Deutscher Preis für Nature Writing geht an Ulrike Draesner und Esther Kinsky

Die Auszeichnung wird zum vierten Mal verliehen und ist mit 10.000 Euro dotiert.

Online seit: 17. August 2020

Ulrike Draesner und Esther Kinsky erhalten in diesem Jahr den Deutschen Preis für Nature Writing. Der Preis zeichnet Autorinnen und Autoren aus, die sich in ihrem literarischen Werk auf ‚Natur‘ beziehen und knüpft an die vor allem in den USA und in Großbritannien ausgeprägte Tradition des Nature Writing an. Dotiert ist die einmal jährlich vergebene Auszeichnung mit 10.000 Euro sowie einem sechswöchigen Schreibaufenthalt in den Räumlichkeiten der Stiftung Nantesbuch.

Die Begründung der Jury:

Ulrike Draesner beschäftigt sich seit Jahren mit der Frage, wie angemessen ‚von der Natur‘ zu schreiben sei. Ihr Text „Radio Silence“ radikalisiert die Ansätze, eine Sprache für Naturwahrnehmung und Naturbegegnung zu finden, die über ‚deskriptiv‘ oder ‚homogenisierend‘ hinausgeht. Sie überschreitet entschieden Genre- bzw. Gattungsgrenzen: Elemente von Essay, Bericht, Theorie, autobiografischem Notat, Gedicht sind ineinander verwoben, der Wechsel von Innen- und Außenwahrnehmung wird meisterlich gehandhabt, und in der Variation der Sprechweisen verbinden sich äußerste sprachliche Präzision und sinnliche Anschaulichkeit. Es gelingt Ulrike Draesner, hohes theoretisches Bewusstsein und genaue naturkundliche und zeitgeschichtliche Kenntnisse mit einer außerordentlichen Nähe zur wahrgenommenen Mitwelt in der avancierten Textgestaltung zu einem hervorragenden Beispiel für zeitgenössisches Nature Writing zu verweben.

Esther Kinsky widmet ihre Aufmerksamkeit in vielen Büchern dem Gelände und weist auf Dynamik und Vielschichtigkeit, auf Beharren und Verändern, auf die Wechselbeziehung von menschlichem Vorstoß und natürlichem Widerstand hin. Sie schafft damit ein Neugelände. In ihrem Text „Tagliamento“, in dem sich Prosa und Lyrik verschränken, schreitet Esther Kinsky sprachlich eine der letzten wilden, unregulierten Flusslandschaften Europas ab. Ihr Text folgt dem Lauf des Flusses, der in den Friulanischen Dolomiten entspringt und in das Adriatische Meer mündet, seinen Evolutionen, den Menschen, ihren Sprachen und ihrer Geschichte. Sie hört dem Wasser zu, liest im Stein und betrachtet das Spiel von Licht, Schatten, Farben. Sie bringt die Dinge selbst zum Sprechen, sie geben etwas preis, das älter als ihre Namen ist. In der scheinbar distanzierten Betrachtung gelingt es ihr, durch die Sinnlichkeit und Genauigkeit der Sprache eine überaus große Nähe und Empathie herzustellen. Wie der Fluss unter dem Schotter mäandert, so fungieren bei Esther Kinsky einzelne Wörter – auch poetisch anverwandelte geologische Fachbegriffe – wie Gelenke, Abzweigungen, Verzweigungen, an denen eine konkrete Wahrnehmung überführt wird in eine andere Bedeutungsebene. Und immer wieder entdeckt man Sprachfährten, die auf die Versehrtheiten und Erschütterungen am Tagliamento hindeuten. Esther Kinskys intensive sprachliche Erkundung und „Befragung“ der Naturwahrnehmung zeigt: Keine Landschaft ist unschuldig.

Die Preisträgerinnen:

Ulrike Draesner, geboren 1962, schreibt Gedichte, Erzählungen, Romane, Essays, Hörspiele, Libretti. Seit 2018 ist sie Professorin am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Draesner erhielt für ihr literarisches Werk zahlreiche Auszeichnungen und Preise, zuletzt den Gertrud-Kolmar-Preis (2019), den Preis der Literatour Nord (2020) sowie den GEDOK Literaturpreis (2020). Sie ist Mitglied des PEN Deutschland und der Akademie der Künste Berlin. Im Herbst 2020 erscheint ihr Roman Schwitters (Penguin).

Esther Kinsky, geboren 1956 in Engelskirchen, arbeitet seit 1986 als literarische Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Englischen. Der Roman Sommerfrische (Matthes & Seitz Berlin, 2009) war ihre erste eigenständige Buchveröffentlichung, es folgten mehrere Romane und Gedichtbände, geopoetische Erzählungen, ein Essay zum Übersetzen und ein Kinderbuch. Zuletzt erschienen Hain. Geländeroman (Suhrkamp, 2018), der Gedichtband kő növény kökény (edition Thanhäuser, 2018) sowie der Gedichtband Schiefern (Suhrkamp, 2020).

***

Seit 2020 wird der Preis gemeinsam durch den Verlag Matthes & Seitz Berlin und die Stiftung Nantesbuch verliehen, die zudem zwei zusätzliche Stipendien für eine Teilnahme an ihrer jährlichen Nature Writing Schreibwerkstatt vergibt. Die Stipendien gehen in diesem Jahr an Tim Holland und Susanne Stephan.

Aufgrund der aktuellen Corona-Lage wird die Preisverleihung nicht wie ursprünglich geplant am 28. August 2020 in Berlin stattfinden, sondern im April nächsten Jahres im Rahmen des Nature Writing Seminars der Stiftung Nantesbuch nachgeholt werden.

***