30. April 1945

Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann. Von Alexander Kluge

Online seit: 13. Februar 2022

Ich habe diesen Tag in einer Stadt nördlich des Harzgebirges erlebt. Mit 13 Jahren. Unsere Stadt ist seit dem 11. April von den Amerikanern besetzt. Vom Rest der Welt weiß ich zu diesem Zeitpunkt aus unmittelbarer Erfahrung nichts (was ich höre, was ich lese, wäre mittelbar). Niemand hat einen Überblick über das Ganze, sagt der Architekt Uri Bircher in Zürich. Er liest in der NZZ.

Im Seelensack eines jeden dortigen Menschen liegen Stücke unterschiedlicher Realitäten durcheinander.

Es gibt ja dieses Ganze auch gar nicht, entgegnet ihm ein Arzt. Sie sitzen in einem Café. Der Zusammenbruch einer Großorganisation wie Deutschland schafft Trümmerstücke. Und das sind nicht nur, fügt der Architekt hinzu, die Gebäude, Bahnen und Straßen, die zerstört sind, sondern im Seelensack eines jeden dortigen Menschen liegen Stücke unterschiedlicher Realitäten durcheinander. Ich stelle mir vor, sagt der Arzt, daß in den Enklaven, in denen die Organisation der Vorjahre existiert, also in Oslo, auf Rhodos, in Breslau, in den Festungen an der Atlantikküste oder in Prag, noch Flaggenhissungen stattfinden.

Man kann sich eigentlich als Leser des Jahres 2014, sagt der Pädagoge Böhmler aus Bielefeld, in das, was man von den Zeitgenossen des 30. April 1945 weiß (oder zu wissen glaubt), schwer hineinversetzen. In den Kellern des umkämpften Berlin ist alles, was die Sinne ausfüllt, so rabiat anders als das, was im bereits neuen Wirklichkeitszustand, unter der Herrschaft der Alliierten im Westen, stattfindet.

Trägheit: Im Kopf eines Menschen noch die Schlager von 1939. Das Auge sieht das brutale Grau von Explosionen. Die Seele zieht sich zurück: Erwin Brinkmeier sah eine Gruppe von Rotarmisten am Werke, die Frauen vor sich her in einen Keller trieben. Obwohl er im Garten eine Panzerfaust vergraben hatte, rührten er und sein Gefährte, der Blockwart Fred Schüller, sich nicht aus ihrem Versteck.

„Galoppierende Morgenröte“

Die Morgenröte übersprang die Reichshauptstadt, die unter einer tiefliegenden Wolkendecke lag, darunter grauer Gefechtsstaub und Brände. In den Trümmern und Straßen fand das Licht wenig Halt. Weit ausgreifend