Der Mensch, ein Gespenst seiner selbst

Mit zwei schmalen Büchern hat Saskia Hennig von Lange ein ungewöhnliches Schreibprojekt begonnen, das sich der Erforschung innerer Echoräume widmet. Von Christoph Schröder

Online seit: 23. Juni 2015

Am Schreibtisch in einer Wohnung in Frankfurt-Bockenheim sind in den vergangenen Jahren, und zwar, wenn man der Autorin glauben darf, kontinuierlich während einer täglichen Stunde Schreibzeit am Morgen, zwischen Kinderversorgung und Universitätsbetrieb, zwei schmale, konzentrierte, sprachlich und gedanklich hoch verdichtete Bücher entstanden. Eine Erzählung und ein Roman, die sich, ohne diese Tatsache in irgendeiner Form qualitativ bewerten zu wollen, deutlich abheben von sehr vielem, was sonst von jungen deutschsprachigen Autoren der Gegenwart produziert und publiziert wird. Es sind im besten Sinne des Wortes konservative Bücher, aus zwei Gründen: Erstens, und das betrifft im weitesten Sinne das, was man den philosophischen Unterbau bezeichnen kann, beschäftigen sie sich grundsätzlich damit, was vom Menschen bleibt, wenn er selbst nicht mehr ist.

Zweitens, und das zielt auf die inhaltliche Ebene, stellen diese beiden Bücher immer wieder aufs Neue Welthaltigkeit her, aber nicht dadurch, dass ihre Protagonisten nach draußen gehen, an exotische Schauplätze, nach New York, Mumbai oder Süd-Lappland, sondern auf eine weitaus schwierigere, sehr fordernde und auch technisch anspruchsvollere Art: Die Welten, die diese Autorin herstellt, entstehen auf filigrane Weise in den Köpfen, in den Hirnen, in den Organen ihrer Figuren. Die Oberflächenphänomene sind nicht Selbstzweck oder Dekoration – sie werden vielmehr zu Spiegeln eines hoch reflektierten Bewusstseins.

Bohrende Fragen

Saskia Hennig von Lange heißt die Schriftstellerin, geboren wurde sie 1976; sie hat in Gießen Angewandte Theaterwissenschaften und Kunstgeschichte studiert und arbeitet zur Zeit an ihrer Dissertation zum Verhältnis von Bild, Rahmen und Körper in der spätmittelalterlichen Kunst. Man muss keine waghalsigen Querverbindungen schlagen, um auf den Gedanken zu kommen, dass dieses Forschungsprojekt auch in die Gedankenströme von Saskia Hennig von Langes Büchern eingeflossen ist. Ihr Debüt, die Erzählung Alles, was draußen ist, ist ein leises Buch der bohrenden Fragen. „Das hier scheint ihr letzter Winter zu sein“, hat der Arzt gesagt, und: „Sie werden fürchterliche, unvorstellbare Schmerzen haben.“ Der Ich-Erzähler weiß, dass er bald sterben wird, doch schon lange zuvor hat er sich zurückgezogen, ausgerechnet in ein Anatomie-Museum, ein Gespenst seiner selbst.
Er geht durch die Säle, betrachtet die Exponate, eine Kopie von Robespierres Totenmaske, Schädel, Abgüsse weiblicher Geschlechtsorgane. Und Wachsabdrücke des eigenen Körpers, die der Mann anfertigt, Tag für Tag. Alles, was draußen ist ist eine faszinierende Prosa, die die Zusammenhänge von Denken und Handeln untersucht und sich der Frage widmet, wie all das, was in unserem Kopf ist, dort hineinkommt. Und wer oder was dafür sorgt, dass es dort entweder bleibt oder auch verschwindet, je nachdem. Für ihr Debüt hat Saskia Hennig von Lange in diesem Jahr den Rauriser Literaturpreis erhalten; für ihr zweites Buch Zurück vom Feuer, offiziell ihr erster Roman, wobei die Gattungsgrenzen zwischen Roman und Novelle hier fließend sind, wurde sie mit dem Hallertauer Roman-Debütpreis ausgezeichnet. Man kann diese beiden Werke, die zusammen etwas mehr als 300 Seiten umfassen, durchaus als Arbeiten an einem einzigen Schreibprojekt begreifen; an einem Forschungsprojekt, das sich dem isolierten Individuum der Jetztzeit und seinen unendlichen Entfremdungsgefühlen und inneren Echoräumen widmet.

Zurück zum Feuer hat drei Hauptfiguren. Zwei davon heißen Max. Der eine ist der Boxer Max Schmeling, der im Schlafzimmer seines Hauses in Ollenstedt in der Nordheide liegt, versorgt von einer Schwester, und auf den Tod wartet. Wer einen Roman über das Boxen erwartet, ist bei Saskia Hennig von Lange falsch. Ihr Roman interessiert sich nicht für die Sportart und auch nur punktuell, immer dann, wenn der Erinnerungsscheinwerfer des alten Mannes sich dreht, für die bewegte Biografie Schmelings. Von Bedeutung ist zweierlei: das Haus als Schauplatz und der Mythos, dessen Strahlkraft das triste Dasein des Mannes, der da hilflos im Bett liegt, überstrahlt. Wieder also die Frage: Was bleibt von uns? Zunächst ein Haus. Ein Foto davon, so wird die Autorin zitiert, sei der Ausgangspunkt des Romans gewesen. Nach Schmelings Tod stand es für Jahre leer. Hier kommt die zweite Hauptfigur ins Spiel, der zweite Max: Gutachter in Diensten einer nicht näher bestimmten Behörde. Er soll den Wert des leerstehenden Gebäudes taxieren und verliert zunächst sein Mobiltelefon und schließlich auch sich selbst darin. Max, der Gutachter, hat vor einiger Zeit seinen Sohn Raphael bei einem Unfall verloren. Seitdem geht bei ihm alles den Bach hinunter, den Job lässt er schleifen, seine Ehe vernachlässigt er ebenfalls.

Drei Verzweifelte

Während Max durch Schmelings Haus streift, die Zeit vergisst und sich ein fremdes Leben anverwandelt, entrümpelt Inge, seine Frau, die gemeinsame Existenz derart gründlich, dass am Ende nichts mehr davon übrigbleiben kann. Die drei Erzählebenen hat Saskia Hennig von Lange kunstvoll überlagert, sie lösen einander bruchlos und absatzlos ab und sind oft nur dadurch zu unterscheiden, dass der Gutachter-Max aus der Ich-Perspektive, Inge und Schmeling aber in der dritten Person geschildert werden. Der Tonfall bleibt ganz bewusst der gleiche; es ist die kreisende und bohrende Sprache dreier Verzweifelter, Menschen, die trauern.
Man wünscht sich, dass Saskia Hennig von Lange dieses Schreibprojekt fortsetzt: Zurück zum Schreibtisch, eine Stunde lang, jeden Morgen.

Christoph Schröder, Jahrgang 1973, lebt als freier Journalist und Publizist in Frankfurt/Main. Er arbeitet u.a. für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit und den Deutschlandfunk.

Dieser Artikel erschien zuerst in VOLLTEXT 2/2015.

Saskia Hennig von Lange: Alles, was draußen ist.
Novelle. Jung und Jung, Salzburg/Wien 2013. 116 Seiten,
€ 16,90 (D) / € 16,90 (A).

Saskia Hennig von Lange: Zurück zum Feuer.
Roman. Jung und Jung, Salzburg/Wien 2014. 214 Seiten,
€ 19,90 (D) / € 19,90 (A).