Was noch lesen? Wie noch schreiben? Und wozu?

Beobachtungen und Notate am Rand der Frankfurter Buchmesse. Von Felix Philipp Ingold

Online seit: 17. Oktober 2019

„Schon während des Lesens fange ich an zu vergessen, und dieser Prozess, der unvermeidlich ist, setzt sich so lange fort, bis ich irgendwann wieder an dem Punkt bin, als hätte ich das Buch nicht gelesen …“ – Pierre Bayard

 

I. Je mehr desto mehr!

Der Triumph der großen Zahl ist längst zur geheimnislosen Aura des Literaturbetriebs geworden und behauptet sich, hier wie anderswo, als signifikantes, wenn auch obsoletes Qualitätsmerkmal: Das mehrheitliche Lesepublikum hält die meistverkauften Bücher bedenkenlos für die besten, weshalb sich Bestenlisten und Bestsellerlisten mehr und mehr angleichen.

Die Frankfurter Buchmesse führt diesen zwiespältigen Triumph alljährlich vor Augen, wenn die jeweils aktuellen Produktionsziffern veröffentlicht werden. Rund 80.000 Neuerscheinungen waren im vorigen Jahr zu verzeichnen, mehr als 30 Prozent davon im Marktsegment der Belletristik. Die entsprechenden Umsätze werden bis zum Jahresende circa neun Milliarden Euro erreichen – auch das ist bloß eine Zahl, darüber hinaus eine unvorstellbar hohe Summe, die die epochale Krise, in der sich das Buch und der Buchhandel angeblich befinden, eigentlich doch dementiert.

Die Liste der Nobelpreisträger bestätigt, dass auch höchste akademische Gremien beim Jurieren oftmals überfordert sind.

Die weiterhin zunehmende Produktion stellt die Rezipienten – Redakteure, Kritiker, Moderatoren, Juroren und auch das gewöhnliche Lesepublikum – naturgemäß vor enorme, letztlich nicht zu bewältigende Probleme: Wer soll und kann aus Tausenden von Titeln jene paar Dutzend ermitteln, die sich dann als wirklich lesenswert erweisen und allenfalls dazu taugen, besprochen oder gar ausgezeichnet zu werden? Wie viele Neuerscheinungen muss man gelesen haben, um über die laufende literarische Saison Bescheid zu wissen? Um als Juror oder Rezensent objektiv argumentieren und urteilen zu können? Und wie viel Lesezeit (die ja immer auch Lebenszeit ist) kann überhaupt in die aktuelle Produktion investiert werden?

Oder nochmals anders gefragt, elementar: Wie viele Texte unter den Abertausenden, die von Messe zu Messe erscheinen, lassen sich einigermaßen adäquat bewältigen? Die Rede ist hier von Sachverständigen, die dem Literaturbetrieb zuzudienen, ihn zu unterhalten und auch zu regulieren haben.

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Angesichts der schieren Überfülle des Angebots bleibt die Auslese, so oder anders, weitgehend dem Zufall überlassen, selbst dann, wenn anerkannte Autoritäten und einschlägige Medien sich als Orientierungshilfe anbieten – auch sie vermögen die Quantität nicht durch objektive Qualitätsvorgaben zu sortieren und dementsprechend „das Beste“ herauszustellen: persönliches Gutdünken, Vorurteile, Abneigungen bleiben durchwegs bestimmend, bei professionellen Literaturvermittlern ebenso wie beim minderheitlichen Publikum, das Bücher überhaupt noch – und sei’s in geringstem Umfang – zur Kenntnis nimmt.

Dass auch bei der Vergabe von Literaturpreisen oftmals nicht künstlerische Qualitäten ausschlaggebend sind, sondern außerliterarische (politische, ideologische, regionale, alters- oder geschlechtsspezifische) Voraussetzungen und – in allzu vielen Fällen – private Beziehungen, ist weithin bekannt, und es kann auch gar nicht anders sein, weil kein Juror, keine Jurorin in der Lage ist, aufgrund eigener gründlicher Lektüre eine Longlist zu einer Shortlist zu verdichten und diese professionell abzuarbeiten, bis der Preisträger feststeht. Die Banalität so mancher Laudatio macht die diesbezüglichen jurorischen Mängel offenkundig, und nicht zuletzt die Liste der Nobelpreisträger mit ihren unbegreiflichen Lücken und ihren ebenso unbegreiflichen Fehlbesetzungen bestätigt, dass auch höchste akademische Gremien beim Jurieren oftmals überfordert sind.

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Auch ich selbst – privat wie beruflich, freiwillig und notwendigerweise ein Vielleser – bin bei der Auswahl neuer Lektüren auf Wegleitung angewiesen. Solche Wegleitung bietet einerseits, mit grundsätzlich positivem Vorurteil, die Werbung, andererseits das Feuilleton (Presse, Radio, TV) mit wertenden Besprechungen, die nachfolgend in Kurzfassung via www.perlentaucher.de zusätzlich verbreitet und von Verlagsseite durch Leseproben ergänzt werden. Doch auch so bleiben Neuerscheinungen großmehrheitlich ungelesen, zwei, drei Dutzend werden allenfalls angeblättert, lediglich vier bis fünf pro Saison können (neben andern Lektüren) seriös zur Kenntnis genommen werden.

Genügt es, ein kritisch zu besprechendes Buch überflogen zu haben, um ihm beziehungsweise seinem Autor gerecht zu werden?

Mit solch desolaten Voraussetzungen muss sich wohl jeder Literaturvermittler abfinden, egal, ob er – oder sie – das Tagesfeuilleton mit Besprechungen bedient, einer Jury als Referent und Richter beisitzt oder literarische Workshops und Festivals kuratiert. Der einfache Leser hat es diesbezüglich zweifellos leichter: Er darf sich der Lektüre (da er nicht darüber berichten, nicht öffentlich darüber urteilen muss) nach eigenem Belieben und Vermögen widmen, darf lesen, was er mag und wie er kann, wobei es ihm unbenommen bleibt, einem so diffusen Kriterium wie dem subjektiven „Geschmack“ zu folgen – niemand wird von ihm erwarten, dass er beim Lesen Kunst und Kitsch auseinanderhält, dass er Stil- oder Ideologiekritik übt .

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Das Problem der großen Zahl ist letztlich allein für Literaturschaffende und Literaturvermittler relevant – für die Autoren deshalb, weil sie davon abhängig sind und deshalb daran interessiert sein müssen, in irgendeine „Auswahl“ zu gelangen, das heißt unter unzähligen Kollegen (die dann notwendigerweise zu Konkurrenten werden) eigens herausgestellt zu werden, sei’s durch Besprechungen oder durch Einladungen zu Lesereisen, sei’s durch die Vergabe von Preisen, Werkbeiträgen oder Stipendien.

Im Unterschied zu den Autoren, die auf allfällige Auszeichnungen nur einfach warten können und bestenfalls hoffen dürfen, dass ihnen aus persönlichen literaturbetrieblichen Beziehungen gewisse Vorteile erwachsen, müssen die Vermittler und Multiplikatoren selbst tätig werden, müssen aus dem Großangebot die paar wenigen Titel extrahieren, auf die sie empfehlend oder ablehnend hinweisen wollen – ihre Herausforderung besteht darin, die jeweilige (ob positive oder negative) Auslese auf knappem, ja immer knapper werdendem Raum plausibel zu machen, und dies nach wie vor in der konventionellen Form von Besprechungen, Essays, Interviews.

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Die politisch inkorrekte Frage, ob und inwieweit Rezensenten und andere Literaturvermittler die Texte tatsächlich gelesen haben, über die sie in den Medien referieren oder diskutieren, bleibt in aller Regel dahingestellt. Manch ein Außenstehender mag erstaunt sein darüber, dass selbst tausendseitige Wälzer – und solche erscheinen neuerdings zuhauf – oft gleich nach Erscheinen wortreich besprochen werden, obwohl doch allein schon die aufmerksame Lektüre solch anspruchsvoller Werke Wochen in Anspruch nehmen müsste.

Die sich aufdrängende Vermutung, die Texte seien lediglich diagonal durchgenommen, im Detail aber nicht ausgelotet worden, bestätigt sich zumeist darin, dass in aller Regel schlicht deren Inhalt resümiert wird (was sich leicht als Paraphrase von Vorschau- und Werbetexten bewerkstelligen lässt), während künstlerische Qualitäten (Komposition, Stil, Personen- oder Gegenstandsdarstellung) außer Acht bleiben. Beim Sachbuch wiederum stellt sich bei der Rezension das Problem, dass langfristig eingebrachte, oft recht komplexe Forschungserträge kurzfristig aufgearbeitet und bewertet werden müssen. Auch hier verhindert der Aktualitätsdruck die detaillierte Lektüre und damit die adäquate kritische Auseinandersetzung.

Letztlich hat niemand irgendein Buch jemals zur Gänze gelesen, kein Literaturliebhaber und auch kein professioneller Literaturvermittler.

Damit stünde denn auch unabwendbar die Berufsethik der Literaturvermittlung insgesamt zur Debatte. Doch wer sollte an dieser Debatte interessiert sein, da der Sachzwang der großen Zahl nicht zu umgehen, nicht einmal zu relativieren ist? Ist denn aber, so wäre grundsätzlich zu fragen, nicht überhaupt davon auszugehen, dass besprochene Bücher in ihrer überwiegenden Mehrheit ungenau und unvollständig gelesene Bücher sind? Genügt es (wie es vielfach der Fall ist), ein kritisch zu besprechendes oder jurorisch zu begutachtendes Buch überflogen zu haben, um ihm beziehungsweise seinem Autor gerecht zu werden?

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Das Problem defizienter Lektüre und die damit verbundene Peinlichkeit sind im Übrigen leicht zu beheben durch die sachliche Feststellung, dass letztlich niemand irgendein Buch jemals zur Gänze gelesen hat, kein Literaturliebhaber und auch kein professioneller Literaturvermittler. Der Grund dafür liegt ganz einfach darin, dass jede Lektüre vorab schon eingespurt ist durch ein spezifisches Textbegehren, durch bestimmte Interessen und Erwartungen, weshalb man denn auch stets auf etwas hin liest, immer schon mit einem erhofften oder gewünschten Gewinn im Sinn, sei’s auch bloß spannende Unterhaltung, nutzbringende Belehrung, ästhetisches Vergnügen.

Manches wird bei derartiger Lektüre gleichsam automatisch ausgeblendet, man überfliegt oder überblättert, was einen nicht unmittelbar interessiert (oder „betrifft“), vielleicht liest man ein Buch bloß an, legt es beiseite, wenn der Autor schuldig bleibt (also nicht „liefert“), was man sich versprochen hat. Dazu kommt, dass der Lesevorgang ohnehin weitgehend selbsttätig verläuft und dass dabei, beispielsweise, die Interpunktion, der Satzbau oder stilistische Eigentümlichkeiten gar nicht erst wahrgenommen werden. Von daher ist die unvollständige Lektüre durchaus als Normalfall zu akzeptieren.

Dass auch gänzlich ungelesene, ja sogar ungeschriebene Bücher besprochen, begutachtet, verworfen werden können, hat vor Zeiten der polnische SF-Autor Stanisław Lem exemplarisch dargetan: In seinem Sammelwerk Die vollkommene Leere lässt er virtuelle Texte allein dadurch entstehen, dass er sie vorab rezensiert – der fiktive „sekundärliterarische“ Zugriff bringt das „Original“ überhaupt erst hervor.

Mit Michel de Montaigne könnte man doch pragmatisch und ganz allgemein davon ausgehen, dass ohnehin alle Lektüren dem Vergessen unterworfen sind, dass also auch gelesene Bücher bei notwendigerweise schwindender Erinnerung zu schlecht gelesenen oder gar ungelesenen Büchern mutieren. Somit erwiese sich das Lesen – das „Er-lesen“ und Gelesenhaben – in jedem Fall als ein natürlicher Prozess der „Ent-Lesung“.

 

II. Je mehr desto weniger?

Einen Sachverhalt „kurz und bündig“ auf den Punkt zu bringen und darüber hinaus, soweit möglich, die „Kürze mit Würze“ anzureichern, ist ein althergebrachter Grundimpuls des Sprachgebrauchs. Entsprechend häufig begegnen einem – heute mehr denn je − in spontaner Rede und Niederschrift abgekürzte Begriffe, unvollständige Sätze, simplifizierende Vergleiche, undifferenzierte Superlative, mithin Defekte und Defizite, die in gepflegter Schriftsprache tunlichst vermieden werden.

Die durch eine Vielzahl neuer Medien vorgegebenen Kommunikationskanäle und Kommunikationstechniken verstärken nun offenkundig diesen Trend, indem sie – man denke an WhatsApp, Twitter und andere Kurznachrichtendienste – die Informationsübertragung quantitativ stark einschränken, so stark, dass die althergebrachte Tendenz zur Kürze nun sichtlich zu einem Kürzungszwang mutiert. Bei Twitter wie bei elektronischen Kommentar- oder Kundenformularen weiß man genau, wie viele – wie wenige − Zeichen maximal eingegeben werden können, man lässt sich auf die Beschränkung ein und legt es naturgemäß darauf an, den zur Verfügung stehenden Zeichenbestand trickreich zu nutzen.

Dies geschieht nicht allein durch grammatikalische und syntaktische Regelbrüche oder durch die Verwendung von Kurzformen aller Art (darunter, besonders privilegiert, #hashtags), sondern mehr und mehr auch durch den Einsatz von Icons und Emojis, die jeweils auf einen Blick die übermittelte Nachricht erkennen lassen. Sprachliche Zeichen verlieren damit an Interesse und Bedeutung, während einfache, problemlos einsetzbare und entzifferbare Bildsymbole an Effizienz wie an Beliebtheit deutlich gewinnen.

Der Gebrauch solch moderner Hieroglyphen – von der Sanduhr über das tränende Herz bis zum Smiley – setzt keinerlei syntaktische Fügung voraus, er bleibt auf schlichte Setzung oder additive Reihung beschränkt, vermag also weder eine Zeitenfolge (vorzeitig, nachzeitig) festzuhalten noch eine Kausalität oder eine Konsequenz, wie es bei gewöhnlichen Nebensätzen (mit „weil“, mit „sodass“) der Fall ist. Doch solche Defizite scheinen für Smartphone- oder Tabletnutzer ohne Belang zu sein. Der Kurznachrichtendienst selbst ist als Begriff zusammengeschnurrt auf das Kürzel SMS (deutsche Verbform: „essemesseln“ bzw. „SMSeln“), von dem kaum jemand noch weiß und auch niemand wissen muss, auf welchen ursprünglichen Wortbestand es sich bezieht, dies umso weniger, als neuerdings WhatsApp die entsprechende Funktion übernommen hat.

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„Unsere Zeit ist die Kürze“ – das hatte schon in den 1930er-Jahren die Dichterin Marina Zwetajewa notiert, ein Daseinsgefühl, das sich seither beängstigend intensiviert hat und heute unter einem generellen Beschleunigungszwang sich auszuleben scheint. Der Sprachgebrauch (und in der Folge auch die literarische Sprachkultur) hat jenes „Gefühl“ und diesen „Zwang“ inzwischen weitgehend verinnerlicht – das „Kürzel“, wie auch immer bewerkstelligt, ist heute als vollwertiges sprachliches Zeichen etabliert, und es wird keineswegs bloß von privaten Nutzern eingesetzt, sondern auch von der Werbeindustrie und von der Politik, die ihre Botschaften meist auf knappem Raum (Plakate, Inserate, Abstimmungsparolen, Internetbanner, Facebook- oder Instagram-Posts usw.) beziehungsweise in kürzester Zeit (TV-, Radiowerbung) einrücken müssen: Jeder Zentimeter, jede Sekunde zählt und muss bezahlt werden.

Eine besondere, auch besonders häufige Form der Verknappung stellt das Akronym dar. Bei diesem althergebrachten, ursprünglich poetischen, neuerdings wieder gern eingesetzten Verfahren werden die Anfangsbuchstaben einer vorgegebenen Wortfolge oder eines mehrgliedrigen Namens separiert und zu einem eigenständigen Lettern- beziehungsweise Lautgebilde zusammengefügt. Solch künstliche Neubildungen setzen sich im besten Fall als autonome Begriffe durch (vgl. UNO, NATO, UNICEF, EDA, AIDS, LASER, LOL, VIP usw.) und gelangen so ins Wörterbuch, meistens aber bleibt es bei einer unverbundenen Buchstabengruppe wie SMS, EDV, USB, SUV, CEO, BMW, NRW, NGO. – Der oder die PC hat derweil die ungewollte, eher verwirrliche Doppelbedeutung von „personal computer“ und „political correct­ness“ angenommen. Akronyme dieses Typs werden wohl zusammenhängend geschrieben, können aber nur im Staccato und nicht als selbstständige Kunstbegriffe gesprochen werden.

Akronyme sind zum Standard heutiger Kürzelsprache geworden und finden neuerdings auch in der Rapmusik breite Verwendung. Das gilt sowohl für die Künstler- wie für Gruppennamen (vgl. Afrob, B-Tight, Basstart, Deine Eltan usw.) als auch für Liedtitel (vgl. beispielshalber https://www.villagevoice.com/2011/02/01/top-ten-greatest-rap-acronym-anthems/), und ebenso funktioniert es in der Alltagskommunikation, die klischeehafte Aussagen wie „you only live once“ (YOLO), „greatest of all time“ (GOAT) oder „fear of missing out“ (FOMO) akronymisch auf den Punkt bringt. − Besonders sinnreich sind derartige Kürzel dann, wenn sie sich gleichzeitig als ein Begriff mit entsprechender Bedeutung gebrauchen lassen. So ist PEN nicht nur die Abkürzung für „Poets Essayists Novelists“ (und als solche längst zum eigenständigen Begriff geworden), sondern korrespondiert gleichzeitig mit dem altbekannten Wort zur Bezeichnung des Schreibgeräts („pen“, engl. für „Feder“).

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Im alltäglichen Sprachgebrauch (soziale Medien und Gratispresse inbegriffen) werden Verkürzung und Beschleunigung mehrheitlich durch Einzelbegriffe beziehungsweise Einwortsätze bewerkstelligt. Vorab der einsilbige Ausruf oder die Befehlsform kommen dabei zum Zug: WOW! HIP! OUT! LOS! FUCK! GEIL! UPS! BINGO! usw. − Eine besonders ingeniöse, vielfach nachgeahmte Neubildung dieser Art ist das schon ältere Modelabel JOOP!, das den Namen des Firmengründers wie eine Befehlsform oder einen Aufruf optisch zur Geltung bringt.

Generell werden Superlative gern zur Verallgemeinerung und Verknappung expliziter Aussagen eingesetzt. Es ist ein Leichtes, ein Produkt oder eine Person ganz oben auf die Liste der „Besten“ zu setzen, um damit eine singuläre Sonderstellung zu markieren, statt deren jeweilige Qualitäten argumentativ oder dokumentarisch aufzuzeigen. Das „beste“ Buch, den „besten“ Wein, das „beste“ Ferienziel der Saison, des Jahrgangs, des vergangenen Jahrzehnts oder unseres Jahrhunderts herauszustellen, ist eine zwar effiziente, aber in keinem Fall faktisch belegbare Empfehlung – was übrigens auch umgekehrt auf das „schlechteste“ Produkt und die Pauschalkritik daran, den „Verriss“, zutrifft.

Zur Sprachverknappung finden nicht zuletzt so beliebte Wortelemente wie MEGA, SUPER, EX, EXTRA, MONO, HETERO, HOMO, LOGO, PYRO, XENO, POP u. a. m. Verwendung, Rumpfbegriffe also, die emotional beliebig aufgeladen und als Reizwörter oder Kollektivbegriffe gebraucht werden können. Bemerkenswert ist bei diesen geläufigen Kürzeln, dass sie aus fremden, ja „toten“ Sprachen (Latein, Altgriechisch) hergeleitet sind und dass den Nutzern ihre ursprüngliche Bedeutung zumeist gar nicht mehr geläufig ist. Aber das ist auch nicht erforderlich, es genügt, die Kurzform als solche zu verinnerlichen − ihre Bedeutung ist im jeweiligen Letternbestand angelegt und schwingt assoziativ jederzeit mit. So hat sich etwa die im Deutschen gebräuchliche Größenangabe XL (extra large für „sehr groß“) von ihrer lateinisch-englischen Herkunft völlig abgelöst, ohne dass dadurch ihr Verständnis erschwert würde.

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Weit komplexer, dennoch leicht nachvollziehbar sind sprachliche Kurzformen, die durch Kontamination (Verschränkung) gewonnen werden, mithin dadurch, dass aus zwei oder mehr Wörtern willkürlich ausgewählte Versatzstücke (einzelne Buchstaben, Silben, Endungen) neue Einzelbegriffe geschaffen werden, beispielsweise aus „global English“ – GLOBISH, aus „British exit“ – BREXIT, aus „password harvesting“ (Passworte sammeln) und „fishing“ (Angeln, Fischen) – PHISHING, ein heute international gebräuchliches Kunstwort zur Benennung von Datenfälschung und Datendiebstahl im Internet.

Vergleichbare Neubildungen finden sich in großer Zahl bei der Bezeichnung von Firmen und Institutionen: REATCH als Namenskürzel für „Research and technology in Switzerland“, TENOR als Titel einer Schriftenreihe („Text und Normativität“), STUBE für „Studien- und Beratungsstelle“ (Erzbistum Wien). – Wenn von „ohrganisierter Kriminalität“ auf Streamingplattformen die Rede ist, wird der Gleichklang von „Ohr“ und „Organ“ genutzt, um in aller Kürze zwei unterschiedliche Dinge aufs Mal zu benennen. Weit vertrackter noch ist die kontaminierte Portalbezeichnung „OkCupid“ einer Website für Partnersuche: „Ok!“ und „occupied“ und „Cupid“ (Amor) gehen hier eine hochkompakte, dabei unmittelbar einleuchtende Verbindung ein.

Vermehrt setzen sich Neologismen durch, die auf rhetorische Figuren und lexikalische Versatzstücke aus der Antike und dem Mittelalter zurückgehen.

Auch bereits bestehende Begriffe lassen sich durch dieses Kontaminationsverfahren nachträglich umdeuten oder ins Mehrdeutige verfremden. So kann sich das französische Wort MASCULIN in feministischer Lesart unversehens als eine (fiktive) Verknüpfung von „masque“, Maske, und „cul“, Arsch, erweisen, oder man geht (wie vor einiger Zeit in Augsburg) auf die Straße, um unter dem Motto THEJATER – „Ja!“ zum „Theater“ – für die Renovation der städtischen Bühne einzutreten. Mit dem Aufruf EURO PARAT! soll der „Europarat“ zu vermehrtem Einsatz für wirtschaftliche EQUALLITY (aus equal, all, quality) angehalten werden.

Bei einer wirtschaftskritischen Kund­gebung in Frankfurt wiederum hat man den Slogan UMFAIR­TEILEN! mitgetragen, der die doppelte Forderung nach „Umverteilung“ und nach „fairem Teilen“ in einem einzigen Wort unmissverständlich zum Ausdruck bringt. Der Slogan richtete sich an die Bankenwelt von MAINHATTAN, sollte mithin die Finanzplätze Frankfurt am Main und Manhattan gleichermaßen betreffen und darüber hinaus – symbolisch – den globalen „Raubritterkapitalismus“. Auch das im selben Kontext eingesetzte Kürzelwort INWASTEMENT (aus „to waste“, vergeuden, und „investment“) steht exemplarisch für die heute weit verbreitete Technik sprachlicher Kontamination, und die Verunglimpfung von Flüchtlingen („refugees“) als RAPE-FUGEES (Vergewaltiger) gehört zur alltäglichen Twitter-Rhetorik rechtsextremer Populisten in der EU wie in den USA.

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Dass derartige, ebenso schlichte wie raffinierte Begriffs- und Buchstabenspiele heute ganz rasch populär werden können und dass sie auch sofort in den sozialen Medien Verbreitung finden, lässt auf eine hohe schrift- und lautsprachliche Sensibilität der Anwender schließen. Erstaunlich bleibt demgegenüber die Tatsache, dass sich im Alltagsbereich vermehrt Neologismen durchsetzen können, die auf althergebrachte, aus dem gängigen Sprachbewusstsein seit Langem verschwundene rhetorische Figuren und lexikalische Versatzstücke (aus der Antike, dem Mittelalter) zurückgehen – als „gesunkenes Kulturgut“ kehren sie nun zurück, werden zu Trivia der Alltagsrede, obwohl kaum jemand über deren Herkunft und Bedeutung noch Bescheid weiß.

 

Felix Philipp Ingold arbeitet als freier Autor, Publizist und Übersetzer in Romainmôtier; zuletzt erschienen von ihm der Essayband Körperblicke sowie die autobiographische und zeitkritische Textsammlung Endnoten (beides bei Ritterbooks 2019).

Quelle: VOLLTEXT 3/2019

Online seit: 17. Oktober 2019