Geschichten zu „Verjugendlichung“ (Neotenie)

Texte & Materialien aus Alexander Kluges sieben Körben

Online seit: 14. Februar 2022

Eine Bemerkung von Ernst Jünger /
JUGENDSUCHT

Ernst Jünger bemerkt in seinen Tagebüchern, daß der Wortbestandteil „Ju“ in Jugend, Juchhe, Jubel, Julian, Jul-Fest oder in der Bezeichnung des Flugzeugs Ju 52 ein Jauchzen oder einen Jubellaut der Ursprache wiedergebe. Die neue Gesellschaft nach 1923, sagt Jünger, habe einen Jugendkult hervorgebracht, eine unverhältnismäßig hohe Hoffnung auf die nachwachsende Generation gesetzt, sozusagen einen Vorschuß auf die Unsterblichkeit, einen Glauben, der die Zeit des Jahrhunderts durchziehe.

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Der Charakter steckt in den Wurzeln

Die Wurzeln meiner Pflanzen zerbrechen Steinplatten, sagte Hella Kolb. Die Forscherin schrieb: Gesicht und Intelligenz meiner jungen Maispflanzen liegen in den Wurzeln. Die Blüte oberhalb der Erde täuscht. Besonders schöne Blüten können dumm sein. Niemals aber täusche ich mich über die Wurzeln. Das Wetter im Frühjahr bleibt kühl. Dann ist der Aufwuchs meiner Pflanzen auf Äckern spärlich. Entsprechend gering transportieren die Wurzeln die Nährstoffmengen heran.

Halte ich sie in meinem Treibhaus auf 12° kühl, erwärme den grünen Sproß aber auf 24°, so steigern sie binnen 23 Minuten ihre Nährstofflieferung. Sie erreichen das für 24° Bodentemperatur passende Niveau binnen sieben Minuten, und sie lassen sich nicht täuschen dadurch, daß ich die Bodentemperatur auf 12 °C abkühle. Trotz kalten Bodens fahren die Maispflanzen zügig in die Höhe, nur weil blauer Himmel und laue Nacht Signale setzen, die nur die Wurzeln verstehen. Ich halte Oberteile der Pflanzen für relativ dumm, der Charakter steckt in den Wurzeln.

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Verlust der Jugend

Besonders aufnahmebereit für Wasser und Nährstoff sind die zarten Wurzelspitzen der Ackerschmalwand, einer Pflanze, die zu den bevorzugten Forschungsobjekten der Genetiker zählt. Die äußere Zellschicht verschleißt jedoch rasch und wird durch eine robustere Rindenschicht ersetzt. Diese Wurzelrinde lagert wasserabweisenden Korkstoff ein. Julia Lindenmayer von der Universität Bayreuth konnte aber nachweisen, daß selbst fingerdicke, stark verholzte Fichtenwurzeln noch immer Wasser aufnehmen.

– Was besagt das?

– Daß die Wurzeln immer noch Wasser aufnehmen. Nur etwa 12 % des Bedarfs.

– Sobald die Wurzeln mehr als 2 mm dick sind?

– Bieten sie ein mageres Ergebnis.

– Mager, aber beständig?

– Immer geringere Ausbeute, aber nie null.

Die Genetiker haben bei der Ackerschmalwand ein Gen isoliert. Unter Wirkung von Nitrat kann dieses Gen die Wurzeln zu verstärktem Längenwachstum anregen. Wenn das Gen durch Verfahren der Gentechnik verstärkt wird, verbleibt eine lokal erhöhte Nitratkonzentration ohne jede Wirkung auf die nährstoffsuchenden Wurzeln. Sie suchen keinen Nährstoff mehr. Wie blind. Sie haben ihre Jugend durch gentechnischen Eingriff verloren.

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Im Stau der Zeit

Auf der Burg Lauenstein versammelte sich zu Pfingsten 1917 und erneut im Oktober ein Geisterparlament von jungen Leuten und junggeglühten Alten: auf Einladung des Verlegers Eugen Diederichs und in Fortsetzung der emphatischen Versammlung der Jugend auf dem Hohen Meißner 1913. Jetzt aber, mitten im Krieg, ging es darum, Entschlüsse zu fassen über die Zukunft des Reiches und Europas. Unter den Teilnehmern