Der Kritiker K. (57) ruft den Redakteur O. (47) an. Vor sechs Wochen hatte er von O.s Sender den Auftrag erhalten, den neuen Roman von Per Olov Enquist zu besprechen, allerdings musste er sich mit O. noch über den Termin verständigen, zu dem diese Besprechung ins Programm aufgenommen werden würde. Ob er diese Besprechung schreiben konnte, war also noch nicht geklärt. K. wählt O.s Telefonnummer und sagt sich noch einmal laut den Titel des Romans vor: Das Buch der Gleichnisse. In Gesprächen fällt ihm gelegentlich nicht der richtige Titel ein.
O Ach er schon wieder!
K Er habe doch schon lange nicht mehr angerufen.
O Keine Sorge, er könne ruhig anrufen, das Grundgesetz würde Telefonieren niemandem verbieten, auch ihm nicht. Außerdem sei sein Anruf willkommen.
K Er sei gespannt, weswegen sein Anruf willkommen sei. Ob ein anderer Kritiker den Auftrag zum Besprechen des neuen Romans von Enquist erhalten habe?
O Nein, mit Enquist habe das nichts zu tun. „Trauer“ sei sein Stichwort.
Er frage sich aber die ganze Zeit, ob er, K., bei dieser Art von Erzähldurcheinander wirklich in seinem Sessel säße und sich sage: wunderbar dieses Buch, ich verstehe zwar nichts, aber wie schön ist das.
K „Sucht“ seines, er meine das von Enquist.
O Er solle Enquist vergessen. Wer denke denn an Enquist, sie würden später über ihn reden. K. habe doch einen Artikel über den neuen Roman von Terézia Mora geschrieben, Mora interessiere ihn weitaus mehr.
K Er meine über den Roman Das Ungeheuer?
O Genau. In dem Roman ginge es doch um Trauer.
K Ja, unter anderem.
O Unter anderem, das würde ihm genügen.
K Er würde es doch sonst genauer nehmen.
O Er solle doch einmal nicht als Pointenproduzent reagieren – ihm ginge es um etwas Ernstes. Ein sehr guter Freund sei gestorben, ein Autor. Mit 71. Viele seiner Bekannten und Freunde stürben. Schrecklich sei das. Er wolle jetzt ein Buch, das ihm weiterhelfe, lesen. Ob der Roman von Terézia Mora dafür infrage käme?
K Das sei ja ein typisches Intellektuellen-Verhalten. Erst stürbe jemand, dann würde in Büchern nachgesehen werden, welche Empfindungen die angemessen seien.
O Besser in Büchern nach Gefühlen suchen, als gar keine zu entwickeln und sich von Dumpfheiten tragen zu lassen und in ihnen zu versinken.
K Dann sei der Roman von Terézia Mora die angezeigte Lektüre. Ihn, O., und die Hauptfigur des Romans verbänden untergründig miteinander kommunizierende Röhren.
O Das liebe er, Buchempfehlungen als eine höhere Form des Rätselratens.
K Er meine das dumpfe Herumsitzen. Er, O., habe gesagt, er säße dumpf herum. Die Hauptfigur von Moras Roman sitze auch dumpf herum. Das sei doch einmal ein Beginn.
O Seine Fähigkeit, sich am Telefon mitzuteilen, habe offenbar stark gelitten. Er verstünde ihn nicht.
K Er meine die Hauptfigur des Romans mit dem Titel Das Ungeheuer. Sie sitze am Anfang des Romans in ihrer Wohnung und verließe sie nicht. Die Ehefrau dieser am Anfang herumsitzenden Hauptfigur habe sich suizidiert. Dieser Tod überrasche den Protagonisten komplett, und er betrauere diesen Verlust. Seine erste Trauerreaktion sei: Herumsitzen. Inaktivität. Klar genug?
O Nicht-Verstehen sei ein gutes Stichwort. Der Tod seines Freunds lasse ihn ebenfalls ratlos zurück und Lesen helfe, hoffe er. Vielleicht fände er Vokabular, das ihm den Umgang mit diesem Nicht-Verstehen erleichtere. – Aber jetzt zum Erzählungeheuer Enquist. Wolle er dessen Roman allen Ernstes besprechen?
K Sehr gerne sogar.
O Dann fände er Roman und Autor sogar gut? In diesem Fall bestünden wohl umgekehrt geheime Verwandtschaften zwischen K. und Enquist. Das Bild mit den Röhren vermeide er lieber.
K Jetzt veranstalte er eine höhere Form von Versteckspiel.
O Er, O., weigere sich inzwischen, Enquists Bücher zu lesen; immer kämen die Mutter, der Vater und er als Sohn vor, der sich durchs Leben schlängelt. Wesentliches bliebe trotz dieses ewigen Umsichkreisens der gleichen Figuren unausgesprochen. Ein verdrehtes Halberzählen veranstalte der Autor.
K Ein konzentriertes Suchen nach den Gründen, warum sich jemand so verhäle, wie er sich verhält. Das sei der Kern von Enquists Prosa.
O Konzentriert sei eine gute Vokabel. Enquist verbeiße sich mit derartiger Wucht ins Sich-Konzentrieren, dass ihm das, was gesagt werden müsse, damit zu verstehen ist, was er meine, nicht mehr in den Sinn komme.
K Ja, Selbstbefragung, und welche Wege sie einschlage, würden sich dem Verständlichkeitsdiktat eines öffentlich-rechtlichen Rundfunk-Redakteurs nicht in jedem Fall fügen.
O Er solle nicht albern sein. Enquist setze seine Leser dem Terror seiner Assoziationen aus. Aber warum solle er sich diesem Terror aussetzen? Ein Roman strebe ja noch immer eine gewisse Ordnung, also Einsicht in seinen Aufbau an.
K Terror? Da überreagiere er eindeutig.
O Ob K.s Reaktionsvermögen es zulasse, ihm zu sagen, worum es in dem Roman ginge. Auch möglichst eindeutig und kurz.
K Um Liebe.
O Das sei ja endlich einmal ein gut überschaubares Thema. Und so überaus selten.
K Enquists Mutter und sein Vater kämen auch wieder vor. Und die Mutter würde erneut mit dem Fahrrad in die Schule fahren und dort tapfer ihrer Arbeit als Lehrerin nachgehen.
O Was habe er gesagt. Kaum starte Enquist den Laptop – an wen denke er, an seine Mutter. Ob er sich nicht einmal über das Thema Mutter und Schreiben verbreiten wolle?
K Jetzt würde er albern werden. Die Mutter sei bisher nur in Enquists Autobiografie aufgetaucht. Außerdem: die Mutter sei doch eine patente Frau. Was habe er gegen sie?
O Sich mit den Charaktereigenschaften von Enquists Mutter auseinanderzusetzen, weigere er sich. Wenn K. an einem Austausch darüber Interesse habe, solle er sich mit einem Psychologen unterhalten. Er wolle sich ein Restempfinden für Literatur bewahren, auch in diesem Gespräch.
K Da seien sie wieder bei Enquist gelandet. Eine Psychoanalytikerin käme im Roman auch vor, Enquist sei wohl zu ihr gegangen, weil er vom Trinken wegkommen wollte. Und um Literatur ginge es auch.
O Und eine Katze habe in dem Roman auch ein Bleiberecht gefunden, das entnehme er dem Klappentext.
K Eine Katze und eine Frau auf dem astfreien Holzboden einer Küche. Diese Frau sei die erste Geliebte von Enquist gewesen, ob er im Klappentext auch so weit schon gekommen sei.
O Aber sicher, bis zu dieser Stelle habe er es schon geschafft. Er frage sich aber die ganze Zeit, ob er, K., bei dieser Art von Erzähldurcheinander wirklich in seinem Sessel säße und sich sage: wunderbar dieses Buch, ich verstehe zwar nichts, aber wie schön ist das.
K Aber klar. Offenbar teile sich ihm aber mehr als O. mit, viel mehr. Der Ausgangspunkt des Romans müsse doch auch O. zugänglich sein. Enquist habe bei der Beerdigung seiner uralt gewordenen Mutter eine Rede auf diese Frau gehalten. Diese Rede möchte er überarbeiten und die revidierte Fassung nahen Verwandten schenken. Beim Rückblick auf das Leben der Mutter falle ihm auch seine erste Liebe ein. Er sei damals 15, sie 51 Jahre alt gewesen. Sie liebten sich an einem sonnigen Augustnachmittag auf dem Küchenboden. Diese Liebe war die glücklichste in Enquists Leben. Was ist daran nicht zu verstehen?
O Er solle ihn bitte nicht begriffsstutziger hinstellen, als er sei. Um die großen Inhaltsbögen ginge es nicht. Wie Enquist in seinen Romanen mit Details umgehe, da läge das Problem. Ein Beispiel: Ob Enquist in dem neuen Roman klar ausgesprochen habe, dass seine Mutter mit einem Trinker das Leben geteilt habe?
K Dass er, Enquist, gerne getrunken habe, das wird gesagt. Welches Verhältnis Enquists Vater zu Schnapsflaschen unterhalten habe, bliebe wieder in der Schwebe.
O Das habe er doch nicht gefragt! Ganz nach Enquists Manier würde K., wenn nach der Trinkerei des Vaters gefragt werde, aber vom Alkoholkonsum des Sohnes reden. Das sei Flucht ins Erzählchaos. Und diese Art Chaos hätte mit Literatur nichts zu tun.
K Eine Reportage in eigener Sache schriebe Enquist nicht. Eine Reportage wolle er auch nicht schreiben. Die Gründe dafür lägen doch auf der Hand. Mit einem Roman, also Fiktion, komme er weiter. Und weit wolle er kommen, weil er zu wenig von sich und seiner Familie wisse. An diesen Lücken leide er, und sie wolle er füllen.
O Wen wolle er denn mit diesem Argument überzeugen? Nicht nur Enquist müsse Erinnerungs- und Empfindungslücken füllen. Diese Arbeit zwinge doch viele Autoren an den Schreibtisch. Nur Enquist enthalte seinen Lesern viele klare Aussagen vor und er, O., vermute, Enquist ginge es um etwas anderes: Er wolle vor sich und den Lesern glänzen und deswegen unterdrücke er viel.
K Damit habe er Enquists Art zu erzählen gut beschrieben, die Bewertungsakzente müssten nur an anderen Stellen gesetzt werden. Enquist habe es mit einem großen Zensor zu tun: dem Herrenhuter Protestantismus. Für ihn sei es nicht nur nicht leicht, sich an seine erste Liebe in allen Einzelheiten zu erinnern, für ihn sei es darüber hinaus schwer, von Liebe zu sprechen. Liebe und Sünde lägen nahe beieinander, und selbst das Reden über Liebe erfülle schnell den Tatbestand der Sünde. Da setze dann das Lavieren ein. Ein Lavieren aus nachvollziehbaren Gründen und das sei Gegenstand der Prosa.
O Wenn er mit dem, was er gerade gesagt habe, recht hätte, würde er die Enquist-Lektüre wieder aufnehmen. Aber so sei es nicht. Enquist stelle sich nicht seinen Schuldgefühlen, er sonne sich in ihnen und wolle mit ihnen brillieren. Das sei das Problem und führe zu weiteren Problemen. Nur Applausverdächtiges käme vor, Rufgefährendes bliebe ausgespart.
K Und wenn ein Autor mit komplizierten Gefühlen wie diesen zu tun habe, dann solle er seine Manuskripte ohne Umweg über eine Buch gleich zum Altpapier zu befördern?
O Dann solle er von seinem Drang darstellen, verehrt werden zu wollen.
K Über nichts anderes schreibe er. Aber indirekt. Er will ein guter Sohn sein, er will das Ansehen der Mutter bewahren, er will den Vater ehren, er will vor allem ein guter Schriftsteller sein und er will auch seine erste Liebe auf dem astfreien Holzboden in der Küche gedenken. All das wolle er, und das werfe eine Reihe von Schwierigkeiten auf, von denen er dann erzähle.
O Nein, Enquist wolle über alles mögliche reden, aber ihm übermäßig weh tun, dürfe dieses Reden nicht.
K Heute habe O. seinen prinzipiellen Tag. Er solle doch dem von ihm so geliebten Detail eine größere Chance geben.
O Jetzt begänne K. wieder mit seinem schöngeistigen Gesäusel.
K Nicht im mindesten säusele er. Ob O. sich denn nicht vorstellen könne, dass jemand zunächst mit Konfusion antworte, wenn sich herausstelle, dass sein Vater getrunken habe, um bei eigentlich unwichtigen Detail zu bleiben? Und diese Konfusion dann zu ordnen begänne.
O Wenn er von Ordnen spräche, klinge das seit längerem wieder nach einem literarischen Argument.
K Und: er wolle O. nicht provozieren. Aber er könne ihm diesen Roman sogar besonders zur Lektüre empfehlen.
O Da sei er aber gespannt.
K Trauer. Enquist betrauere in seinem Buch nochmals den Tod seiner Mutter und das Verblassen seiner ersten Liebe. Das sei doch etwas für ihn: Ein strukturell die Trauer beschreibendes Buch.
O Strukturelles Trauern würde er ihm empfehlen?
K Strukturelles Trauern insofern, als Enquist nicht von Trauer spreche, aber den Vorgang des Trauerns beschreibe.
O Offen gesagt, trauere er lieber vollkommen strukturfrei und vorgangsneutral. Dumpfheit sei nicht übersichtlich gegliedert und habe keinen Verlauf. Er wisse, wovon er spräche.
K Mit dumpfen und nur schwer zu fassenden Gefühlen habe es auch Enquist immer wieder zu tun.
O Das sei pure Rechthaberei – geschenkt. Ihm würde es genügen, wenn K. eine strukturell nachvollziehbare Rezension schriebe, und er hoffe dann, dass es in seinem Sendegebiet genügend Zuhörer gäbe, die wie K. tickten und vorgangsintensiv und strukturbewußt trauern wollten.
K Die gäbe es.
O Er bezweifle das. Heute würde er sich zu schwach fühlen und könne K. nicht heftiger widersprechen.
K Er werde mit seiner Rezension diese Zuhörer an die Geräte unwiderstehlich locken.
O Irgendwie spreize er sich heute gerne.
K Ohne ein gewisses Maß an Sich-Spreizen gäbe es keine Kritik.
O Er freue sich für ihn an seiner Lust am effektvollen Formulieren. Er lege jetzt aber auf und sage nur eines noch: Wehe wenn er in seiner Kritik solche Abgehobenheiten hineinwöbe, wie die, die er gerade geboten habe. Diese Buchbesprechung schicke er ihm zurück. Ungesendet und mit hellster Freude.
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