, daduch auch Körperbau und Muskulatur kräftiger. Nur so konnten sich die frühen Hominiden auf weite Wege machen, quasi so weit die Füße trugen.

KLUGE Die Menschen werden größer.

PARZINGER Der Mensch wird in die Lage versetzt, größere Entfernungen zurückzulegen. Wir haben die ältesten Belege für den Homo sapiens in Afrika. Dann macht er sich auf den Weg auf andere Kontinente, vor allem nach Europa und Asien. Der Homo sapiens kommt aber auch sehr früh schon bis Sahul, den Australien umgebenden Großkontinent. Es ist nicht auszuschließen, dass künftige Funde diese Ausbreitung noch komplexer rekonstruieren lassen. So hat man zum Beispiel vor einigen Jahren in der Denisova-Höhle im Altaigebirge eine neue frühe Menschenform festgestellt, den Denisova-Menschen. Er ist älter als der Homo sapiens und war offenbar verwandt mit dem Neandertaler. Bis zur Entdeckung des Denisova-Menschen dachte man, der Neandertaler wäre eine rein europäische Erscheinung. Liegt der Ursprung des Neandertalers also in Zentralasien? Wer weiß.

KLUGE Links und rechts vom Niltal ist Wüste, auch in der Vorzeit. Dazwischen befinden sich dieser Riesenfluss und das Schwemmland.

PARZINGER Das Niltal war nicht immer nur von Wüste umgeben. In der Ostsahara (das ist die Wüste im Grenzgebiet von Ägypten, Libyen und dem Sudan) sind schon im achten und neunten Jahrtausend vor Christus aus Wildbeutern Rinderzüchter und Hirtennomaden entstanden. Im Fayyum etwa herrschten paradiesische Zustände für Fischer, Jäger, Sammler. Es gab dort gar keine Notwendigkeit, zum Ackerbau überzugehen. Durch Einfluss aus dem Nahen Osten kamen dann Schaf und Ziege als weitere Haustiere hinzu. Auch der Ackerbau hat sich im Vergleich zum Nahen Osten etwas verspätet im Niltal etabliert und sich dort dann entlang des Nils von Norden nach Süden ausgebreitet. Im Süden gab es Landwirtschaft erst im späten fünften und vierten Jahrtausend. Dann kommt es im Laufe des vierten Jahrtausends zu einer entscheidenden Entwicklung. In der Sahara setzt schon seit dem fünften Jahrtausend eine zunehmende Aridisierung dieser Gebiete ein. Als diese Austrocknung beginnt, gibt es noch Gunsträume, wo der Mensch dennoch überleben konnte. Aber mit der zunehmenden Ausbreitung wüstenartiger Landschaften wandert der Mensch ab. Als Folge zieht er zum Beispiel in die Sahelzone, die noch keine Wüste, sondern steppenartig war. Zudem muss es eine massive Abwanderung aus der Sahara in das Niltal gegeben haben, wo die Bevölkerung plötzlich stark zunahm. Das war die Zeit der Naqada-Kultur, der 0. Dynastie, die dann in das pharaonische Reich übergeht. Man könnte es auch so sagen: Die Austrocknung der Sahara war eine entscheidende Voraussetzung für das Entstehen der ägyptischen Hochkultur.

KLUGE Der Tschadsee ist viel größer in dieser Zeit.

PARZINGER Im Tschadbecken gibt es bald nach dem Ende der Eiszeit Siedlungsstellen bei Gobero. Dort haben Wildbeuter Lagerplätze hinterlassen, bereits Keramik hergestellt, vielleicht auch Viehzucht betrieben. Auf jeden Fall haben sie gefischt. Dann verschwinden diese Plätze wieder, es gibt nur wenige Siedlungsspuren im vierten und dritten Jahrtausend. Im zweiten Jahrtausend beginnt die Gajiganna-Kultur vor allem im südwestlichen Uferbereich des Tschadbeckens. Dort gibt es Siedlungshügel, also Tellsiedlungen, wie im Nahen Osten. Die können nur entstehen, wenn der Mensch nicht nur sesshaft wird, sondern über Ortsbindung verfügt. Ein Tell ist ein Siedlungshügel, ein Ort, an dem der Mensch über lange Zeiträume gesiedelt hat, über Jahrhunderte und Jahrtausende. Eine Siedlung brennt nieder oder wird eingeebnet, weil die Häuser baufällig werden. Dann errichtet man unmittelbar darüber die nächste Siedlung. So wächst die Siedlung nach oben auf dem Müll der Vergangenheit. Auch in diesen Gebieten kommt es zu einer Zuwanderung aus der Sahara. Am Anfang ist die Viehzucht, es waren mobile Rinderhirten. Am Ende des zweiten und im ersten Jahrtausend kommt allmählich Ackerbau hinzu, jedoch noch in einer experimentellen Ausprägung. In diesem Teil Afrikas gibt es auch keine Bronzezeit. Die Steinzeit geht um dreihundert vor Christus direkt in die Eisenzeit über. Dann geht es schnell, wir finden in den Jahrhunderten danach nicht nur eine vollentwickelte Landwirtschaft mit Ackerbau und Viehzucht, sondern auch stadtartige Siedlungen, allerdings ohne Schrift.

KLUGE Der Mensch wächst, weil er Jäger wird. Er inhaliert das Fleisch von anderen Lebewesen.

PARZINGER Die Ernährung spielt bei der Humanevolution eine entscheidende Rolle. Man hat festgestellt, dass die frühen Ackerbauern nicht unbedingt eine bessere Ernährung hatten als die Wildbeuter. Wildbeuter leben in Gruppen von begrenzter Größe. Sie wachsen nicht beliebig weiter an. Das ist bei sesshaften Menschen anders, weil Ernährung planbar wird. Aber die Sesshaftigkeit und die Landwirtschaft bringen auch Nachteile. Man wird anfällig für Missernten. Wenn eine Ernte schiefgeht, wird die Siedelgemeinschaft von Hungersnöten in Mitleidenschaft gezogen. Durch das enge Zusammenleben von Mensch und Tier unter einem Dach springen Krankheitserreger auf den Menschen über und werden durch Mutationen lebensgefährlich für ihn. Studien der Skelettfunde ergeben zudem, dass die Ernährung von sesshaften Bauern deutlich einseitiger war und die Lebenserwartung nicht wesentlich höher als bei Wildbeutern. Die Körpergröße ist zum Teil sogar leicht zurückgegangen. Nicht jeder menschliche Fortschritt hat also nur Vorteile, es gibt immer auch Nachteile, die der Mensch entsprechend aufzufangen versucht. Auch heute gibt es solche Diskussion, wenn wir etwa von Paläodiät hören, also von Ernährung wie in der Steinzeit: viel Fleisch, dazu Nüsse und andere Waldfrüchte. Gewiss ist das sehr nahrhaft, doch durch Massentierhaltung ist Fleisch heute natürlich viel ungesünder als damals das Fleisch von erlegten Wildtieren.

KLUGE Es gibt zwei Wege aus Afrika, einen über die Sinai-Halbinsel und den Nahen Osten und einen über Eritrea und die Arabische Halbinsel. Wie muss ich mir die Arabische Halbinsel zu dem Zeitpunkt vorstellen? Sind dort Wüsten oder Wälder?

PARZINGER Wälder bestanden dort sicher nicht. Der altweltliche Trockengürtel zieht sich von der Sahara über die Arabische Halbinsel bis zur Wüste Gobi. Dort herrschten grundsätzlich ähnliche Klimaverhältnisse. Der Meeresspiegel im Bereich des Roten Meeres war etwas tiefer als heute. Es war nicht unüberwindbar.

KLUGE Bei den Wildbeutern gibt es große Abstände zwischen den Geburten.

PARZINGER Die prähistorische Generationenrechnung hängt an den statistischen Durchschnittswerten der Lebenserwartung. Die Lebenserwartung war bei Wildbeutern nicht höher als bei Sesshaften, aber die Geburtenrate war bei Sesshaften deutlich höher. Durch die Sesshaftigkeit werden mehr Kinder geboren als bei Wildbeutern. Dadurch und durch die Planbarkeit der Ernährung nimmt die Bevölkerung zu.

KLUGE Männer und Frauen wurden unterschiedlich beerdigt. In Hockstellung werden die Männer mit Blick nach Westen und die Frauen mit Blick nach Osten bestattet.

PARZINGER Wenn der Mensch die Verstorbenen mit Beigaben ausstattet für ein Leben nach dem Tod, gibt er ihnen etwas mit, vielleicht weil er an ein Leben nach dem Tod glaubt oder aus Respekt vor dem Eigentum der Verstorbenen. Ab dem Zeitpunkt, an dem der Mensch sich Mühe gibt und unterschiedliche Bettungsformen praktiziert (Rückenstrecker oder Hockerlage), kommt es zu einer Differenzierung der Bestattungssitten. Dahinter steht eine Ordnung. Nach was aber richtet diese sich? Häufig zeigt sich eine geschlechtsspezifisch unterschiedliche Bettung und Ausstattung der Verstorbenen. Ab welchem Alter werden Kinder aber überhaupt bestattet und ähnlich wie die Erwachsenen behandelt, also geschlechtsspezifisch? Wir stellen in prähistorischen Perioden fest, dass auf den Gräberfeldern kaum Kindergräber vorkommen. Zwar sind Kinderknochen leichter vergänglich, aber man müsste ihre Grabstätten dennoch finden. Möglicherweise wurden Kinder gar nicht beerdigt, vielleicht hat man erst ab einem gewissen Alter das Anrecht auf ein Bestattungsritual durch die Gemeinschaft. Die nächste Stufe ist die Differenzierung nach dem sozialen Stand. Es geht nicht nur um reich und arm, Führungsschicht und Untergebener, sondern auch um die Funktion im arbeitsteiligen Prozess. Wir haben Kulturen in Südosteuropa, aber auch in Eurasien im fünften und vierten Jahrtausend vor Christus, wo die Metallurgie eine große Rolle spielt. Dort gibt es Handwerkergräber, denen hat man ihr Werkzeug zur Metallverarbeitung beigegeben. Sie werden im Grab als das dargestellt, was sie im Leben waren.

KLUGE Etwas Metaphysisches spielt hier eine Rolle. Was man als Erzählung an der Feuerstelle hat, führt zu Festen, zu Ritualen. Sie mögen auch Drogen genommen, Bier getrunken haben.

PARZINGER Es gibt die Überlegung, dass der Mensch nur zum Ackerbau gekommen ist, weil er den hohen Bierkonsum regeln musste. Das kann man aber nicht wirklich belegen. Ritualfeste haben schon vor der Sesshaftwerdung eine zentrale Rolle gespielt. Vor den Wandmalereien in den eiszeitlichen Höhlen müssen Rituale stattgefunden haben. Wir haben im ausgehenden Paläolithikum und im Mesolithikum Beispiele von möglicherweise rituellem Kannibalismus. Man hat Menschenknochen mit Schnittspuren in Siedlungsstellen gefunden. Menschen sind dort also zerteilt worden. Ob sie auch verspeist wurden, wissen wir aber nicht. Es gibt einen regelrechten Schädelkult, abgeschnittene Köpfe, die in Gruben deponiert werden. Der Göbekli Tepe, diese gigantische Kultanlage in Südostanatolien, diente nur dem Ritual. Eine riesige Bevölkerung aus einem großen Einzugsgebiet kommt dort zusammen, um Rituale durchzuführen. Vor allem auch im Nahen Osten bedeutet das die gemeinsame Nahrungsaufnahme. Da spielten gewiss auch Drogen eine Rolle, aber das ist schwer nachzuweisen.

KLUGE Rivalen werden sich beim Bier oder beim Wein vereinigen. Wenn das der Fall ist, brauchen die Hirne, um ein Gemeinwesen zu bilden und kooperativ zu werden, diese Rituale.

PARZINGER Man hat nicht nur Alkohol getrunken, es war eine riesige gemeinsame Nahrungsaufnahme für eine große Bevölkerung. Ackerbau und Viehzucht waren notwendig, um solche Feste durchführen zu können.

KLUGE Prometheus betrügt die Götter um die besten Teile des Opfers. An der Basis der Gemeinschaftsbildung steckt Grausamkeit. Wenn man diese Rituale verletzt, dann entsteht ein Schock.

PARZINGER Die einzelnen Bereiche Kunst, Gesellschaft und Religion sind in der Frühzeit eng verwoben. Das sind verschiedene Stränge, die zu einem Zopf geflochten werden. Auf den verschiedenen Kontinenten entwickeln sich die Dinge zu unterschiedlichen Zeiten. Die Entwicklung ist dabei überall vom Naturraum geprägt. In dieser Entwicklung gibt es aber nie eine absolute Zwangsläufigkeit. Der Mensch ist zwar stark naturbestimmt, klimadeterminiert. Aber das erklärt nicht alles.

KLUGE „Wieviel Blut und Grausen ist auf dem Grunde aller ‚guten Dinge‘“, heißt es bei Friedrich Nietzsche.

PARZINGER Für Rom und das Osmanische Reich bedeutet diese Aussage die grausame Eroberung eines Gebietes. Aber danach kann bisweilen eine überraschend große Toleranz gegenüber den Gepflogenheiten der Eroberten einsetzen, solange sie sich fügen.

KLUGE Wenn der Feind auf Abstand gebracht ist, kann ich Clementia üben. Wenn die sephardischen Juden beim Sultan Aufnahme und Toleranz finden, spricht das für das Osmanische Reich. Anschließend sind sie seine besten Artilleristen.

PARZINGER Bei den Römern ist es genauso. Es ist klüger, auf diese Art und Weise Sicherheit und dauerhaften Frieden zu erzeugen als mit dem Schwert. Einheimische konnten römische Bürger werden. Man musste nur 25 Jahre im römischen Heer gedient haben, dann bekam man das römische Bürgerrecht und konnte von enormen Vorzügen profitieren.

KLUGE Das ist so wie bei der EU, die in ihren besten Momenten Gesetzgebung und Straßenbau hervorbringt. Zum Glück hat sie keine Legionen.

PARZINGER Das ist die große Anziehungskraft, die man bis in die Ukraine spürt. Aber die Dinge werden sich nicht schlagartig ändern. Es ist ein langer Weg. Aber das Ziel ist klar.

KLUGE Die Schlacht vom Teutoburger Wald wäre unnötig gewesen, wenn die Germanen diese Sehnsucht gehabt hätten, welche die Westukrainer haben.

PARZINGER Mag sein. Aus römischer Sicht jedenfalls ist die Schlacht im Teutoburger Wald kaum nachvollziehbar. Was wollten die Römer dort? War es nur der Drang des Eroberns? Was hätte Germanien geboten? Archäologie ist für mich ein Teil der Geschichte. Es handelt sich um eine Geschichte, die mit anderen, mit materiellen Quellen geschrieben wird. Sie dient dazu, den Menschen der frühesten Vergangenheit zu verstehen. Doch wir können nicht alle Fragen beantworten.

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Alexander Kluge, 1932 in Halberstadt geboren, lebt als Schriftsteller und Filmemacher in München. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Film- und Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter dem GeorgBüchner-Preis, dem Kleist-Preis, dem Goldenen Löwen der Filmfestspiele Venedig und dem Adolf-Grimme-Preis. Zuletzt erschien Das Buch der Kommentare. Unruhiger Garten der Seele (Suhrkamp, 2022).

Quelle: VOLLTEXT 1/2023 – 14. März 2023

Online seit: 18. April 2023