Erste Szene
Liebe Frau B., gibt es in Bad Gastein eine gute Buchhandlung?
Lieber Herr K., wenn es eine Buchhandlung hier gäbe, wäre ich schon zufrieden. Ob er ihr nur noch Bücher empfehle, wenn sie in der Nähe einer Buchhandlung lebe?
Liebe Frau B., ja, also er meine nein.
Lieber Herr K., gut, also sie meine schlecht.
– Er wollte sagen: Es ginge um Illustrationen.
– Sie müsse sagen: Rätsel raten sei besser, als gar nichts zu tun zu haben.
– Er wolle nicht in Rätseln sprechen, er müsse.
– Sie rate ja auch, obwohl sie nicht einmal wolle.
– Es gehe um die Erzählung von Günter Grass mit dem Titel Das Treffen in Telgte. Dieses Buch erschien 1979 erstmals und sei ab diesem Juni mit Illustrationen in einer neuen Ausgabe im Handel. Um die neu hinzugefügten Illustrationen in diesem Buch gehe es.
– Und über diese Illustrationen könnten sie sich nur in einer Buchhandlung austauschen?
– Nein, also ja. Er meine, es wäre gut, wenn sie das Buch mit den Illustrationen vor Augen habe. Dann fiele ihm das Sprechen über Illustrationen und Buch leichter. Und dieses Buch markiere nicht weniger als eine Zäsur in der Nachkriegsliteratur.
– Also gut, sie gehe in die ortsansässige Papier-, Spiel- und Buchhandlung, melde sich dann.
Zweite Szene
– Null, nichts. Bad Gasteins Buchhändler wüssten von keiner Neuedition von Grassens Treffen in Telgte. Das habe sie mitzuteilen und stelle den Stand ihrer literarischen Ausforschung des hiesigen Orts dar.
– Gut, also schlecht: er meine, sie könne dann wieder nach Hause gehen.
– Sie lasse sich nicht in eine Buchhandlung jagen und dann wieder zurücktreiben, wenn die Buchhandlung nicht seinen gewünschten Vorstellungen entspräche. Lieber pfeffere sie zehn der elf vorrätigen Bücher an die Wand. Ein kardiologischer Check dieser Bücher erübrige sich dann. Diese Bücher seien kein Fall zur Reanimation mehr.
– Dann sage er lieber ohne weitere Verzögerung, was er sagen wolle. Der Steidl Verlag reanimiere aus guten Gründen Das Treffen in Telgte. Mit diesem Buch beginne das Ende der Nachkriegsliteratur.
– Jetzt werde es ernst.
– Genau. Das habe er auch, wie gesagt, bei der Wiederlektüre von Treffen in Telgte erst mit voller Konsequenz gesehen: Mit diesem Buch setze das Ende der Nachkriegsliteratur ein. 1979 müsse von jetzt ab als das Jahr dieses beginnenden Endes angesehen werden. Die Lektüre der Neuedition biete etwas, das frühere Lektüren des Buchs ihm nicht geboten haben.
– Das sei doch einmal eine These. Ob er noch den einen oder anderen Gedanken als zusätzliche Stütze seiner Überlegungen formulieren könne?
– In dem Buch gehe es um die Gruppe 47. Günter Grass wird sich selber, genauer, ihm wird die literarische Vereinigung, der er literarisch viel verdankt, zum Gegenstand seines Schreibens. Er vermag auf Distanz zu sich zu gehen und vermag die Unmittelbarkeit des Erleben zu verlassen.
– Okay. Und das bedeute? Sie müsse nachfragen.
– Grass intoniere noch einmal Kernsätze seines Verständnisses der Literatur nach dem Krieg. Sie habe eine politische Verantwortung; sie müsse sich mit der historischen Schuld der Deutschen auseinandersetzen und habe eine gesellschaftliche Verantwortung zu tragen usw.
– Diese Kernsätze habe sie auch eingebläut bekommen – sie hätten ihre Freude am Lesen von Autoren wie Günter Grass nicht gesteigert. Trübe Erinnerungen an Lektüren aus Pflicht keimten auf. Warum sie dauernd angehalten werden soll, ihre politische Verantwortung zu trainieren, sobald sie einen Roman zur Hand nehme, verstehe sie nicht. Werde sie als ein derart gefährdetes, rundherum aufklärungsbedürftiges Wesen angesehen? Sie sehe sich nicht auf diese Weise gefährdet, und dürfe es in der Literatur lustvoller und lebensfreundlicher zugehen?
– Lebensfreundlich – das sei ein gutes Thema. Freundlich wollte in der Günter-Grass-Generation niemand sein. Freundlichkeit galt literarisch als Anpassung an das Falsche. Außerdem war die Anzahl der Feinde in den 1950er- und 60er-Jahren groß. Alte Nazis erfreuten sich eines guten Lebens.
– Ja gut, ihm ginge es aber um das Historischwerden der Nachkriegsliteratur. Und die Zäsur, die Das Treffen in Telgte markiere. Man begann über die eigenen Leistungen als Nachkriegsautoren nachzudenken und diese Leistungen herauszustreichen.
– Sicher ein interessantes Thema, Lustgewinn beim Lesen verspreche sie sich davon aber keinen. Obwohl – die Geschichte einer Selbstvergewisserung könnte vielleicht doch von Interesse sein.
– Es gehe um beides, das eine hänge mit dem anderen zusammen.
– So argumentierten Feiglinge.
– Nein, also er meine ja. Sie irritiere ihn heute! Er wolle sagen: Wenn er in literaturhistorischen Zusammenhängen denke und etwas literaturhistorisch Wertvolles herausstreiche, dann begründe er damit auch den Lesegewinn des Buches in literarischer Hinsicht, also den literarischen Lesegewinn des Buchs. Jeder Satz feiere das Wunder, das die Gruppe 47 für die Autoren nach dem Krieg dargestellt habe. Er sage „feiere“.
– Aber Geschichte bliebe Geschichte, und sie müsse gestehen, nicht einmal Medizingeschichte interessiere sie. Es gäbe Ärzte, die stellten alte Kolben und Spritzen in ihren Wartezimmern aus, zu diesen Ärzten gehöre sie nicht. Sie möchte wissen, wie heute über Krankheiten gedacht wird, und in einem Buch suche sie ebenfalls die Begegnung mit etwas Heutigem, Lebendigem.
– Genau das biete Das Treffen in Telgte. Die barocken Figuren seien voller Leben. Es treten ausnahmslos in ihrer Barockhaftigkeit als ernst zu nehmende Figuren auf. Dieser Neuausgabe sei deshalb zu Recht ein Anhang mit den Texten dieser Barockdichter hinzugefügt worden. Zudem reagierten sie auf das einsetzende Ableben der Nachkriegsliteratur, aber nicht in Form einer literaturhistorischen Lehrstunde, sondern als einen erlebbaren Vorgang.
– Gut. Sie glaube ihm, obwohl ihr nicht verborgen bliebe, dass er auf Grass und auf seine These nichts kommen lassen wolle.
– Er lege ihr den ultimativen Beweis vor. In der Erzählung trete der Komponist Heinrich Schütz auf. Dieser Komponist kümmere sich nicht um das grassierende Selbstverständnis der Gruppe am Ende des Dreißigjährigen Kriegs. Ausgebildet in Venedig, wünscht sich dieser Heinrich Schütz „heiter, klagend, streitbare sogar widersinnig und der Tollheit verschriebene“ Verse. „Wenn sie nur Atem trügen“, dann würden diese Verse seinen Ansprüchen an Literatur genügen. Er steht auf der Seite der Literatur und darf damit als der fest in der Erzählung eingebrachte Widerspruch zu allem gut Gemeinten angesehen werden, auch wenn sich dieses gut Gemeinte aus den besten aufklärerischen Überlegungen ergäbe.
– Aber etwas Belehrung müsse schon sein.
– Nein, und er möchte nicht schon wieder ein „ja“ ergänzen. Dieser Heinrich Schütz sagt nicht nur, was er sagen möchte, er stellt sich auf die Seite der jungen Autoren, also von Schriftstellern, die vom Nachkriegsliteraturspezifischen (Schuld/ Frieden/ historische Verantwortung) weniger bedrängt werden. Erstens bleibt diese Position im Buch wiederum nicht unwidersprochen, und zweitens ist dieses Eintreten für die junge Literatur etwas Charakteristisches für die Nachkriegsliteratur: Sie hat ihre Überwindung gefördert.
– Jetzt müsse sie in Günter Grass noch einen hochherzigen Menschen sehen, der mit Freude an seiner Abschaffung und Überwindung arbeitet. Das sei ihr zu viel des Guten.
– Nein nein, Grass trete an dieser Stelle nur für sich selber ein. Er sei für das Unreine, emotional aufgeheizte, und sei damit ein Nachkriegsautor, der mit der Nachkriegsliteratur nie vollkommen einverstanden war. Seine Erzählung hat er wahrscheinlich deswegen auch überhöht als ein Märchen von einem guten Dichtertreffen voller Streit angelegt. Er erzählt etwas, das von dieser Welt war und gleichzeitig nicht zu dieser Welt gehörte. Und nicht vergessen darf man, dass er Spaß an der Barockliteratur gefunden hatte und einen Erzählkontext suchte, diesen Spaß ausleben zu können. Hier tobt er sich mit einer seiner Vorlieben aus.
– Jetzt brächte er sie in eine Situation, die sie nicht möge. Auf das, was er sage, nur noch mit „ja“ antworten zu können. Sie fühle sich dadurch unangenehm in die Enge gedrängt. Ob er denn gar nichts an dem Buch auszusetzen habe?
– Die Wirtin Libuschka, die den Dichtern Unterkunft gewähre und in deren Wirtsstube die Lesungen stattfänden, sei ihm zu überfraulich und mutterhaft.
– Jetzt nehme das Buch langsam menschliche Züge an. Und, habe ihm etwas besonders gefallen?
– Ja die Schilderungen der jungen Dichter. Die betrieben mit Elan ihr Dichtergeschäft und fänden schnell Resonanz bei den jungen Mägden. Wenn sie das nicht weitererzähle, beides habe sich ihm eingeprägt.
– Das nehme sie von allem, was er bisher gesagt habe, am meisten für das Buch ein. Sie werde es gleich bei dem Buchhändler bestellen. Das Walser-Thema drohe ja noch, oder könnten sie es dieses Mal nicht aussparen? Als Ärztin müsse sie noch fragen, wie es dem Vater gehe?
– Er huste den ganzen Tag. Dabei falle das Husten als einzelnes Husten gar nicht auf. Schlimm sei, sein Vater müsse ununterbrochen husten, dieses Ununterbrochene mache auf den Husten aufmerksam.
– Gäbe es schon eine Diagnose?
– Eine Diagnose und einen Operationstermin. Ein tennisballgroßer Tumor sei jetzt an der Lunge festgestellt worden. Dieses Geschwür werde entfernt. Vom Darm sei nicht mehr die Rede, ursprünglich saß dort ein Tumor in lebhafter Gesellschaft von Metastasen. Habe sich dieses Geschehen ausgelöst und verflüchtigt? Sein Vater schaue ihn, wenn von den Ärzten die Rede sei, nur noch an, als machten diese Ärzte den gefährlichsten Teil seiner Erkrankung aus.
– Sie wünsche gute Besserung.
– Das sagten die Ärzte auch. Sie sagten seinem Vater, wenn sie mit ihm über Größe und Gefährlichkeitsgrad des gerade zur Diskussion stehenden Tumors sprachen, auch, er solle es sich gut gehen lassen. Wie kann es sich jemand aber gut gehen lassen, dem gesagt worden ist, dass es ihm nicht gut gehe. Sein Vater und er verstünden das nicht.
– Der Tod sei ein Teil des Lebens – aber sie wolle dieses Thema jetzt nicht weiter ausführen: Walser drohe ja noch und gleich schließe der Laden.
– In Band IV der neuen Werkausgabe Martin Walsers ist der Roman Seelenarbeit, ebenfalls 1979 erschienen, abgedruckt. Dieser Roman verdiene ebenfalls Aufmerksamkeit. Grass’ Blick gehe nach außen, Walsers nach innen. Er erzähle in der Seelenarbeit von der Erlebniswelt eines Mannes, der sein erwachsenes Leben im Nachkriegsdeutschland verbracht habe. Dieses Nachkriegsleben werde in dem Roman ebenfalls historisch.
– Das verstehe sie nicht. Sie habe in der Walser Werkausgabe, die sie sich auf seine Empfehlung hin angeschafft habe, herumgeblättert. Auf jeder Seite habe da irgendjemand mit einem tobenden Inneren zu tun.
– Diesen Test habe er noch nicht gemacht. Der Chauffeur in der Seelenarbeit sei aber von anderem Kaliber. Er leide an der Abhängigkeit, in der er sich als Chauffeur zu seinem Chef auf dem Rücksitz befinde, und präpariere seine Seele, die Zwänge seiner Nachkriegsbiografie zu überwinden und hinter sich zu lassen. Nur so sei ein Auskommen mit diesen Verhältnissen, in denen er lebe, für ihn noch vorstellbar.
– Sie wolle nicht wieder fragen, was ihm an dem Roman missfallen und was ihm gefallen habe – oder solle sie diese beiden Fragen doch stellen?
– Nein, ihm sei gerade wieder prinzipiell zumute. 1979 beginne mit Telgte und der Seelenarbeit das Nachspiel der Nachkriegsliteratur. Das habe er bereits gesagt. Und er füge dem noch etwas hinzu. 1979 sei auch der letzte große Roman von Heinrich Böll Fürsorgliche Belagerung erschienen. In dem Roman habe Böll auch auf die Nachkriegszeit zurückgeblickt und sich gefragt, wie mit der Geschichte in den letzten Jahrzehnten umgegangen wurde. Und 1979 sei eine Ikone der Nachkriegsliteratur gestorben: Arno Schmidt.
– Ob jetzt schon für die Literaturgeschichte gestorben werde? Sie bewundere das zielstrebige Verhalten von Autoren, die anscheinend gut abgestimmt auf literaturgeschichtlich richtige Zeitpunkte das Datum ihres Ablebens wählen. Hut ab vor diesem Arno Schmidt und sein Sterbe-Timing. In ihrer Station stürben Menschen weniger absichtsvoll und planmäßig.
– Er wolle Arno Schmidts Tod im Jahr 1979 mehr als Indiz für die Wichtigkeit dieses Jahres verstanden wissen. Obwohl: Einem Dichter wie ihm könne man vielleicht mehr zutrauen. Er spürte, er würde mit seiner Literatur aus der Zeit fallen, nahm noch einen tiefen Zug aus der Flasche mit Weinbrand und sein Herz sagte sich von seiner Arbeit los und ließ den armen Dichter im Stich.
– Dem werde sie nicht widersprechen, jetzt aber die Buchhandlung verlassen und erst einmal spazieren gehen, bevor sie in ihre Wohnung zurückkehre.
– Bevor sie ihren Schriftverkehr einstellten, dürfe er sie noch bitten, seinen Vater wieder zu grüßen. Das letzte Mal habe ihn der Gruß einer ihm fremden Frau tatsächlich gefreut.
– Ja, sie solle bitte ihren Vater grüßen und sich selber auch vollkommen zäsurfrei gegrüßt fühlen.
– Ein Gruß stelle doch auch eine Zäsur dar, weil sie jetzt gleich E-Mails auszutauschen aufhörten. Er wolle nicht wieder mit ja-also-nein anfangen.
– Wenn er gerne im Grüßen etwas Zäsurhaftes erleben möchte, dann grüße sie ihn aus den Unüberwindbarkeiten der kurz bevorstehenden Trennung heraus. Okay?
– Okay.