Für nicht wenige Literaturkundige, zumal im angloamerikanischen Bereich, besteht kaum ein Zweifel: W.G. Sebald wird als einer der wichtigsten, womöglich sogar als der bedeutendste Schriftsteller deutscher Sprache im späten 20. Jahrhundert in die Literaturgeschichte eingehen. Das mag nun eintreffen oder auch nicht. Ein deutlicher Indikator dafür ist, neben den zahlreichen Epigonen, sein Status als literarischer Referenz- und Vergleichspunkt. Das also, was einmal Kafka und später oftmals Thomas Bernhard war. Heute gilt Sebald als Maß, an dem Autoren gemessen werden. Und zwar sowohl weltweit als auch unabhängig davon, ob der betreffende Autor Sebald überhaupt gelesen hat.
Hinzu kommt der erstaunlich große Leserkreis außerhalb der professionellen Zirkel von Literaturinteressierten. Darunter wiederum finden sich nicht wenige, die von einer nachgerade fanatischen Anhängerschaft ergriffen sind, wie man das bislang nur von den kollektiv dechiffrierenden Adepten Arno Schmidts kannte. Trifft man als jemand, der wie ich mit Sebald persönlich bekannt war, auf solche Sebald-Gefolgsleute, kommt man sich geradezu wie einer der Apostel vor, um den sich wissbegierige Frühchristen ehrfürchtig scharen.
Flucht aus dem abstumpfenden Universitätsalltag
Der stets bescheidene Meister selbst wäre darüber sicherlich mehr als erstaunt gewesen, denn sein Geschreibsel – wie Sebald seine Texte gerne abwertete – war ihm zunächst vor allem Flucht aus dem geistesabstumpfenden Universitätsalltag. Worum es ihm stets ging – sowohl im literaturkritischen wie literarischen Modus – war anzuschreiben gegen eine deutsche Nachkriegsliteratur, die ihm in vielfacher Hinsicht suspekt und ungenügend erschien.
An den deutschen Autoren, die grob gesprochen ins Umfeld der Gruppe 47 gehören, hat er sich sein ganzes intellektuelles Leben lang abgearbeitet. Dass er es dann tatsächlich schaffte, die teils auch tief verachteten Schriftsteller sogar zu überflügeln mit seinen eigenen Büchern, wäre ihm im Traum nicht eingefallen. Er wollte es immer nur anders, besser machen.
Dass der Schriftsteller Sebald im eigentlichen Hauptberuf Germanist war, stellte nie ein Geheimnis dar. Als solchen wahrgenommen hat ihn die germanistische Fachwissenschaft viele Jahre lang freilich kaum. Der mit 22 Jahren nach England entlaufene Auslandsgermanist vermochte sich aus peripherer Position in Deutschland kaum Gehör zu verschaffen.
Deswegen wählte er Provokation wie Konfrontation als Weg: Exemplarisch zu beobachten war das, als 1992 seine Polemik gegen Alfred Andersch hohe Wellen schlug. Ende der Neunziger folgte die von ihm initiierte, weitreichende Debatte über Luftkrieg und Literatur, welche nicht ohne Folgen blieb für unser Verständnis der von Sebald beharrlich monierten Versäumnisse der Nachkriegsliteratur. Die erst posthum erfolgte Publikation seiner Streitschrift gegen den Holocaust-Überlebenden Jurek Becker wiederum erstaunte nicht nur jene, die den Verfasser von Austerlitz und Die Ausgewanderten für ihre Zwecke als Holocaust-Autor zu vereinnahmen suchten.
Die literarischen Texte erscheinen als Sekundärwerk
Erst in letzter Zeit begann man ernsthaft, Sebalds literarische Texte in Verbindung mit den literaturkritischen Schriften zu lesen. Das repräsentiert immerhin einen Schritt in die richtige Richtung. Der eigentliche Erkenntnisfortschritt steht aber noch aus: Nämlich vollends anzuerkennen, dass Sebald sein ganzes Leben lang und in erster Linie ein passionierter Verfasser literaturkritischer Schriften war, weshalb die literarischen Texte vor diesem Hintergrund eher als Sekundärwerk erscheinen, in dem er Erkenntnisse umsetzte und Fragestellungen exponierte, die ihn schon seit Jahrzehnten in seinen akademischen Qualifikationsarbeiten wie essayistischen Publikationen umgetrieben hatten.
So erweist sich die von 1970 bis 1973 entstandene Doktorarbeit über Alfred Döblin als wahre Fundgrube dafür, wie man es als Schriftsteller – nach Meinung des Nachwuchsgermanisten – gerade nicht machen sollte. Am prominentesten zeigt sich das in der Darstellung von überbordender Gewalt. Döblin schildert fürchterliche Grausamkeiten im Detail, weil er hoffte, dadurch eine abschreckende Wirkung auszuüben; Sebald aber erachtete dies für höchst verwerflich, weil eine solche Strategie auf die Dauer abstumpft und letztendlich der Glorifizierung von Gewalt – wenn auch unwillentlich – Vorschub liefert.
Folglich zog er den Umkehrschluss, dass ein maßloser Gewaltexzess wie der Holocaust eben nicht direkt, sondern nur im Hintergrund, als Anspielung oder in Andeutung, literarisch behandelt werden kann. Sebalds vielgerühmte „tangentielle“ Weise, über das Grauen des 20. Jahrhunderts zu schreiben, hat seine Wurzeln hier und nirgendwo anders.
In seiner bis Ende der 1960er-Jahre mehrfach überarbeiteten Magisterarbeit über den deutsch-jüdischen Dramatiker Carl Sternheim wiederum findet sich jenes provokative Modell, das direkt bis zu den Polemiken gegen Andersch, Becker et. al. reicht, nämlich starrsinnig gegen die vorherrschende Lehrmeinung anzukämpfen (und dies stets besonders vehement, wenn es sich um jüdischstämmige Autoren handelt): Sternheim war für Sebald nicht der progressive Kritiker der wilhelminischen Gesellschaft, als welcher er weiland galt, sondern ein gescheiterer Opportunist, der sich dem chauvinistisch-antisemitischen Zeitgeist anpasste.
Döblin als Wegbereiter das Nationalsozialismus
Döblin wiederum erschien ihm wegen seiner Bekehrung zum Christentum als Verräter am revolutionären Geist des Judentums und aufgrund der gewaltverherrlichenden Texte als Wegbereiter des Nationalsozialismus. Jurek Becker nun attestiert Sebald ein aus der Verfolgung resultierendes „Erinnerungsembargo“, das die Person Becker zwar als traumatisiertes Opfer des Faschismus ausweist, den Autor Becker aber bei der literarischen (Erinnerungs-)Arbeit behindert.
In seinem Getto-Roman Jakob der Lügner vermochte er, aus Sebalds Sichtweise, folglich nur Holocaust-Kitsch zu produzieren. Andersch schließlich taugt nicht zur Identifikationsfigur, da er sich aufgrund seiner moralischen wie politischen Vergehen im Dritten Reich als kompromittierter Heuchler und eitler Karrierist entpuppte.
Ähnlich verhält es sich für Sebald last not least bei solch führenden Autoren im Umfeld der Gruppe 47 wie Günter Grass, Günter Eich oder Hans Werner Richter, die aufgrund ähnlicher Kompromittiertheit am aufklärerischen Anspruch versagen, den Sebald an die Nachkriegsliteratur herantrug, nämlich den Nachgeborenen und Unbeteiligten ein wahrhaftiges Bild des im Nationalsozialismus Geschehenen zu liefern.
Literaturwissenschaft hat Sebald angesichts solch dezidiert einseitiger Positionen nie betrieben. Nicht nur in den beiden Qualifikationsarbeiten haut er mit dem Hammer der Polemik stets feste druff, er unterschlägt oder verdreht Zitate und erfindet – wo nötig – auch mal eine Fußnote etc. Grundsätzlich kennt er nur zwei Zugänge zur Literatur: entweder radikal antagonistisch oder extrem empathisch, affektgeladene Ablehnung oder totale Identifikation.
Insofern fährt er – Walter Benjamins Der destruktive Charakter lässt hier grüßen – wie ein Bulldozer durch die Literaturgeschichte, um die falschen Idole der Germanistik aus dem Weg zu räumen und Platz für Neues zu schaffen, das aus dem Kanon verbannt ist: die lyrischen Notate des schizophrenen Anstaltspatienten Ernst Herbeck etwa (dem er dann ein literarisches Denkmal setzte in Schwindel. Gefühle.) oder der écriture brut des Autodidakten und Multitalents Herbert Achternbusch.
Ausnahmslos Totalverrisse
Gegen seine Disziplin hegte Sebald fast nur Vorurteile und teilte lebenslang pauschale Verdammungen aus. Das beginnt schon als Doktorand, indem er ab den frühen 1970er-Jahren für
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