Mit dem Internationalen Literaturpreis 2020 werden die folgenden sechs Bücher und ihre Autoren und Übersetzer ausgezeichnet (im Ausnahmejahr 2020 prämiert der Internationale Literaturpreis alle Titel der Shortlist):
Glückliche Fälle
von Yevgenia Belorusets, aus dem Russischen von Claudia Dathe (Verlag Matthes & Seitz, 2019)
Der Zirkel der Literaturliebhaber
von Amir Hassan Cheheltan, aus dem Farsi von Jutta Himmelreich (Verlag C.H.Beck, 2020)
Die Sanftmütigen
von Angel Igov, aus dem Bulgarischen von Andreas Tretner (Verlag eta, 2019)
Was für ein Wunder
von James Noël, aus dem Französischen von Rike Bolte (Verlag Litradukt, 2020)
Das Weinen der Vögel
von Chigozie Obioma, aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner (Verlag Piper, 2019)
Geile Deko
von Isabel Waidner, aus dem Englischen von Ann Cotten (Verlag Merve, 2019)
Statement der Jury
„Was für ein Wunder, Der Zirkel der Literaturliebhaber, Glückliche Fälle, Die Sanftmütigen oder Geile Deko: Die meisten Bücher, die in diesem Jahr auf der Shortlist des Internationalen Literaturpreises stehen, tragen versöhnliche, hoffnungsvolle und sogar enthusiastische Titel. Wenn sich auch in Yevgenia Belorusets Glückliche Fälle nicht alle Fälle als so glücklich erweisen, und wenn in Angel Igovs Die Sanftmütigen nicht unbedingt jeder Nachsicht walten lässt, so haben sie alle doch mit Chigozie Obiomas Das Weinen der Vögel eines gemein: Sie zeigen uns die Welt als großen Möglichkeitsraum, in dem nicht alles auf Reproduktionszahlen heruntergerechnet werden kann. Sie zeugen von der großen Vielstimmigkeit der Welt, egal in welcher Sprache geschrieben wird, denn jedes der sechs Bücher hat dank der jeweiligen Übersetzerin, dem jeweiligen Übersetzer einen eigenen Ton und eine ganz eigene sprachliche Gestalt. Ob es um die Siegerjustiz in Bulgarien 1944 geht, um das große Erdbeben von Haiti oder eine Liebe in Nigeria: Was die sechs ausgezeichneten Bücher miteinander verbindet, ist ihre erzählerische Qualität, die jeweils sehr spezifische Art und Weise, wie sie ihre Gegenstände fassen. Sei es durch ein kollektives Erzähler-Wir, sei es in Bezug auf die klassische persische Poesie oder im Dialog mit den Text begleitenden Fotografien.
In einer Zeit, in der so deutlich wird, wie sehr es auf Solidarität ankommt, sei es auf zwischenmenschlicher, sei es auf globaler Ebene, war es der Jury wichtig, anstatt einen der Titel gesondert herauszuheben, die gesamte Shortlist als Konstellation von sechs ausgezeichneten Büchern aufzufassen und das Preisgeld unter allen aufzuteilen. Der Internationale Literaturpreis gilt also in diesem Jahr einer Art Kammerchor, der immerhin vier Kontinente einschließt: Afrika, Asien, Europa und Nordamerika.
Mit Blick auf die Gegenwart und mit Blick in die Geschichte erzählen unsere sechs Bücher davon, wie Menschen mit Konflikten umgehen, wie sie an ihnen wachsen und scheitern, wie sie sie herbeiführen und von ihnen überrollt werden. Das tun sie mal leise, mal komisch, mal schräg und mal laut, aber vor allem tun sie dies so erschütternd wie erhellend. Was für ein Wunder, was für ein glücklicher Fall.“
Der Jury gehörten in diesem Jahr Robin Detje, Heike Geißler, Tobias Lehmkuhl, Verena Lueken, Daniel Medin, Elisabeth Ruge und Daniela Seel an. Der Preis ist mit insgesamt 36.000 Euro dotiert, die Preisträger erhalten jeweils 3.000 Euro.
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Die ausgezeichneten Bücher
Yevgenia Belorusets / Claudia Dathe: Glückliche Fälle
Jurymitglied Daniela Seel: „Eindrücklich und widerborstig sind diese Porträts von zumeist Frauen zwischen Kiew und dem Donbass, voll eigensinniger Beobachtungen und wowsiger Sätze. Sie beruhen auf Begegnungen und Gesprächen während mehrerer Recherchereisen, sind jedoch literarisch gestaltet, hyperrealistisch, nicht dokumentarisch, und durch Fotos kontrastiert. In prägnanter Verdichtung zeigt sich, was die Latenz von Besatzung und Aufstand mit dem Leben von Floristinnen, Schwestern, Kundinnen im Kosmetikstudio macht ‒ den von der Geschichte Vergessenen. ‚DIE GESCHICHTE DER STEUERN. Fragmente der Arbeit Die frühe Geschichte der Menschheit´ sollte Yevgenia Belorusets’ Buch laut Vorwort ursprünglich heißen. Nicht weniger als dieses fantastische Unterfangen und sein naturgemäßes Scheitern haben wir vor uns, von Claudia Dathe exzellent übersetzt.“
Amir Hassan Cheheltan / Jutta Himmelreich: Der Zirkel der Literaturliebhaber
Jurymitglied Verena Lueken: „Dies ist ein Buch, das sich nicht von den Absteckungen der Zuschreibung ‚Roman‘ beeindrucken lässt. Ein Buch, das auf den Erinnerungen des Autors aufgebaut, also als autobiografisch im weiteren Sinn zu verstehen ist, außer: dass der Autor seine eigene Jugend um 15 Jahre etwa verschoben hat, nämlich in die Zeit der Islamischen Revolution 1978, als er selbst bereits Anfang Zwanzig war. Im Zentrum steht die Literatur, vor allem die klassische persische, aber nicht ihre offizielle Lesart. Sondern ihre subversiven Strömungen, ihre homoerotischen, ihre pornografischen Anteile. Es ist also in mehrfacher Hinsicht ein doppelbödiges Buch, was sich auch in der Sprache spiegelt, die Jutta Himmelreich im Deutschen mal blumig, mal sarkastisch, mal völlig nüchtern übersetzt – eine Coming-of-Age-Story aus Teheran, ein literaturhistorisches Seminar, ein Nachfabulieren althergebrachter Erzählungen, eine Geschichte der historischen Umbrüche und Katastrophen, und das alles in einem Buch, das, wie alle Bücher Cheheltans der vergangenen Jahre, in seiner Originalsprache bis auf weiteres nicht erscheinen wird.“
Angel Igov / Andreas Tretner: Die Sanftmütigen
Jurymitglied Elisabeth Ruge: „Dem gewaltigen Schreckensmosaik des 20. Jahrhunderts fügt der junge Autor Angel Igov aus Sofia wichtige Motive hinzu: Die Geschehnisse um die bulgarischen Volksgerichte 1944/45 sind kaum bekannt, erst kürzlich wurden die Archive geöffnet. Dokumentarisches wird hier mit literarischer Erfindungskraft in eine dichte Erzählung von Einzelnem und Gesellschaft verwoben, von privatem und kollektivem Schicksal. Ein verstörender und doch auch zutiefst befriedigender Roman, souverän, mutig, zwingend – von Andreas Tretner präzise und klug ins Deutsche übertragen. Ein Buch, das schon jetzt zur Weltliteratur gehört.“
James Noël / Rike Bolte: Was für ein Wunder
Jurymitglied Heike Geißler: „Was für ein Wunder zeigt sich in jedem Wort als Insistieren auf Poesie, Liebe und Selbstbehauptung. Auf die Erschütterung des Erdbebens, das Haitis Hauptstadt Port-au-Prince 2010 zerstörte und bis zu 500.000 Todesopfer forderte, folgen andere: Katastrophenökonomie, Medienschlacht, Cholera. James Noël hat einen Battle von Mensch gegen Erde, Bevölkerung gegen Hilfsorganisationen geschrieben und legt es in jeder Zeile darauf an, den Katastrophen und der Berichterstattung darüber die eigene Stimme entgegenzusetzen. Rike Boltes umsichtiger, um Grenzen und Möglichkeiten wissender Übersetzung ist es zu verdanken, dass Noëls sprachgewaltiges und zugleich leichtfüßig anmutendes Ringen, seine präzise, unermüdliche Anklageschrift auch in deutscher Sprache empowernd und nachhaltig beeindruckend auftritt.“
Isabel Waidner / Ann Cotten: Geile Deko
Jurymitglied Robin Detje: „Isabel Waidners Geile Deko ist eine blitzende und flirrende Attacke auf alle Synapsen, eine zum Glück gescheiterte Netflix-Serie mit dem Störfeuer, dem Blinken und Rauschen einer zu oft überspielten VHS-Kassette. Die tolle Nachricht dieses Buches ist: Der Underground lebt nicht nur, er genießt sein Leben auch, queer, trans und so gender-fluid, wie Sprache es nur zeigen kann. Dieses Buch wird allen Gender-Studies-Hatern zu hoch sein. Es zeigt, dass über ihren Köpfen noch viel Luft ist. Es zeigt, wie politisch der Genuss am Sprachspiel ist. Und Ann Cottens krampflose Übersetzung ist mit ihren wagemutigen Wortfindungen wirklich neiderregend gut.“
Chigozie Obioma / Nicolai von Schweder-Schreiner: Das Weinen der Vögel
Jurymitglied Daniel Medin: „Chigozie Obioma gehört einer Generation junger nigerianischer Autorinnen an, die im Begriff sind, nicht bloß den afrikanischen Roman des 21. Jahrhunderts zu prägen, sondern überhaupt der Weltliteratur neue Wege zu weisen. Das Weinen der Vögel ist ein philosophischer Roman von seltener Ambition und Breite, der mit unerbittlicher Präzision die Freiheit des menschlichen Willens hinterfragt. Wir begegnen dem Schicksal des Geflügelfarmers Chinonso: dieser beschließt, seinen Bauernhof zu verkaufen und in Nordzypern einen akademischen Abschluss zu erlangen, um sich eine bessere materielle Zukunft zu ermöglichen. Es scheint ihm, als könne er ohne diesen Aufstieg niemals seine Geliebte heiraten, die einer höheren Gesellschaftsschicht entspringt. Von hier aus entfaltet Obioma sein Epos über Erniedrigte und Beleidigte. Erzählt wird diese Geschichte auf leidenschaftliche Weise von einem 700-jährigen Schutzgeist. Dieser hat bereits mehrere Menschenleben begleitet und verkörpert das dualistische Prinzip aus der Religion der Igbo. Nicolai von Schweder-Schreiner hat diesen Roman, dessen Original Sprichwörter und Diktionen aus lokalen Traditionen kunstvoll mit dem Englischen vermischt, in meisterhafter Weise ins Deutsche übertragen.“
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