Als vor vier Jahren der dritte Band von Jean-Philippe Toussaints Romanzyklus um Marie erschien, war mancher Rezensent sicher, das ist das Ende. Dort und da war ein Aufatmen zu spüren, aber grosso modo überschlug sich die Kritik vor Begeisterung; nicht anders als in Frankreich, wo der 1957 in Brüssel geborene Autor vom Geheimtipp inzwischen zum Bestseller-Autor geworden war.
Das Lob war überschwänglich, und es strich Qualitäten hervor, die man kannte, wenn man seine ersten Bücher gelesen hatte: Das Badezimmer, das ihn 1985 (und 1987 auch hierzulande) mit einem Schlag berühmt (und eben zum Geheimtipp) machte, das wunderbare Monsieur (1986, dt. 1989), Der Photoapparat (1988, dt. 1991).
Man fühlte sich an große Namen erinnert, sagen wir Beckett oder Kafka, und man hatte nicht sofort den Verdacht, man tue dem Autor damit Unrecht. Dann kam Marie Madeleine Marguerite de Montalte, die weltläufige, extravagante Modeschöpferin, exaltiert genug, dass man sie für eine Künstlerin halten muss, und sie ist seither auch nicht wieder verschwunden. Leider.
Teilnahmslose Männer
In einem blieb sich Toussaint gleich: Die Helden seiner ersten Romane sind wie der Erzähler der Tetralogie um Marie Männer, die das, was um sie und mit ihnen geschieht, mit provozierender Teilnahmslosigkeit beobachten, die sich ungern bemerkbar machen und lieber an irgendwelchen Fenstern stehen (mit Vorliebe, wenn es draußen regnet oder Nacht ist), die mit einem entschiedenen Hang zur gepflegten Langeweile signalisieren: „I would prefer not to“, die sich ohne Parole verweigern, die sich aufraffen müssen, um etwas zu tun, das sie dann ohne erkennbare Motivation tun, die stundenlang neben dem Telefon stehen und warten, bis es läutet.
Sie sind namenlos und erinnern vielleicht auch deshalb mühelos an Oblomow und Bartleby und wie sie alle heißen. Was in Toussaints Romanen passiert, passiert wie beiläufig und wird auch in aufreizender Beiläufigkeit erzählt. Sie sind auf einen melancholisch-müden Grundton gestimmt, der – und das ist die hohe Kunst Toussaints – eine Spannung erzeugt, die sich in Gelächter entlädt, weil sie sich gerade in ihrem Unbeteiligtsein oft in absurde Situationen verstricken.
Das ist nicht das Holz, aus dem Weiberhelden oder Beziehungsmenschen geschnitzt sind, und das macht es nicht einfacher, wenn sie lieben. Die mangelnde Entschiedenheit zwingt zu einem Spiel, in dem sich der Liebende in schwärmerischer Anbetung zeigt und verbirgt zugleich; als Motto leiht sich Toussaint nicht von ungefähr einen Satz Dantes, der verrät, wo die Latte liegt: „Von ihr in einer Weise sprechen, wie noch keiner je gesprochen.“
Dieses Wechselspiel von sehen und zeigen, von suchen und sich verhüllen inszeniert Toussaint auch in Nackt. In der Eingangsszene sehen wir, wie Marie ein Model in einem Kleid aus Honig von einem Schwarm Bienen verfolgt über den Laufsteg schickt; das geht nicht nur wegen der Bienen schief, sondern auch deshalb, weil der Erzähler das, was man sieht (eben das, was sich verhüllt), mit einem schwer verdaulichen Geschwurbel vermeintlich tiefsinniger Einsichten über das Wesen der Nacktheit, der Kunst, des Lebens und sonst was begleitet.
Dauerregen auf Elba
Es ist eine der vielen emblematischen Szenen des Buches, das in der Hauptsache von Szenen lebt, die dazu neigen, sich zu Bildern zu verfestigen. Ob wir der nackten Marie (mit oder ohne Sonnenhut) „durch das Gezweig des kleinen Gartens, das in einer leichten Brise erschauerte“, beim Gießen zusehen oder ob uns bei Dauerregen auf Elba der klebrig-süßliche Geruch von verbrannter Schokolade verfolgt, diese Bilder sind jenseits jeden guten Geschmacks symbolisch so fetthaltig, dass man sich den Magen verdirbt.
Wer seinem Geschmack misstraut, darf angesichts der gedanklichen und sprachlichen Peinlichkeiten gern an seinem Verstand zweifeln: „Denn wenn das Gefunkel ihrer Pailetten manchmal auch beim ersten Blick auf Marie blendete, hieße es sie falsch verstehen, wenn man sie auf diesen Schaum mondäner Lebensweise einschränkte, der in ihrem Kielwasser brodelte.“ Eine Kostprobe, vor denen es nur so brodelt.
Mit Humor lässt sich bekanntlich vieles besser ertragen. Toussaint zeigt, dass er durchaus immer noch einen Blick für das komische Potenzial einer Szene hat. Einmal lässt er seinen Helden über eine Feuerleiter das Dach eines Museums erklimmen, von wo aus er durch eine Lichtkuppel einen Blick auf Marie zu erhaschen versucht. Indes nähert sich ihr von unten der vor Selbstgewissheit strotzende Jean-Christophe de G. mit einer Entschlossenheit, die weder Hindernis noch Widerstand kennt.
Dass er sein Ziel zunächst verfehlt, ist ein schöner Einfall, nicht nur, weil wir es ihm gönnen, sondern weil es vorausweist auf das, was im weiteren Verlauf des Buches noch passiert: Marie und der Erzähler sind zurück in Paris, getrennt, zwei Monate lang läutet das Telefon nicht, dann bittet sie ihn, sie zu einem Begräbnis nach Elba zu begleiten.
Es regnet auch dort, eine Schokoladenfabrik brennt, und am Ende eröffnet sie ihm ein Geheimnis. Schön, wenn es das Ende wäre, man würde es nicht nur den beiden wünschen.
Bis wir es wissen, können wir, um wieder abzumagern, auf Anraten Robert Musils ein Integral auflösen. Und vielleicht darauf hoffen, dass Toussaints Monsieur wieder neu aufgelegt wird und die Leser findet, die Nackt nicht verdient.