Fragebogen: Stefan Gmünder

Literaturkritik heute

Online seit: 17. Januar 2016

Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Theoretisch, und nur theoretisch, scheint alles ganz einfach, Literaturkritik soll, so die einschlägigen Fachpublikationen, neben Information, Auswahl und Leser-Orientierung im unübersichtlichen Literaturmarkt vor allem eine plausible und nachvollziehbare, streitbare und begründete Wertung leisten, welche die Kriterien ihrer Wertung gleich mitliefert. Klingt einfach, ist es aber nicht. Gerade in ihrer geschriebenen Ausprägung ist Literaturkritik eine der komplexesten, dafür gemessen am Arbeitsaufwand am schlechtesten bezahlten journalistischen Formen überhaupt, die den Schreibenden fast immer an den Rand des Nervenzusammenbruches bringt. Denn eine Rezension soll eine gut geschriebene Analyse, Kommentar, Bericht, Unterhaltung und Essay zugleich sein. Weiter ist Literaturkritik ein Metier, das sich wie jede Kunstkritik mit dem Unsichtbaren und jenem schwer zu benennenden Geheimnis des Schöpferischen und einer im besten Fall über das Formale hinausreichenden Stimmigkeit auseinanderzusetzen hat. Gerade bei den gelungensten Büchern ist es schwer, genau zu benennen, was sie nun wirklich so gut macht.
Literaturkritik hat heute die primäre Aufgabe, von der inhaltlichen Betrachtung wieder zur ästhetischen Auseinandersetzung mit Werk und Welt zu kommen und sich zu entscheiden, auf welcher Seite sie stehen und welche Positionen sie, nicht nur auf Bücher bezogen, verteidigen will. Das wirft auch die Frage auf, wie bequem sie es sich machen will und ob sie den Mut hat, den steigenden redaktionellen und ökonomischen Sachzwängen standzuhalten. Peter Bichsel stellt sich den Literaturkritiker in seiner Frankfurter Poetikvorlesung als eine Art öffentlichen Mitleser vor. Als einen Einzelnen also, der sich an andere einsame Leser richtet, um ihnen nicht vorzuschreiben, wie man das besprochene Werk zu lesen hat, sondern wie man es – auch – lesen kann. In diesem Sinn, das wird gern vergessen, ist Kritik ein dialogischer Prozess. Mit Kritiken ist es wie mit Büchern, einige sind schlecht, viele mittelmäßig und wenige gut.

Was sind die größten Herausforderungen/Probleme für die Kritik heute?
Zeit: Sie ist knapp. Nicht nur in den Redaktionen. Literatur ist ein Umgehen mit Zeit, und Lesen kostet Zeit. Rezensieren erst recht. Während die wenigen festangestellten Literaturredakteure mit den Mühen immer stärker von Administrations- und Kommunikationsaufgaben, Strukturdiensten und dem Versuch, nur halbwegs in der Fülle der Neuerscheinungen den Überblick zu bewahren, absorbiert werden, kämpfen die sogenannt freien Literaturkritiker, mit Problemen ganz anderer Art. Für eine durchschnittliche Literaturkritik, für die der Rezensent nehmen wir an sechs Stunden Lese- und fünf Stunden Schreibzeit aufgewendet hat, kann er den stolzen Betrag von zirka 150 Euro, oft sind es weniger, entgegennehmen. Noch der verrückteste Überzeugungstäter wird, was den Aufwand betrifft, bei diesen Rahmenbedingungen die Kirche im Dorf lassen, oder den Hengst im Stall. Der Zeitmangel bei Redakteuren und Freien schlägt auf die Qualität.
Raum: In den meisten Printmedien wird klassischer Literaturkritik in den letzten Jahren eher weniger denn mehr Platz eingeräumt. Das führt zu einer fatalen Tendenz zu Kurz- und Kürzestrezensionen.
Medienwandel: Ist insofern kein Problem, als Blogs, Literaturseiten im Netz, Rezensionsforen und virtuelle Literaturcafés die Szene bereichern. Jeder findet, was er möchte, die Polyphonie steigt, die Deutungsmacht der Feuilletons sinkt.
Psychologie: Hat man einen Autor positiv besprochen, ist man für ihn der beste Kritiker sagen wir seit Lessing. Im entgegengesetzten Fall ist man, um es mit Heine zu sagen, ein Eunuch, der es wagt, das missratene Kind eines Erzeugers zu tadeln.
Betrieb: Zunehmend wird sichtbar, dass viele Jurys, die Literatur fördern und finanzieren, mit immer denselben Kritikern besetzt werden. Das hat auch mit dem symbolischen Kapital zu tun, das Kritiker, zumal wenn sie im Fernsehen auftreten oder sonstwie öffentlich präsent sind, anhäufen. Es bilden sich durch diese Konzentration auf einige wenige Namen Netzwerke und Seilschaften, die zu einer Hermetik des Preis- und Stipendienwesens führen. Immer die gleichen Autoren werden ausgezeichnet oder finanziell unterstützt. Zudem lässt sich die Literaturkritik zunehmend durch eventbasierte Berichterstattung die Agenda diktieren. Preise sind gern genommene Aufhänger, auch und vor allem die wachsende Anzahl mit Longlist, Shortlist und Showdown inszenierten Veranstaltungen. Bleibt die Frage, wer in den Jurys dieser Buchpreise sitzt. Dieselben wie in den anderen Jurys. Natürlich. Das ist ein gewisses Dilemma.

Spielen literaturwissenschaftliche Theorien eine Rolle für Ihre Tätigkeit als KritikerIn?
Nein. Natürlich muss man mit dem literaturwissenschaftlichen Sezierbesteck vertraut sein und es zu verwenden wissen, das versteht sich von selbst. Wichtiger scheint mir eine gute Kenntnis der Literaturgeschichte zu sein, vor allem der neueren, die, gerade weil man sich in ihr bewegt, schwer zu fassen ist.

Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
Polgar, auch wenn er vorwiegend Theaterkritiker war, dafür, dass er aus hundert Worten zehn machte und nicht aus hundert tausend. Reich-Ranicki für seine Interpretation von Schillers Räubern auf Youtube, Friedrich Sieburg, weil Sätze für ihn Maßanzüge für Gedanken waren, und Richard Alewyn für Bonmots wie: „Der Schauerroman ist die Abstinenzneurose der alternden Aufklärung“.

Wie viele Bücher muss ein/e KritikerIn gelesen haben, um kompetent urteilen zu können?
Gelesen hat man immer zu wenig. Es kommt wahrscheinlich weniger auf die Menge an als darauf, ob man die richtigen Bücher (es müssen nicht für alle die gleichen sein) in die Hände bekommt, jene also, die einem das Gefühl oder einen Geschmack von wirklich großer Literatur geben. Um kompetent urteilen zu können braucht es, glaube ich, schon eine große Lektüre-Routine.

Wie viele Neuerscheinungen lesen Sie pro Jahr?
Der Beruf bringt es mit sich, dass man vor allem Neuerscheinungen liest, ich nehme an, es sind so zirka 80.

Welche AutorInnen haben Sie mit 15 geschätzt?
Djian, der damals gerade zu publizieren begann (Betty Blue!), Remarque und auch Fallada.

Welche AutorInnen schätzen Sie heute?
Meinen Sie lebende? Ich antworte undiplomatisch und zähle hier die auf, die ich sehr subjektiv und persönlich schätze – literarisch und als Menschen: Nizon, Hohl, Muschg, Franzetti, Lüscher, Gstrein, Goubran, Klüger, Artmann, Binder, cewebe, Krausser, Hettche, Hilbig. Weiters: Dickinson, Vargas Llosa, Faulkner, Hemingway.

Was lesen Sie, wenn es nicht mit dem Beruf zu tun hat?
In letzter Zeit vor allem Beiträge, die sich streitbar mit Politik und Wirtschaft auseinandersetzen. Online öfters Beiträge auf www.wissensmanufaktur.net oder Bücher wie Daniele Gansers Europa im Erdölrausch.

Haben Sie in Ihrer Laufbahn als KritikerIn je ein Urteil grundlegend revidieren müssen?
Zwar hatte ich jahrelang über meinem Schreibtisch eine Karte mit dem Satz „Einmal dachte ich, ich hätte unrecht, aber ich hatte mich geirrt“ hängen. Allerdings wird man in seiner Arbeit sehr schnell eines Besseren belehrt. Zuweilen kommt es vor, dass man sein Urteil zwar nicht revidieren, aber relativieren muss. Es kommt immer darauf an, in welcher Lebensphase und zu welchem Zeitpunkt man ein Buch liest, oft öffnet einem eine zweite Lektüre die Augen.

Stefan Gmünder, geboren 1965 in Bern, ist Literaturredakteur der Tageszeitung Der Standard in Wien. Er ist u. a. Herausgeber des Bandes Die Republik Nizon. Eine Biographie in Gesprächen (Edition Selene, 2005).

Quelle: VOLLTEXT 2/2015