wenn ich einen schlüssel hätte der öffentlich wäre und trotzdem geheim
nichts davon funktioniert. auch das hier hat es schließlich nicht
(„terror“, S. 28)
Zum ersten Mal begegnete ich dieser Lyrik im „ausland“ – einer der kleinen, beinah klandestinen Aufführungs- und ja, Uraufführungsorte neuer Dichtung, derer wir in Berlin nicht sehr viele, aber doch bedeutend mehr als andere Städte haben. Das Wort „bedeutend“ ist dabei nicht immer, aber doch oft angemessen. Sabine Scho hatte mich, die dort ebenfalls las, quasi vorher„gewarnt“ und von der, erinner ich mich, „grandiosen Katharina Schultens“ geschrieben. Bei sowas, erstmal, bin ich skeptisch. Dann zog es mir die Schuhsohlen weg, also dass ich nackter Fußsohlen stehen blieb.
Schultens las ein paar der Gedichte, für die ihr im selben Jahr der Leonce- und Lena-Preis zugesprochen worden war, und dann – aus Manuskripten. Es waren sie, die mich derart benahmen, dass ich nahezu kritiklos nur zuhören konnte. So etwas widerfährt mir sonst nur bei großer Musik. Und jetzt sind diese – „Texte“ dazu zu sagen, wäre blasphemisch, ich sag besser gar nix als Zuordnung … – jetzt sind sie erschienen, und ich konnte nach„prüfen“: Katharina Schultens, gorgos portfolio, Gedichte, kookbooks Berlin, 2014. Und so geht das los:
mein projektleiter stützt abends den kopf in die hände reibt
seine wimpern; er habe mich tagsüber verbrannt ohne not
(„projekt“, S. 7)
worauf sie, Schultens, indirekt reimt, geschickt in – Ecco! – dem Nichtreim auf lots weib. Damit ist dann schon geschehen, was viele dieser Gedichte wesenhaft auszeichnet: der Arbeitsalltag wird transzendiert, und zwar in einem Maß, dass das „verbrannt ohne not“ etwas Leibhaftiges jenseits allen Dahingesagten bekommt. Und über die „o“-Reihungen, die schon im Titel „projekt“ angeschlagen werden und sich über losungen nach definitionen fortsetzen, wird die Präsentation eines nahezu beliebigen Projektes zur ontologischen Aussage, also einer über das Sein als solchem. Schultens poetisiert insgesamt die mal schicke, mal nüchterne Technokratie, in der telefonierend der Projektleiter leise meine stiefel streichelt. Sodass die Poetisierung zugleich eine Sexualisierung ist, zumindest Erotisierung, und dies aber ständig. Zugleich bleibt sie entfremdet, es wird keine Versöhnung hergestellt: der index hat vergessen was sein ursprung ist („index“, S. 17) Sogar schlimmer: pandora ist ihm kein begriff.
Bei Schultens wiederfindet das poetische Geschehen allein über die perverse Bewegung auf seinen Meer-, damit „Ur“grund:
ich trug die stiefel aus meinem büro
wenn ich mich drehte, bohrte ich den absatz
immer genau zwischen die zehen seiner tatzen
Nun ist es schrecklich banal, bei Lyrik von „tollen Bildern“ usw. zu schreiben oder sie gar noch zu loben. Denn abgesehen von den rhythmischen Strukturen wäre ein Gedicht gar nicht ohne sie. Vielmehr sind sie überhaupt die Voraussetzung dafür, dass wir von Gedichten sprechen können; alleine gebrochene Zeilen machen es nicht. Sondern Schultens dreht ihre „guten Bilder“ in unversehene Konkretion um. Ich möchte das ein inverses Abstrahieren nennen. Auch hier führt die Bewegung zum Grund zurück, die Hand auf den realen Tisch, und zwischen den Fingern rieselt die Erde:
ein bündel roter trauben eine schale roter augen
die schale ist ein tal. den augen wachsen blicke
Genau hier hätten mindere Lyriker:innen aufgehört und die Claquers gejubelt. Schultens indessen nimmt ihr Bild konkret und setzt fort:
sie staksen drauf bestürzt durchs gras
(„human resources“, S. 12)
Dazu eine wie verlorene Absage an den Germanistenfetisch Ironie:
–/–/- /- haben wir
als eigenkapitaleinlage mehr als ironie.
(„hysteresis“, S.19/20, auf 20)
Das Fragezeichen freilich, es ist ein bitteres, müssen wir uns denken. Schneller noch erfühlen wir’s aus der Satzmelodie: Dadurch überträgt sich die Bitternis erst. Das ist kein nur rationaler Akt mehr. Erst recht handelt es sich nicht um pure Rhetorik; nur dann, wäre das Fragezeichen dahingesetzt worden, ließ sich das erwägen. Sondern hier ist überhaupt nichts rhetorisch, vielmehr alles auf eine kaum fassbare Weise „rein“. Das meint insbesondere die formale Durcharbeitung der Gedichte. Immer wieder war und bin ich versucht, Silben zu zählen bzw. gegen die Hebungen zu halten. Immer wieder lese ich laut, als Klangstruktur. Immer wieder gerate ich dadurch in ein Spannungsverhältnis zu den hier angespielten und oft fast klassizistisch-streng durchgearbeiteten Semantiken, zum Beispiel in „crude“:
sag: wer hat mir die liebe endgültig entschieden
auf die temperatur einer großkatze hochgepegelt
nicht schnurren bloß: ein prankenhieb dein kopf ist ab
ein biss: das war dein leib. du krümelst
(„crude“, S. 38)
Wer hat da nicht „Siehe, dies ist mein Leib“ im Kopf? Umso heftiger die Verbindungslinie: „Sexualität ist kein Spaziergang im Grünen“, schrieb Camille Paglia zurecht. Und auch hier wieder die Bewegung aus dem Bild in die Konkretion: die Krümel sind nicht „bildlich“, sondern
ich müßte dich mindestens eine stunde lang
in wasser legen, um mein kind einen tag zu ernähren (/ – / -).
Hier wird die Sehnsucht nach Erfüllung zu ihrer notwendigen, das ist entscheidend, nicht Enttäuschung, nein: zersetzenden Einvernahme. Sie wird verstoffwechselt, ist ihr eigenes Ende im selben Moment, als Nährstoff. Was Welt ist, findet bei Schultens ihren Ausdruck, und zwar dort, wo sie uns am entfremdetsten zu sein scheint.
Der, ich sag mal, „lyrische Skandal“, ohne den die Größe dieser Gedichte nicht wäre, besteht nun aber darin, dass jedes Gebilde für sich von enormer Schönheit ist. Zu der gehört, bis auf wenige Ausnahmen, ihre stilistische Vollkommenheit. In dieser Weise, für Kunstwerke der Gegenwart, ist mir das bisher allein bei György Ligeti begegnet: Es wird, quasi, von Anfang an nicht mehr experimentiert. Das sind keine Versuche; selbst von hohem „Talent“ – nur! –zu sprechen, wäre eine Blasphemie. Und dabei haben wir es nicht etwa mit einer „hauptberuflichen“ Dichterin zu tun, sondern mit einer Frau, die ziemlich hart und entschieden nicht nur im „Alltags“beruf, dem einer Managerin, „ihren Mann“ „steht“ (:! ah! diese verräterischen Idiome!), sondern überdies alleinerziehende Mutter eines kleinen Kindes ist. Doch, das gehört hierher. Denn es sagt etwas über lebenswirkliche Widersprüche, die solche Lyrik wahrscheinlich erst möglich machen, ihre conditio sind: über persönlich harte, heftige Bedingungen:
wer hat mein zittern mit nur einem schnitt
der quantenscharfen kante von mir abgetrennt
und war nicht seele darin die jetzt schwebt
(„daemon“, S. 37)
Zumal „Alltags“- und „Arbeitswirklichkeit“ sehr viel mehr als banale Abläufe meint, sondern durchaus ein ganzes ökonomisch grundiertes Weltgeschehen im Blick hat; auch deshalb ist die Zuordnung „Managerin“ wichtig: Es wird gewusst, und zwar erfahren, wovon man schreibt. Indem Schultens das Persönliche nun aber darauf spiegelt und das global Wirkliche (Wirkende!) umgekehrt auf dieses, ergibt sich ein Prozess der Wechselwirkung, der seine Transzendierung geradezu verlangt. Es ist eine in diesen Gedichten zugleich feingriffige, wie sehr oft im antiken Sinn tragische: Wonach ich mich sehne, ist das, was es letztlich zerstört. Daher wohl auch dieser ungemeine Eindruck kristalliner Reinheit; noch der Schmerz wird zum Werkstück an der Erfahrung. Nicht grundlos ist ein geradezu unheimliches Gedicht „fatum“ betitelt; ich mag nicht einen Ausschnitt zitieren, und als ganzes wär es hier zu lang. Aber um das Fatale zu bezeichnen, stelle ich wenigstens zwei Zeilen aus dem insgesamt titelgebenden „gorgo“ hier hin:
trägt einer sein headset im schlaf
ziehn ihn die kabel zur schlangengrube
(„gorgo“, S.10)
Sie können hier auch lesen (und sprechen Sie es bitte!), wie meisterhaft Schultens mit Verkürzungen umgeht, im Übergang von „ziehn“ zu „ihn“, was wiederum die Alliteration von „Schlaf“ auf „Schlange“ ausbalanziert. Oben war es „zittern“ zu „schnitt“, von „quant“ zu „kant“ gefolgt und „scharf“ über, ausgerechnet, „seele“ zu „schwebt“. Es gibt kaum einen Vers Schultens‘, schon gar keine Strophe, der solche Bewegungen nicht eingeschrieben würden. Dies sind die Innenverhältnisse. Die Außenverhältnisse sind sehr oft im ersten Blick die der sogenannten Realität, aber besonders auch der (positivistischen) Naturwissenschaften, mit fast immer gefolgter Transzendierung zugleich ins Persönliche und vor allem Mythische. Wobei es nicht etwa um Überhöhung geht, sondern es ist der Abzug des Konkreten aus einem Allegorischen. Sodass, was quasi-analytisch „prism“ heißt, ein also auf den ersten Blick technischer Term, bei Schultens zu sogar einem in diesem Fall konkret-religiösen Statthalter werden kann – hier zu der Sentenz und vergib uns unsere Schuld aus dem Glaubensbekenntnis, aber auf lateinisch, dimitte debita nostra, – um zu schließen:
(nobis!) wenn ich niemandem das gerimgste vergebe
und laß mich dennoch nicht allein
(„prism“, S. 26)
Allein in den Gedichttiteln wird solch eine Synthese … nein, nicht bloß angestrebt, sondern erreicht: „projekt“, „massive attck“, „gorgo“, „prism“, „fatum“, „insider trading“, „dysprosium“ usw. Es lohnt sich, die Titelbegriffe nachzuschlagen, wenn man sie nicht zuzuordnen weiß. Etwa „hysteresis“, für mich ein Herzstück dieses Gedichtbandes, wobei Herz immer auch Kleist meint: „Küsse, Bisse, das reimt sich“… und Schultens versteht, wie Penthesilea, unter Bissen nicht nur Geknabber. Wobei aller Gedichten Frappierendstes ist, dass sie gar nicht spezialgebildet daherkommen, noch solch „Experten“wissen verlangen, um ihr radikales Glänzen zu verströmen. Es ist ein dunkles Irisieren in nur technisch hellem Verlangen. Denn dieses ist zugleich die Versagung des Verlangten. Deshalb können wir mit dieser Dichtung niemals gute Kumpels sein, sondern sie erfüllt uns zwar, gibt uns aber zugleich mit dem Lineal auf die Finger. Sodass es oft ausgeführte Doublebind-Strukturen sind, die hier Poetik werden:
missversteh meine bilder zu identität
finde mich: bitte finde mich nicht
(„insider trading“, S. 30)
Aber darin, in der ausgehaltenen Ambivalenz, bleibt es nicht balanziert – schon gar nicht im Sinn einer „harmonia mundi“. Das ist so wenig ein stabiler Orbit, wie die Welt stabuler Ort. Doch anstelle sich in Frustration zu erschöpfen, heizt der permanente, sagen wir, Interruptus das Begehren noch an. Das von Schultens in auch und gerade rhythmisch ständiger Nervosität gehalten wird, in einer nervhaften, sehnigen Spannung, die sich befrieden lassen gar nicht will. Es soll unterm Firmament des Ewiggleichen kein Stillstand sein, den die ersehnte Ruhe bedeuten würde, wär sie erreicht:
wir sollten unsre suche in das mondhochland verlegen
wir sollten anerkennen: vor diesem feld kann man nur flüchten
(„seltene erden“, S. 48)
– seltene erden fürwahr!, in der nur Versagung die Lust erhält, ohne das aber zu betrauern, gar zu bejammern. Sondern mit einer lyrischen Radikalität sondergleichen Hohegesang und Analyse vereint. Dass es bei Katharina Schultens weder poetologisch noch poetisch, noch gar persönlich auch nur die Spur von Banalität gibt, wird sie bei zugleich dieser Formvollendung zu einer der wahrscheinlich bedeutendsten Lyriker:innen unserer Zeit machen, im deutschen Sprachraum jedenfalls unter denen ihrer Generation. Wenn sie es, trotz des bislang vergleichsweise schmalen Werkes dreier Gedichtbände, nicht bereits ist.