Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Deuten, rühmen, warnen, unterhalten. Es geht darum, Texte auf Augenhöhe mit dem Autor zu lesen. Sie möglichst von allen Seiten zu betrachten, sie unter die Glasplatte zu legen, zu entschlüsseln, damit zu spielen, zu bewerten. Und das alles in eine möglichst schlüssige, lesbare, anregende Sprache zu bringen – das ist die Aufgabe.
Was sind die größten Herausforderungen/Probleme für die Kritik heute?
Der Andruck. Denn wie viele schreibe auch ich erst, wenn die Druckmaschinen schon laufen. Mit der Zeit, die einem bleibt, bis etwa halb fünf, und dem Platz, den man hat, maximal einer Seite, zu jonglieren. Und wie viel fällt dabei unter den Tisch, die Zeilen, die nicht mehr hineinpassen, das tut manchmal weh. Ihre Frage zielt wahrscheinlich auf den gegenwärtigen Zustand der Literaturkritik, die mit dem Buchmarkt in Bedrängnis gekommen ist, Stichworte Internet, Strukturwandel, Bedeutungsverlust etc. Aber ist das wirklich so? Heute zum Beispiel, es ist Donnerstag, schlage ich die Zeitungen auf, und überall sehe ich Rezensionen. Ich komme gar nicht dazu, das alles zu lesen. Und seit Wochen schickt mir der ORF täglich eine Presserundschau zum bevorstehenden Wettbewerb in Klagenfurt.
Spielen literaturwissenschaftliche Theorien eine Rolle für Ihre Tätigkeit als KritikerIn?
Sie spielen eine Rolle, wenn sie sich anwenden lassen. Wenn ich dem Germanisten Moritz Baßler zuhöre, der in einer kleinen Frankfurter Buchhandlung die Verfahren des realistischen Romans von 1850 bis 1950 untersucht, oder lese, dass ein Theoretiker wie Terry Eagleton von after theory spricht.
Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
Ich schätze die, die deuten, rühmen, warnen, unterhalten. Das klappt mal besser, mal schlechter.
Wie viele Bücher muss ein/e KritikerIn gelesen haben, um kompetent urteilen zu können?
Es sind immer mehr, als man gelesen hat. Und es kommt sowieso nicht auf das Wieviel an, sondern auf das Wie.
Wie viele Neuerscheinungen lesen Sie pro Jahr?
Was für eine Frage: Mindestens alle, manche aber nur sehr kurz. Und im Urlaub alle anderen.
Welche AutorInnen haben Sie mit 15 geschätzt?
Schon wieder schätzen, Sie mögen das Wort. Mit 15 habe ich Autoren nicht geschätzt, ich habe sie verschlungen, Camus, Virginia Woolf, Aitmatow, Douglas Adams, mich an ihre Fersen geheftet, mit ihnen gerungen, Poster an die Wand geklebt, mit Lenz im Gepäck durch die Vogesen marschiert, allerdings im Sommer.
Welche AutorInnen schätzen Sie heute?
Schon wieder schätzen? Soll ich vielleicht Frank Schätzing sagen? Als Literaturredakteurin ist es meine Aufgabe, Kunstwerke zu betrachten, nicht Autoren. Das ist Literatur, kein Zoo.
Was lesen Sie, wenn es nicht mit dem Beruf zu tun hat?
Wir alle lesen ständig und alles Mögliche, nicht nur Fragebögen, auch neue Fahrpläne, alte Kursbücher. Oder Schilder, die ich redigieren möchte, oder Straßennamen, die mich an etwas erinnern. Das Schöne ist: Alles lässt sich verwenden.
Haben Sie in Ihrer Laufbahn als KritikerIn je ein Urteil grundlegend revidieren müssen?
Seltsam, diese Frage zum Abschuss Ihres Dekalogs. „Urteil“, „grundlegend“, „revidieren“ – ich bin keine Literatur-Richterin, sondern Kritikerin. Da kommt man mit dem Strafrecht nicht weit.