VOLLTEXT 4/2020

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VOLLTEXT 4/2020


Die Inhalte: 

Faulheit, Frechheit, Größenwahn
Thomas Lang über Michel Houellebecqs Interventionen

Den Katholizismus findet Houellebecq allerdings „ziemlich angeschlagen.“ Für sich selbst schließt er eine Konversion aus: „Gott will mich nicht … Er hat mich zurückgewiesen.“


Emmanuel Carrère und das Problem des Guten
Von Michel Houellebecq

Die Menschen wissen gelinde gesagt nicht mehr, wie man lebt. Das Chaos ist absolut, die Desorientierung flächendeckend.

Diejenigen, die man liebt, sind nicht immer die, die es verdienen; mit dieser so traurigen Wahrheit kann sich Somerset Maugham einfach nicht abfinden.

Dass Limonow talentiert war, lässt sich kaum bestreiten, aber dass er außerdem in gewisser Hinsicht ein richtiger Mistkerl war, ist ebenso offensichtlich.


Chancengleichheit als leeres Versprechen
Uwe Schütte über Deniz Ohdes Streulicht

Unverhofft ist die Klassenfrage zum aktuellen Verkaufstrend avanciert.

Demonstriert wird in Deutschland für Black Lives Matter und gegen Corona-Maßnahmen, die zwanzig Prozent Kinderarmut im Land treiben dagegen niemanden auf die Straße.


Ein Leben an der Seite von Thomas Bernhard
Von Peter Fabjan

Ich habe mir sein Verhalten oft mit seinem frühkindlichen Schicksal erklärt, wo Verlassenheitsängste und Wirrnisse um die Mutter dominiert haben müssen.

„Meine Krankheit ist die Distanz“, schrieb Thomas in einem Brief an mich.


Begegnungen in der Autofiktion III
Für Paul Nizon – one year of love. Von Jan Wilm

Ich hatte den Reiz, die Verlockung von etwas verspürt, was ich das „unerlaubte Lesen“ nannte – ein Lesen wie Schuleschwänzen, nein, viel besser, ein Lesen wie Abhauen, wie Untertauchen.

Ich hasse eure ritualisierte Reserviertheit, eure kritische Kaltschnäuzigkeit, eure akademische Abgebrühtheit, eure habitualisierte Gefühlsrohheit.


An einem See
Von Norbert Gstrein

Seit diesem Herbst versuchen sie zudem eine Sexkultur zu haben, und obwohl mir das nicht regelrecht Angst bereitet, weiß ich nicht, was davon zu halten ist, wenn so etwas ausgerechnet von den Deutschen kommen soll.

Bis dahin graben wir uns alle durch Stapel und Stapel von Büchern, die irgendwie okay sind, immer auf der Suchen nach dem einen, das auf eine Weise von der Schönheit und der Kürze des Lebens erzählt, wie es davor noch keines getan hat.


Die Erfindung des Nationalismus
Stefan Neuhaus über Gustav Freytag

Im Gegensatz zu dem immensen Einfluss, den der Nationalismus auf die Welt ausübt, steht es um seine theoretische Bewältigung auffallend schlecht.

Soll und Haben galt Zeitgenossen als programmatisches Meisterwerk, doch wie sich leicht feststellen lässt, ist der Roman antisemitisch, xenophob und klischeehaft.

Thomas Manns Buddenbrooks lassen sich später auch als eine Satire auf den einfältigen Kaufmannsroman Freytag’scher Prägung lesen.


Der Henker und sein Dichter
Felix Philipp Ingold über Ralf Rothmann und Isaak Babel

Was bei Rothmann völlig ausgeblendet bleibt, ist Babels eigene Nähe zum stalinistischen Gewaltregime.

Isaak Babel: „Ich war erschöpft und schleppte mich unterm Totenkranz dahin, vom Schicksal die einfachste aller Gaben erflehend – die Fähigkeit, einen Menschen zu töten.“

Babel diente bei Verhören und Exekutionen der Tscheka als Dolmetscher und stand später mit hohen Funktionären der Geheimdienste in persönlichem Kontakt.

Mehr als 5000 Titel unliebsamer Autoren kamen auf den Index, Millionen von Einzelexemplaren wurden physisch vernichtet – es war der größte Bibliozid aller Zeiten.

Fast macht es den Eindruck, als wäre hier ein hochintelligenter Sadist am Werk, der sein Leiden und seine Lust literarisch abzugelten versucht.


Unsortierte Wirklichkeit
Alexander Kluge im Gespräch mit dem Kriminologen Joachim Kersten

Je mehr Menschen da sind, umso mehr wird Verantwortung delegiert und auf Institutionen abgewiesen.

Das ist einer der Gründe, warum die Todesstrafe später heimlich vollstreckt wurde – es gibt die plötzliche Erregung einer Menge.

Da geht es um die Pietät, dass an den Reifen nicht ein Stück eines Toten durch die Stadt gefahren wird.


Ein Gedicht aus dem Weltraum
Aus dem Tagebuch des Clemens J. Setz

Und gibt es überhaupt so etwas wie einen vollkommen slapsticklosen Selbstmord?

Meine Unfähigkeit, zu erzählen – den ganzen Tag warte ich den „rechten Augenblick“ ab, wo es vielleicht „aus mir sprudeln“ wird, so wie früher.


Neulich
Andreas Maier schleicht durchs düstere Frankfurt

Die wenigen Leute laufen scheu und in Endzeitstimmung an einem vorbei, irgendwie rattenhaft, Verschlagenheit scheint sich breitzumachen.


Hinter dem Mond
Der Siegertext des FM4-Kurzgeschichtenwettbewerbs „Wortlaut“

Emma nickt und ich denke, dass es im Ultraschall wirklich so ausgesehen hat, als würde das alles irgendwo im Weltraum passieren.

Fruchtwasserpunktion tippen wir ein, Risiko Fehlgeburt denkt die Suchmaschine unsere Sorgen zu Ende.

Er zieht die Spritze heraus und wischt sie mit einem Papierhandtuch ab, wie den Ölmessstab eines Autos.


Mirmar
Josefine Soppas Gewinnertext beim open mike 2020

Es ist wie immer, wenn man in etwas eintritt: Man vergisst, wie man draußen war.


Die Zerbrechlichkeit in uns allen
Lektürenotizen von Nora Bossong


Schleyers Fotojournal


Die Bewohner von Château Talbot
Von Arno Geiger


Präauer streamt „Bauer sucht Frau“ 
Von Teresa Präauer

Gibt es das doch, das richtige Leben in der falschen Doku-Soap?


Lyrik-Logbuch
Eintragungen zu Gedichten von Du Fu, Marie T. Martin, Serhij Zhadan und Yevgeniy Breyger. Von Michael Braun und Paul-Henri Campbell.


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