Der Poet mit den kreisenden Sonnen im Kopf

Texte und Materialien aus Alexander Kluges sieben Körben

Online seit: 13. Februar 2022

Der Poet mit den kreisenden Sonnen im Kopf

In einer Datschensiedlung nahe Moskau, die den Nachfolgeorganisationen des KGB zur Verfügung standen, wurde ein Genosse im Amt respektiert, der schon längst pensionsberechtigt gewesen war. Zuständig war er für Einsätze im Jemen und in Nordsyrien. Er lenkte die Transaktionen in der orientalischen Ferne wie ein Gott. Man nannte ihn DEN POETEN. In den Stunden nach dem Mittagessen, die allgemein von den Kadern zur Siesta genutzt wurden, sah man diesen Mann jahrzehntelang unaufhörlich an Manuskripten schreiben.

Als junger Mann im Amt war er um knapp ein halbes Jahr dem Schicksal entkommen, wertvolle Genossen durch Genickschuss töten zu müssen. Das war nach den blutigen Schauprozessen von 1937 der Befehl gewesen. Mit einer gewissen Kunst hatte er seine Karriere so navigiert, dass die Börse seiner Schuld für den Tag des Jüngsten Gerichts ein leichtes Gewicht hatte. „Leichtes Gewicht“ war umgangssprachlich ausgedrückt: Schuld kann vor Gott und dem Gesetz nicht nach Gewicht gemessen werden.

In das ERBGUT dieses Experten war während der experimentierfreudigen Phase der Russischen Revolution, also in früher Jugend, ein geometrisch feiner, molekularer Teil von einem Virus implantiert worden. Als Heranwachsender zeigte der so ausgestattete Genosse, den die Kollegen POET nannten, Charakteristika einer besonderen Einbildungskraft. Das eingepflanzte Stückwerk an RNA-Molekülen hatte das Feld materiell verändert, in dem