Szene 1
Der Kritiker K. (55) ruft beim Redakteur U. (65) an, der in einer Sendeanstalt im Norden der Bundesrepublik seit Jahrzehnten Sendungen über Literatur zu verantworten hat. Der Grund des Anrufs: K. möchte die neuen Tagebücher von Fritz J. Raddatz rezensieren.
U Fritz J. Raddatz? Die Tagebücher wolle er besprechen? Guter Vorschlag, aber nicht sein Zuständigkeitsbereich. Biografisches bearbeiteten die Sachredakteure. Also, K., sei bei ihm an der falschen Stelle. Gelesen habe er aber das Buch und es würde ihn beeindrucken.
K Beeindruckend sei das Buch, das stimme, aber er, K., wisse noch nicht genau, was ihn beeindrucke.
U Das solle er sich überlegen, bevor er den Kollegen vom Sachbuch anriefe. Argumente zu haben, sei ein Vorteil.
K Was habe ihn denn an den Tagebüchern beeindruckt? Angefangen zu lesen hätte er, K., schon.
U Der Vergeblichkeitston, der hier von einem erfolgreichen Kritiker und Autor angeschlagen werde.
K Wirklich? Mit griffigen Formulierungen von diesem Format könne er nicht dienen. Ihn beschäftigten nach den ersten zweihundert, dreihundert Seiten andere, vermutlich abseitige Fragen.
U Um handliche Formulierungen ginge es ihm nicht. Genauer gesagt: nicht mehr. Er beschreibe nur seinen Lektüre-Eindruck. Sein Bedarf an Literaturkritik sei gedeckt. Ihm imponiere das Buch und mehr müsse und wolle er nicht wissen.
K Heute sei U. aber in einer merkwürdigen Stimmung. Warum interessierten ihn literaturkritische Überlegungen nicht mehr? Er habe sich doch immer für Klarheit und Nachvollziehbarkeit eingesetzt – und jetzt nicht mehr?
U Warum ihn Literaturkritik nicht mehr interessiere, werde er ihm noch sagen. Aber zuvor würde er gerne wissen wollen, was er, K., von den Tagebüchern halte. Sonst teile K. seine Leseergebnisse ja auch mit, ob sein Gegenüber sie hören wolle oder nicht.
K Friederike Mayröcker zum Beispiel. Sinngemäß sage Herr Raddatz, er habe Friederike Mayröcker in seiner Zeit als Cheflektor zum Rowohlt Verlag geholt und aus ihr das Schreibbiest gemacht, zu dem sie geworden sei.
U Stimme das nicht?
K Doch, doch, aber nach den Band Tod durch Musen habe Friederike Mayröcker schätzungsweise noch weitere dreißig, vierzig Bücher geschrieben. Wie könne Herr Raddatz da behaupten, er habe Friederike Mayröcker zu der uns heute bekannten Schriftstellerin gemacht?
U Jetzt werde er aber kleinlich. Er habe ihr das Debüt ermöglicht und sie damit zur Autorin gemacht.
Herr Raddatz betone doch, er habe „Piwitt, Mayröcker, Jelinek, Fichte, Konrad Bayer, Sinzig“ tatsächlich alle „herbeigeschafft“.
K Auch das stimme nicht. Friederike Mayröcker habe Jahre zuvor in einem österreichischen Verlag ihr erstes Buch gehabt. Und außerdem habe Herr Raddatz sie im Rowohlt Verlag nicht halten können oder sich selber nicht halten können. Das käme auf dasselbe heraus und bedeute, Herr Raddatz überschätze seine Leistungen.
U Das klinge nach Rechthaberei, ein bisschen sogar nach Rache. Warum sich Fritz Raddatz für die Entwicklungen im Verlag, in dem Friederike Mayröcker damals erschien, verantwortlich fühlen solle, leuchte ihm nicht ein.
K Zur Arbeit eines Lektors oder Redakteurs gehöre das Herstellen von guten Arbeitsbedingungen für Autoren. Darin hätte Herr Raddatz keine glückliche Hand bewiesen, und
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