„Pynchon gehört für mich zu den Spaß-Autoren“

Andreas Puff-Trojan im Gespräch mit Dirk van Gunsteren, der Thomas Pynchons eben erschienenen Roman Bleeding Edge ins Deutsche übersetzt hat.

Online seit: 3. Februar 2016

Mit dem Roman Bleeding Edge ist der amerikanische Kult-Autor Thomas Pynchon beinahe in der Gegenwart angekommen: Internet-Boom, Immobilien-Spekulationen, dubiose Machenschaften von Geheimdiensten, Verschwörungstheorien rund um 9/11. Doch Pynchon ist klug genug, um nicht als Literaturkassandra aufzutreten. Er legt sich nicht fest, beschreibt aber doch den Ist-Zustand mit kriminalistischem Scharfsinn: Wer an festen Werten wie Familie, Religion und Integrität festhält, der muss sich ganz schön abstrampeln, damit nicht die andere, dunkle Seite obsiegt.

Die Romanheldin Maxine Tarnow, ihre Familie und Freunde, bleiben wachsam. Wie der Autor selbst, der im Roman nicht verschweigt, dass er mit den USA von heute gar nicht einverstanden ist. Und trotzdem: Sie alle lieben New York, diese „geheimnisvolle Verdächtige“. Sie bleiben, behaupten sich, auch in der Sprache, die Witz und Esprit hat. All das hat Dirk van Gunsteren großartig ins Deutsche gebracht.

VOLLTEXT Sie sind ja als Übersetzer zum Pynchon-Kenner avanciert. Wie viele Prosaarbeiten Pynchons haben Sie schon übersetzt?

DIRK VAN GUNSTEREN Der erste Pynchon-Roman war Vineland von 1993, dann ging’s 2008 weiter mit Gegen den Tag, den ich zusammen mit Nikolaus Stingl übersetzt habe. Man kann also sagen, es traf mich nicht unvorbereitet.

VOLLTEXT Die Romane von Thomas Pynchon sind ja inhaltlich wie sprachlich hochkomplexe Gebilde. Wie geht man da als Übersetzer ans Werk? Muss man immer ganz neu beginnen oder gibt es da Stilmittel, Erzählverfahren, ja, sprachliche Muster des Autors, denen er in den verschiedenen Texten treu bleibt und die man daher beim Übersetzen auch eher repetitiv wiedergeben kann?

VAN GUNSTEREN Jeder Autor hat seine stilistischen Eigenheiten, die man als Leser – und erst recht als Übersetzer! – mehr oder weniger deutlich als solche wahrnimmt. In Pynchons Fall ist das wohl eher deutlich: lange, mäandernde Sätze mit jeder Menge Information, eine Vorliebe für nachgestellte Präpositionen, der Ersatz von „… sagte er“, „… sagte sie“ durch Verlaufsformen wie „Now listen“, „grabbing his arm …“, „He’ll know“, „taking a guess“ und ähnliches. Das muss man als Übersetzer in irgendeiner Weise nachvollziehen oder es wenigstens versuchen. Bei manchen Elementen ist von vornherein klar, dass sie auf der Strecke bleiben werden, beispielsweise wenn Pynchon mit der erwähnten Regel bricht und „he sez“ schreibt. Die sprachlichen Mittel, die einen Autor charakterisieren, sind vorgegeben, und der berühmte „Ton“, das ist die Summe der zahllosen Mikroentscheidungen – „erneut“ oder „abermals“, „antworten“ oder „entgegnen“, um nur ein paar sehr banale Beispiele zu nennen. All das ergibt sich nach meiner Erfahrung eigentlich von allein. Im Grunde ist es, als würde man seinen Lieblingssong im Radio hören und mitsummen.

VOLLTEXT Pynchons Romane sind äußerst komplex. Da kann man sich kaum vorstellen, dass das Übersetzen ohne Rückfragen an den Autor funktioniert. Haben Sie Kontakt mit Thomas Pynchon?

VAN GUNSTEREN Ja, ich hatte bei allen Übersetzungen Kontakt mit Pynchon, das heißt, ich habe ihm per E-Mail Fragen zum Text gestellt, die er sehr prompt, freundlich und erschöpfend beantwortet hat.

VOLLTEXT Sie haben ihn aber nie persönlich kennengelernt. Finden Sie das schade?

VAN GUNSTEREN Ja und nein. Seine Bücher haben mein Leben bereichert, jedes ist für mich ein eigener Kosmos. Was Pynchon geschrieben hat, steht für sich, und um das zu genießen, muss ich ihn nicht persönlich kennenlernen. Andererseits stelle ich ihn mir als gebildeten, witzigen, geistreichen älteren Herrn mit guten Umgangsformen und einem großen Repertoire schöner Geschichten vor. Und so jemand ist immer eine Bereicherung des Lebens. Vermutlich würden wir über alles Mögliche reden, nur nicht über Bücher.

VOLLTEXT Pynchon, der abwesende Autor, der – fast! – gesichtslose, geschichtslose Autor. Da entstehen zwangsweise einige Mythen. Wie hat man sich Ihrer Meinung nach Thomas Pynchon vorzustellen?

VAN GUNSTEREN Sicher als jemanden, der nicht in die Interview-Mühle geraten will. Die angebliche Unsichtbarkeit ist keine Mystifikation, sondern eine erfolgreiche Strategie mit dem Ziel, als berühmter Romanautor ein unbehelligtes Leben zu führen.

VOLLTEXT Es gibt die Website pynchonwiki.com. Kann man damit als Übersetzer etwas anfangen?

VAN GUNSTEREN Pynchonwiki ist stellenweise sehr hilfreich. Es steht zwar nichts drin, das man nicht auch anderswo im Internet finden könnte, aber sie ist insofern segensreich, als sie die Recherchewege oftmals verkürzt. Wer tiefer in den Pynchon-Kosmos einsteigen will, wird dort nützliche Informationen finden, allerdings auch Listen mit zitierten Filmen sowie Erörterungen, welche Rückschlüsse auf die Person des Autors diese Auswahl wohl zulässt.

VOLLTEXT Wie hat sich die Übersetzungsarbeit am Roman Bleeding Edge konkret gestaltet? Was war neu, irgendwie anders als bei den anderen Romanen?

VAN GUNSTEREN Pynchon zu übersetzen ist nicht spektakulärer als irgendwen anders zu übersetzen: Man fängt an und kniet sich rein, und irgendwann ist man fertig und freut sich. Dazwischen liegen meist viel Arbeit und – wenn alles gut geht – eine Menge Spaß. Pynchon gehört für mich zu den Spaß-Autoren.

VOLLTEXT Schon bei Erscheinen der englischen Ausgabe von Bleeding Edge hat die deutsche Literaturkritik den Roman zwar gelobt, aber in Maßen. Dabei ist dieser Roman Pynchons hoch politisch: 9/11, die Internet-Blase, Geheimdienstaktivitäten etc. Hat da die Kritik hierzulande etwas nicht wahrnehmen wollen – so nach der Devise: die USA ist doch besser als Pynchon sie uns zeigt?

VAN GUNSTEREN Was „die Kritik“ ausblendet – tja, wer weiß das schon? Ich habe nicht den Eindruck, dass die Rezeption von Bleeding Edge hierzulande politisch oder weltanschaulich motiviert ist. Einige Rezensenten waren vielleicht ein wenig enttäuscht, weil sie sich von Pynchon einen neuen Meilenstein der Literatur erhofft hatten, ein Buch, so wuchtig und zertrümmernd wie Die Enden der Parabel. Diese Hoffnung kann Bleeding Edge tatsächlich nicht erfüllen, dafür ist es aber eines seiner zugänglichsten Bücher, weil er seine Botschaft in einen zügigen Quasi-Krimi-Plot verpackt hat. Ich finde das reizvoll, aber mancher hält das vielleicht für banal.

VOLLTEXT Thomas Pynchon lebt seit rund fünfundzwanzig Jahren in Manhattan. Sein neuer Roman ist auch eine etwas wehmütige Zeitreise zu Orten, Lokalen und öffentlichen Plätzen von „Big Apple“, die es heute nicht mehr gibt. Nicht nur geldgeile Internet-Yuppies beherrschen das Parkett, sondern auch mächtige Immobilien-Haie, die, so Pynchon, Bürgermeister Giuliani ungehindert gewähren lässt. New York ist Mammon-City. Entpuppt sich Pynchon hier als pessimistischer Melancholiker?

VAN GUNSTEREN New York ist seit etwa 150 Jahren „Mammon-City“, die „Hauptstadt des Imperiums“ – denken Sie an Manhattan Transfer von John Dos Passos. Insofern ist Pynchons Sicht der Dinge nicht unbedingt bahnbrechend originell. Neu ist bei ihm eigentlich nur die ungezügelte Wut und Verachtung, die er über seine Hassobjekte – etwa Giuliani – ausschüttet. Vielleicht gehört er zu den seltenen Menschen, die mit zunehmendem Alter nicht abgeklärter, sondern zorniger werden. Ich würde übrigens auch nicht sagen, dass Pynchon sich als pessimistischer Melancholiker „entpuppt“ – das war er ja immer schon. Angesichts des allgemeinen Zustands der Welt ist man geneigt, ihm recht zu geben.

VOLLTEXT Weswegen hat man bei der Übersetzung den Originaltitel Bleeding Edge belassen? Leser bei uns fangen erst einmal damit wenig an.

VAN GUNSTEREN „Bleeding Edge“ evoziert ja eine Assoziation: die blutverschmierte Klinge, die soeben eine Wunde geschlagen hat, gewissermaßen die Kante, die den Ort markiert, an dem der Schmerz beginnt. Darüber hinaus ist es aber auch die Steigerung des existierenden Begriffs „Cutting Edge“, mit dem man eine Technologie bezeichnet, die so fortgeschritten ist, dass sie Schwierigkeiten quasi durchschneidet wie Alexander den Gordischen Knoten. In welche deutschen Worte hätte man das gießen sollen?

VOLLTEXT Im Zentrum der Geschichte steht diesmal eine Frau: Maxine Tarnow. Sie hat eine kleine Betrugsermittlungsagentur und trägt eine Beretta in ihrer Handtasche. Und sie ist eine liebevolle Mutter. Hat Sie das verblüfft, dass Pynchon eine taffe Frau als Romanheldin gewählt hat?

VAN GUNSTEREN Ich verrate Ihnen jetzt ein Geheimnis: Maxine Tarnow ist gar keine echte Frau. Zum einen existiert sie nur auf dem Papier, zum anderen ist sie eine Männerfantasie. Oder kennen Sie eine Frau wie Maxine? Aber zur Frage: Nein, verblüfft hat es mich nicht, denn gestandene, patente, nervenstarke, intelligente Frauen sind bei Pynchon nicht gerade selten.

VOLLTEXT Im Roman kommt etwas zum Tragen, das man – ich glaube, Oscar Wilde war es –  „wise-cracking“ nennt. Also der Sprachwitz und die Sprachkraft werden als eine Art Waffe im Dialog verwendet. In Bleeding Edge gibt es eine ganze Menge davon. Das ist sicherlich enorm schwierig zu übersetzen. Haben Sie vielleicht ein Beispiel parat?

VAN GUNSTEREN Pynchon ist der ungekrönte König der Wortspiele – was nicht heißen soll, dass sie allesamt unglaublich gelungen und erhellend sind, manche sind auch einfach bloß albern. Aber jedes Wortspiel, ob gelungen oder nicht, stellt den Übersetzer natürlich vor besondere Anforderungen – man will es eben nach Möglichkeit retten. Das ist vielleicht nicht immer ganz adäquat gelungen. Etwa wenn ein Finanzbeamter über einen Steuerhinterzieher sagt: „His ass is grass and the Finance lawn mower’s about to make its pass“. Und in der Übersetzung steht: „Sein Arsch liegt jetzt tief im Dreck, und unser Besen kehrt ihn weg.“ Das meiste jedoch ist, glaube ich, ganz gut wiedergegeben. An dem Namen des Stripclubs Joie de Beavre habe ich sehr lange herumgeknobelt. Das Knifflige dabei ist die Kombination aus einem Reim auf Joie de vivre und der Konnotation des Wortes „beaver“, das im Slang auch das weibliche Geschlechtsorgan bezeichnet – mit anderen Worten: ungezügelte, unschuldige Lebenslust, von der Leine gelassen in einem schmierigen Stripclub. In der deutschen Fassung ist aus dem hierzulande wirklich sehr unschuldigen Biber ein spanischer Señor mit Sombrero und schmalem Oberlippenbärtchen geworden, und das Etablissement heißt jetzt La Siraña den Sevilla. Und die zahlreich eingestreuten stupid songs waren sowieso ein Genuss …

VOLLTEXT Eine Person im Roman, ein hochprofessioneller Riecher, der mit seinem Riechorgan sämtliche Düfte identifizieren kann, reist tatsächlich nach München. Denn er will eines beweisen: Adolf Hitler und John F. Kennedy benutzten dasselbe Parfum – 4711! Ist das ein Gag von Pynchon oder stammt er aus Ihrer Feder?

VAN GUNSTEREN Nein, auch dieser – tiefsinnige? – Witz stammt selbstverständlich von Pynchon. Wie käme ich dazu, ihm was unterzujubeln.

VOLLTEXT Was waren die Haupthürden, die Sie beim Übersetzen von Bleeding Edge nehmen mussten?

VAN GUNSTEREN Verschlungene Syntax, Gedankensprünge, Wortspiele, IT-Terminologie, der ständige Wechsel zwischen Close-up und Totale, zwischen extremer Knappheit und lyrischem Schweifen … Aber wer spricht von Hürden? Jeder Tag war ein Abenteuer!

VOLLTEXT March, eine enge Freundin von Maxine Tarnow, ist eine echte Verfechterin von Verschwörungstheorien. Gerade bei den Ereignissen von 9/11 kommt das im Roman zum Tragen. Doch der Erzähler – und damit ein Stück weit auch der Autor – hält sich zurück, will, so scheint es, sich nicht zu weit vorwagen. Hat sich da Pynchon gesagt: Halt, da ist die Grenze der Fantasie, keinen Schritt weiter!?

VAN GUNSTEREN Ich glaube nicht, dass Pynchon so etwas sagen oder denken würde. Warum sonst ist er denn Autor? Aber das ist Spekulation. Warum hat er dies und das geschrieben? Keine Ahnung. Oder vielmehr: Für mein Verständnis des Buches ist das irrelevant. Die Bedrohung ist bei Pynchon so allgemein, dass 9/11 im Grunde nur eine Katastrophe von vielen ist. Es gibt Leute, die Macht haben und noch mehr davon wollen, und ihre Gegenspieler, Pynchons „Helden“, sind stets irgendwelche unangepassten Menschen von anarchischem Wesen, die sich nicht ins Raster fügen wollen. Das ist der eigentliche Konflikt, und darum ist die Frage, wer für 9/11 verantwortlich war – al-Qaida oder die CIA –  letztlich unbedeutend, denn in diesem Koordinatensystem stehen beide auf der dunklen Seite der Macht. Auf jeden Fall ist es wesentlich reizvoller, die Dinge in der Schwebe zu belassen, als den Leser mit der Keule einer fix und fertigen Theorie zu erschlagen.

 

Dirk van Gunsteren, geboren 1953 in Düsseldorf, lebt als Übersetzer für englische und niederländische Literatur in München. Er übertrug u. a. Werke von Philip Roth, T. C. Boyle und Jonathan Safran Foer ins Deutsche.

Andreas Puff-Trojan, geboren 1960, ist Privatdozent für Literaturwissenschaft und Literaturkritiker in München.

Quelle: VOLLTEXT 4/2014 (3. Dezember 2014)
Online seit: 3. Februar 2016

Thomas Pynchon: Bleeding Edge.
Roman. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren.
Rowohlt,  Reinbek 2014.
605 Seiten, € 29,95 (D) / € 30,80 (A).