„Sie sind ein Sprachfaschist!“

Thomas Hummitzsch im Gespräch mit Alban Nikolai Herbst über Leben und Werk – anlässlich des Erscheinens seiner gesammelten Erzählungen.

Online seit: 28. Juli 2020
Alban Nikolai Herbst © Thomas Hummitzsch
Alban Nikolai Herbst: „Wenn man als 15-jähriges Mädchen, als alter Mann oder als Banker in den Chat geht, schult das ungemein.“ Foto: Thomas Hummitzsch

THOMAS HUMMITZSCH Sie mussten 1983 nur wenige Minuten nach Rainald Goetz’ sagenumwobenem Auftritt in Klagenfurt lesen. Als wäre Goetz’ Aktion nicht schon aufsehenerregend genug gewesen, haben Sie damals noch vor Ihrer Lektüre die Jury angegriffen. Sie warfen den Juroren vor, nicht auf Goetz’ extreme Lesung reagiert zu haben. Waren Sie schon immer so unbequem?

ALBAN NIKOLAI HERBST Ja, war ich. Das zieht sich durch meine ganze Geschichte. Als ich 1979 aufzutreten anfing, war ich ein Außenseiter, gehörte nirgendwo dazu. Ich passte nicht in den beginnenden Pop und lebte in meiner ganz eigenen Welt. Quasi auf dem Schoß von Karlheinz Stockhausen groß geworden, saß ich für meine Generation im Abseits. Dazu kam, dass ich weder Marxist war, aber auch kein Konservativer und erst recht nicht rechts. „Rechts“ war schon aufgrund meiner familiären Herkunft ausgeschlossen. Dennoch hing mir „der Ribbentrop“ jahrelang nach und geistert heute noch durch die Kritiken. Tatsächlich war ich politisch von Erich Mühsam geprägt, und von Landauer. Die Vorstellung, dass es einen Kader gibt, der Korpsgeist verlangt, ist mir nach wie vor ein Graus. Auch jede sogenannte Parteiräson ist mir zuwider. Dass ich im Übrigen aus einem ganz anderen Zweig der Ribbentrop-Dynastie stamme, interessiert noch heute niemanden wirklich.

So las ich meinen hoch aggressiven, doch zu allererst verzweifelten Text quasi noch in Rainald Goetz’ Blut.

HUMMITZSCH Wie war das damals in Klagenfurt?

HERBST Ich sollte eigentlich einen anderen Text lesen als aus Die Verwirrung des Gemüts, das damals im List-Verlag erschien. Diesem Roman war nämlich ein anderer vorausgegangen, den der Verlag erst hatte haben wollen, dann plötzlich aber nicht mehr. Es war mein eigentlich erster und hieß – ein Titel, den ich nie habe durchsetzen können – „Die Erschießung des Ministers“. Denken Sie dran, der „deutsche Herbst“, der meine Jugend geprägt hat, lag 1982 noch nicht lange zurück. Durch meine Bücher geistern Terroristen ja bis heute. Jedenfalls hatte ich erst diesen Roman eingeschickt. Eine Woche später schrieb mir Hansjörg Graf, mein erster Lektor, dass List ihn verlegen wolle. Dann muss irgendetwas den Verlag dazu bewogen haben, ihm das Projekt wieder auszureden. Also rief er mich an und fragte, ob ich nicht noch etwas anderes hätte. – Hatte ich. Ich saß längst an meinem zweiten Roman. Aus dem nun sollte ich in Klagenfurt lesen. Ich aber wollte es nicht, sondern wollte nach wie vor den ersten vorstellen, der mir unter den Nägeln brannte. Wobei ich natürlich nicht ahnte, dass die Goetz’sche Blutarie meinem Auftritt unmittelbar vorhergehen würde. So las ich meinen gleichfalls hoch aggressiven, doch zuallererst verzweifelten Text quasi noch in seinem Blut und bekam dann noch einen Teil des Ärgers ab, der eigentlich ihm galt. Nur war er da schon nicht mehr vor Ort. Im Nachhinein kam heraus, dass sein Auftritt eine mit Suhrkamp geplante Aktion gewesen war, eine „Performance“, würden wir heute sagen. Wie auch immer, ich war nicht auf den Mund gefallen und hatte mich ziemlich vorbereitet. Ich kannte die Doktorarbeiten der Juroren, sofern sie welche geschrieben hatten, kannte zumindest deren Themen. So habe ich dann diskutiert, oder es versucht – was komplett danebenging. Ich war aber auch ziemlich arrogant.

HUMMITZSCH Meinen Sie, Ihr Text hätte bessere Chancen gehabt, wenn es Goetz’ Auftritt nicht vorher in der Form gegeben hätte?

HERBST Das hätte schon sein können, aber vergessen wir mal nicht, dass Irre ein grandioser Text ist, Goetz’ wahrscheinlich nach wie vor bestes Buch. Es gab aber noch jemand anderen, eine Autorin, deren Vortrag mich beeindruckte, und zwar Libuše Moníková. Leider ist sie nun schon lange tot. Man komplimentierte sie mit Küss die Hand, gnä Frau vom Podium.

HUMMITZSCH Marcel Reich-Ranicki lobte damals den inneren Monolog Ihres Erzählers als psychologisch interessant, kritisierte ihn zugleich aber auch als sprachlich banal. Er sprach von einem „ambivalenten Verhältnis“ zu Ihrem Text. Konnten Sie mit der Kritik etwas anfangen?

HERBST Reich-Ranicki war tatsächlich ambivalent. Ich glaube, dass er was gemerkt hat. Aber ich spürte eben auch sehr schnell, dass er diese Phalanx mit Walter Jens hatte. Sie stritten sich zwar auf dem Podium, aber hinter den Kulissen machten sie schon aus, wer zum Sieger gekürt wird. Das war ziemlich deutlich und verärgerte mich zusätzlich. Wir haben uns später auch sehr zerstritten.

HUMMITZSCH In Ihrer Literatur fließt Dokumentarisches und Fantastisches zusammen, Grenzen sind kaum auszumachen. Kürzlich haben wir im Zusammenhang mit Claas Relotius und Robert Menasse Debatten um das Echte und das Verfälschte erlebt. Was halten Sie davon?

HERBST Ich glaube, dass diese Diskussionen etwas aufgenommen haben, das schon lange schwärt. Denken Sie ans Internet. Als ich es das erste Mal betrat, war mir, als stiege ich in einen meiner Romane.

HUMMITZSCH Wann war das?

HERBST Um die Jahrtausendwende. Eine damalige Geliebte legte mir nachdrücklich eine Netzpräsenz nahe – eine seinerzeit für mich völlig fremde Vorstellung; ich hatte mich ja gerade daran gewöhnt, mit dem Computer zu schreiben. Sie hingegen argumentierte, so wie ich denke und schreibe, müsse ich ins Netz. Und programmierte mir meine erste Website. Ziemlich gleichzeitig meldete sie mich bei einem Weblog-Hoster an, damals bei freecity. Meinen Vorstellungen konnte es aber nicht entsprechen, sodass ich über die Vermittlung Oliver Gassners zu Knallgrau in Wien kam, twoday.net also. Da entstand Die Dschungel.Anderswelt. Und ich betrieb es total intensiv. Die Zeit war aber insgesamt spannend. Parallel trieb ich mich mit verschiedenen Identitäten in Chats herum und lernte Rollensprache zu schreiben. Wenn man als 15-jähriges Mädchen, als alter Mann oder als Banker in den Chat geht, schult das ungemein. Noch heute verfüge ich über Tausende Seiten gespeicherter Chats.

Es war noch nie einsehbar, warum ein Dichter oder Romancier mehr zur politischen Realität zu sagen hat, als der Bäcker von der Straßenecke.

HUMMITZSCH Kann man einem Autor wie Robert Menasse zum Vorwurf machen, dass er sich Aussagen zurechtlegt, die zu seiner Poetologie passen?

HERBST Nein. Ich würde eine Kritik auch früher ansetzen lassen. Es war noch nie einsehbar, warum ausgerechnet ein Dichter oder Romancier mehr zur politischen Realität zu sagen hat als der Bäcker von der Straßenecke. Hinter der gegensätzlichen Annahme steht immer noch der Gedanke, dass ein Dichter auch ein Priester ist und deshalb näher an der Wahrheit. Aber das ist Aberglaube – oder eben Markt. Zu Recht hat Peter Handke, lange vor seinen Serbien-Schriften, gefragt, warum