Der Kritiker K. (55) ruft bei B. (40) an. B. ist Redakteurin einer Sendeanstalt im Westen der Bundesrepublik und neu für die Sendung zuständig, die er seit Jahren mit Beiträgen beliefert hat. Einmal haben K. und B. länger miteinander gesprochen, während eines Buchmessenempfangs in Leipzig . Er möchte Pfaueninsel, den neuen Roman von Thomas Hettche, rezensieren und erreicht B. am Handy. Sie sagt, sie säße im Zug, er solle sprechen, sich auf Unterbrechungen ihres Telefonats aber einstellen.
1. Szene
B Wie bitte? Den neuen Roman von wem?
K Von Thomas Hettche. Ob das ginge?
B Aber warum denn?
K Warum? Wie, warum?
B Ob er diesen Roman ohne Einwirkung äußeren Zwangs tatsächlich besprechen wolle.
K Er kenne niemanden, der ihn dazu nötigen würde.
B Sie glaube, da griffe er in der Betrachtung seiner Motive zu kurz.
K Was wolle sie ihm damit sagen?
B Der Rezensionswunsch, das sei das Grundproblem. Dass dieser Wunsch bei ihm einen günstigen Nährboden zu dessen Entfaltung fände. Hallo, Hallo …
2. Szene
K Er habe früher schon Bücher von Thomas Hettche besprochen.
B Sie habe früher im Schwimmbecken Rekorde aufgestellt.
K Er verstünde sie nicht, dieser Verständniskollaps sei jetzt allerdings nicht durch ein Funkloch ausgelöst worden.
B Nachweise von Kennerschaft und Rekorden seien ein Argument. Eine Reihe anderer Gründe müssten hinzukommen, wenn aktuell über die Vergabe einer Rezension nachgedacht würde. Beispielsweise, ob das neue Werk des Autors unbedingt besprochen werden müsste.
K Das stünde für ihn außer Frage.
B Das dächte sie sich. Für sie verdiene es jedes Buch, mit der Frage konfrontiert zu werden, ob es eine Rezension verdiene. Grundsätzlich. Diese Frage stelle sie sich, bevor sie über das Buch weiter nachdenke.
K Und? Zu welchem Ergebnis komme sie im Fall von Thomas Hettche? Hallo, Hallo …
3. Szene
B Nicht so schnell. Sie wolle nochmals auf den Rezensionswunsch zurückkommen. Das Unproblematisierte erstaune sie. Er habe so etwas Unangegriffenes.
K Er, K., wisse nicht, warum er bei Thomas Hettches Roman in das nagende Bad des Problematisierens tauchen solle.
B Derart ätzend müssten die Substanzen ja nicht sein, denen er Hettches Roman aussetze. Vielleicht genüge es, wenn er einmal das sanfte Licht der Affirmation drossele, das er über dessen Roman ausgebreitet habe.
K Ja, wolle sie ihm sagen, der Rezensionsauftrag sei vergeben?
B Nein, sie wolle nur wissen, wie empfindlich er reagiere. Ob er sich gegen jeden zarten Einwand gegen das Buch spreize und ihn ersticke.
K Mit instabil werdender Belüftung von kritischen Einwänden hätte er noch nie zu kämpfen gehabt. Die Pfaueninsel zu besprechen sehe er im Gegenteil als ein ästhetisch bestens gerechtfertigtes Glück an. Hallo, Hallo …
4. Szene
K Könnten sie vielleicht ein paar weniger gedrechselte Sätze miteinander wechseln? Wenn jetzt aber wieder ein Tunnel komme und sie unterbrochen würden, verschiebe er die Fortsetzung des Gesprächs lieber.
B Nein, es käme längere Zeit kein Tunnel mehr. Sie kenne die Strecke. Doch, da sei schon der nächste Tunnel … Hallo, Hallo …
5. Szene
K Sein Irritationspegel habe ein hohes Niveau erreicht. Als Beitrag zur Irritationsverminderung bitte er um Folgendes: Könne sie ihm Einblick in ihre Überlegungen zu Hettches Roman geben und dabei eine Sprache verwenden, die er verstehe?
B Sie lese gerade Essays von Elfriede Jelinek im Netz. „Wie schön und still ist es zur Zeit noch in ihm und um ihn“, stünde da. Jelinek spräche von einem „erwachsenen, alleinstehenden Menschen in seiner natürlichen Trägheit.“ Diese Trägheit halte an, solange dieser Mensch nicht mit Schreiben begänne. Sie wisse nicht, ob Thomas Hettche alleinstehend sei, aber schön und still hätte es in ihm bleiben können, wenn er diesen Roman nicht geschrieben hätte. Vor allem aber die Pfaueninsel hätte im schönen und stillen Dämmer ihr abseitiges Leben in der Havel nahe bei Berlin weiter führen können. Und auch wie schön und still hätte es in ihr bleiben können, wenn ihr Wissen von dieser Insel und von Thomas Hettche im Zusammenhang mit dieser Insel auf dem niedrigen Niveau geblieben wäre, auf dem es all die Jahre dahindämmerte.
K Er lege jetzt auf und rufe sie nochmals an. Seine Fähigkeit, Gehörtes in nachvollziehbare Zusammenhänge zu überführen, unterliege offenbar noch einer Störung. Er müsse sich erst mit Instandsetzungsarbeiten beschäftigen. Auf Deutsch: Er verstehe sie nicht.
6. Szene
K K. am Apparat. Er wolle die Frage stellen, ob er den neuen Roman von Thomas Hettche mit dem Titel Pfaueninsel rezensieren dürfe? Er bitte um eine Antwort, möglichst in der Länge eines Wortes.
B Ja.
K Ja. Wirklich?
B Ja, klar. Das sei doch der Roman, über den jeder eine Rezension schreiben wolle, und außerdem könne ihr Sender nicht auf das Ausstrahlen eines Beitrags über dieses Buch verzichten.
K Er danke. Begeistert klinge ihre Zusage aber nicht.
B Er habe es erfasst.
K Aber was hindere sie daran, etwas mehr Freude zu zeigen?
B Dass der Roman keiner sei.
K Dass der Roman keiner sei? Aber was habe Hettche denn anderes als einen Roman geschrieben?
B Einen Hybridtext. Sieht aus wie ein Roman, ist aber … Hallo, Hallo …
7. Szene
K Als konzentriert geschrieben und gut gearbeitet würde er Thomas Hettches Prosa bezeichnen.
B Konzentriert worauf? Im Ernst, worauf habe sich der Autor konzentriert? Sei das eine Liebesgeschichte zwischen einer Zwergin und einem Gärtner in normaler Körpergröße? Sei das eine langgezogene Reflexion zum Thema Zeit und Vergänglichkeit? Sei es die Geschichte einer Insel? Hätten wir es mit einer erzählerisch etwas aufgerüsteten Kulturgeschichte zu tun? Oder gehe es um Gartenarchitekturen und den Zeitpunkt, ab dem Grünpflanzen ihren Siegeszug antreten und die blütentreibenden Gewächse verdrängten? Und am Ende des Romans trete auch noch ein Koch auf und verbreite sich über Lebensmittel und deren Zubereitung. Ihr sei entgangen, wo dieses Buch sein Zentrum habe. Wie habe sein Orientierungssinn auf diesen verschachtelten Bau reagiert?
K Er könne keine Orientierungskomplikationen melden. Nicht in Ansätzen.
B Dass der Roman aus siebenunddreißig Teilstücken bestünde, habe er nicht bemerkt oder störe dieses Zerstückelte ihn nicht?
K Nein, selbst wenn sie recht hätte und der Roman bestünde aus siebenunddreißig verwinkelten Passagen, würde er das als ein Zeichen von Reichhaltigkeit verstehen. Als was denn sonst?
B Bei ihm könne ein Roman anscheinend so purzelschräg gebaut sein, wie er wolle, solange auf dem Textkonvolut „Roman“ stünde, halte er in liebender Treue zu dem Buch.
K Genau. Ein Roman böte Herberge für vieles. Das mache die Gattung in ihrem Kern und ihren Reiz aus.
B Auch Kultur- und Liebesgeschichte im Doppelmix? Er solle doch nur an den Titel des Buches denken: Pfaueninsel. Das klinge nach etwas Umfassendem. Und dann küsst ein dreizehnjähriger Baldgärtner ein Mädchen, das ewig eine Kleinwüchsige bleiben wird, und peng: eine Liebesgeschichte, garniert mit hübsch in das Liebesdrama hineingebauten Blockaden, nimmt ihren Lauf. Sei das miteinander zu vereinbaren?
K Was bei ihr hart knirschende Unvereinbarkeitsgefühle auslöse, wecke bei ihm Empfindungen von zart summender Stimmigkeit. Ohne das Projekt „Pfaueninsel“, dort einen neuen Garten mit exotischen Pflanzen und Tieren anlegen zu lassen, gäbe es keine Liebesgeschichte. In der protegierten Laborwelt eines Experiments konnten sich die Zwergin Maria und der Sohn des Hofgärtners treffen. Das Erzeugte und Künstliche helfe dieser Liebe. Die Pfaueninsel als ein vom Preußenkönig Friedrich Wilhelm II. geschaffene Anlage beeinflusse das Geschehen, sie trete in Aktion, handele.
B „Handelnde Inseln“, ihr Albtraum in diesem Bücherherbst. Die Insel Hiddensee hätte Lutz Seiler bereits den Deutschen Buchpreis zugespült, und jetzt auch noch Thomas Hettche mit der Pfaueninsel. Sie, also B., sei auf Amrum aufgewachsen und hätte nie mitbekommen, dass Amrum gehandelt habe. Ein psychoseverhinderndes Glück, müsse sie sagen. Außerdem möge sie Geschichten nicht, die im 19. Jahrhundert vielleicht eine Handvoll Menschen bewegen mochten, davor und danach aber niemanden mehr. Was auf der Pfaueninsel damals geschehen sei, gehöre zum historisch Abgelebten und heute allenfalls pittoresk Anmutenden. Erzählerisch ein unergiebiger Stoff.
K Literarisch sei es sehr ergiebig, was Thomas Hettche mache! Er schaffe einen Sinn für Geschichte. Dafür, dass wir auch heute mit Projekten befasst sind, deren Wichtigkeit blass werde und die bald von anderen abgelöst würden.
B Aber dann könne der Erzähler auch im Sand der ägyptischen Wüste wühlen.
K Ja, klar. Wenn er in historisch ausreichend abgelagertem Sand grabe.
B Oder ein bisschen nach Syrien fahren und dort nach verschütteten Säulen suchen.
K Aber Hettche sei nicht nach Syrien gereist, sondern habe sich allenfalls ein Ticket der Berliner Verkehrsbetriebe gekauft und sei zur Pfaueninsel gefahren. Dieser Tat wohne eine nicht zu erschütternde Autorität inne.
B Und dort habe er dann alles rasend interessant gefunden.
K Exakt, und habe dort Gefundenes und Erfundenes in seinen Roman hineingearbeitet, eben, was er für seinen Roman für passend hielt. Aus Länge und Ziel der Reise dürfe kein literarischer Qualitätszusammenhang konstruiert werden.
B Vielleicht aber hätte er zu Hause bleiben und auch auf die Dienste von Berliner Verkehrsgesellschaften und selbst seinem Fahrrad verzichten sollen. Eine unglückliche Liebesgeschichte zwischen einer kleinen, verwachsenen Frau und einem hünenhaft in die Höhe und Breite geschossenen Mann hätte er auch im Berliner Stadtteil Schöneberg unter den Bedingungen unserer Jetztzeit schreiben können. Dazu hätte es kein Palmenhaus und keine historisch knackende Zentralheizung gebraucht.
K Weil es der Autor so wollte. Er könne auch sagen, ihm hätte es besser gefallen, wenn Hettche Ligurien als Schauplatz gewählt und die Liebesgeschichte im Urlaub dieser beiden Menschen verlegt hätte. Habe er aber nicht. Deshalb spiele sein Roman nicht in Ligurien und genausowenig in Schöneberg. Aber „Urlaub“ sei ein gutes Stichwort. Dieses Paar habe es leichter, da es sich in einer privilegierteren Situation zu lieben lerne. Was sozial erlaubt sei und was auch für diese beiden als verboten gelte – diese Normen setzten sich später durch. Er könne also auf das Außergewöhnliche dieser Liebe besser eingehen – das mache die Substanz seines Romans aus.
B Das sage der Kritiker K.
K Wer sonst solle das feststellen? Und falls sie ihm indirekt sagen wolle, Thomas Hettche fehle es an Leichtigkeit im Erzählen, dann erwidere er: gleichgültig welchen Schauplatz er wähle und welche Figuren er aussuche, Thomas Hettches Romane würden immer komplexer gebaut und mit Komplikationen durchsetzt sein, die Seitenpfade eröffnen. Für eine gut durchgebürstete Roman-Nummer von 180 Seiten sei er im Moment noch nicht zu haben.
B Dann würde er dem Autor auch Kränze voller Lob flechten, wenn er über das Ende seines Romans weiter- und weitererzähle. Seine Maria habe ja ein langes Leben gehabt. Für einen Romancier, so viel verstünde sie, sei das zum Verzweifeln
K Sie meine die Geschichte mit dem Koch, und dass Maria den Koch in Berlin besuche, aber wieder zurückfahre und nicht bei dem Koch bliebe? Maria könne sich von der Insel nicht abkehren. Das stünde doch alles im Buch. Aber bevor er jetzt den Roman nacherzähle, gehe ihm eine andere Frage durch den Kopf: Was könne sie an Thomas Hettche eigentlich nicht ausstehen?
B An Hettche störe sie nichts. Solide im Erzählen, etwas vergrübelt in der Durchführung, mit Hang zum sexuell Obsessiven – das sei schon okay. Sie widersetze sich einem Automatismus. Es gäbe einen festen Kreis von Autoren, die, wann immer ein Buch von einem aus dieser Gruppe erschiene, auf den besten Plätzen des Feuilletons rezensiert, bei der Vergabe von literarischen Preisen bevorzugt wahrgenommen und mit Einladungen überhäuft würden. Thomas Hettche gehöre zu diesen Autoren. Ob das jeweilige Buch das rechtfertige, darüber kein Wort. Feiern sei angesagt, allerdings so viel Journalistin sei sie, dass sie sich dabei nicht wohl fühle.
K Er sei froh über Autoren wie Thomas Hettche. Von einem Autor dieser Statur Bücher auf gleichbleibend hohem Niveau erwarten zu dürfen, mache ihn froh. Und ein gelungenes Buch als gelungen zu feiern, damit habe er keine Mühe.
B Das meine sie: Schön und still säßen dann die Rezensenten in ihren tiefen Sesseln und seien erfüllt von Überlegungen, wie sie am besten loben könnten, was sie läsen. Ob das Buch dies hergäbe, sei nicht die Frage. Am milde lodernden Vertrauen in den Autor würden sie sich wärmen und lieber noch tiefer in ihren Sessel rutschen, als sich einem zugigen Für und Wider stellen.
K Sie läse Romane wohl nur in zerschlissenen Zügen und auf lärmigen Perrons und werde dort vor lauter Frösteln und Unbehagen derart starr, dass sie erarbeitete Größe nicht mehr anerkennen könne. Wenn er Rezensionen auf den Bahnhöfen des Landes entwerfen müsste, würde er vermutlich auch bloß noch um sich schlagen. Aber eines wolle er, bevor sie in den nächste Tunnel jagten, zu Thomas Hettches Gunsten noch sagen. Ob sie eine Liebe kenne, die sich von gesellschaftlichen Konventionen nicht zähmen lasse? Von solchen Lieben erzähle er in seinen Romanen, und von der Attraktivität des Andersartigen. In seinem neuesten Roman stünde dafür die kleinwüchsige Frau. Ihre unerhörte Liebe und das Destruktive, das diese Liebe auslöse, beschreibe er. Wenn das keine Leistung sei!
B Jaja, sie glaube ihm ja, dass er sich brav prüfe, ob er gut finden dürfe, was er gut fände.
K Gut fände, was gut sei!
B Bemerkenswert fände sie, dass die Liebhaber von Geschichten, die das Andere hochhielten, die große Differenz, höchst empfindlich auf Widerspruch reagierten.
K Über Kritik und Widerspruch freue sich doch niemand. Auch ein Rezensent stöhne nicht vor Vergnügen auf, wenn er kritisiert werde und Widerspruch ertragen müsse.
B Bald erkläre sie ihm noch, wann ein Schaffner als Schaffner bezeichnet werden dürfe, und wie man sich fühle, wenn man es geschafft habe, einen Schaffner als Schaffner bezeichnet zu haben. Sie wolle es aber gut sein lassen, und er solle sich bitte nicht über sie ärgern.
K Er lege jetzt auf und schreibe.
B Sie lese und sende.
K Er wolle sie überzeugen.
B Darum solle er sich mit seinem nächsten Vorschlag bemühen.
K Dann schlage er gleich Karen Duves neues Buch Warum die Sache schiefgeht: Wie Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen uns um die Zukunft bringen vor.
B Sie habe es befürchtet, jetzt sei er verschnupft. Aber Duves Buch passe zu ihm. So viel schräge Rechtschaffenheit auf einmal. Demnächst würde ein Schriftsteller wahrscheinlich ein Buch schreiben, warum wir alle an Flüssen leben und in Häusern wohnen müssten, die nicht höher als vier Stockwerke sind.
K Einen Fluss gäbe es in der Stadt, in der er lebe, nicht, aber er wohne im vierten Stock und darüber sei ein schönes solides Dach aus vertrauenerweckend roh behauenem Holz errichtet.
B Sie gäbe es auf.
K Und er wünsche ein gnädiges Funkloch herbei … Hallo, hallo.