Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Gute Literatur hervorheben, an- und ausleuchten. Schlechte Literatur mit einem Warnschild versehen. Weiterhin an die goldenen Haare auf dem Kopf des Teufels glauben.
Was sind die größten Herausforderungen/Probleme für die Kritik heute?
Die Erwartung des Publikums, in jedem Fall etwas Bemerkenswertes zu hören oder zu lesen, im Guten, wie im Schlechten. Neueren Datums ist das Auskochen des Publikums unter Hochdruck. Die Medien dampfen es gar. Mehr Tradition haben Kleingläubigkeit und Selbstüberschätzung auf allen Seiten des Literaturbetriebs.
Spielen literaturwissenschaftliche Theorien eine Rolle für Ihre Tätigkeit als KritikerIn?
Im Hintergrund schon, sie sensibilisieren für Lesarten, sie helfen neue entwickeln, aber im Tagesgeschäft helfen sie im Grunde nur mäßig: Sie machen kein einziges Buch besser oder schlechter. In seltenen Fällen kann man mit ihrer Hilfe den Leser stärker auf die Seite des Buches oder seiner Autorin ziehen, aber es ist halt so: Entweder ist ein Buch spannend, inspirierend oder großartig oder eben nicht. Literaturwissenschaftliche Theorien helfen eher, wenn man Gründe zitieren muss, um ein Buch schlecht zu finden.
Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
Die verkleideten Literaturkritiker der Vormoderne, beispielsweise Johann Fischart, der sich gnadenlos einverleibte, was ihm zum spielerischen Experiment tauglich schien. Jorge Luis Borges, weil seine literaturkritischen Essays seinen Dünkel und seine Belesenheit gleichermaßen zeigen. Manfred Papst, weil er Scharfsinn mit Herzensbildung verbindet. Sieglinde Geisel, weil sie streng und unbestechlich ist und deshalb sieht, wie nackt der Kaiser in seinen neuen Kleidern ist.
Wie viele Bücher muss ein/e KritikerIn gelesen haben, um kompetent urteilen zu können?
Von meinem sehr geschätzten ehemaligen Professor Alois Maria Haas habe ich gehört, es seien genau 977, aber das ist mir zu kabbalistisch. Bei Harold Bloom habe ich gelesen, es seien exakt 9 mal 9 mal 9, also 729, aber das ist noch viel kabbalistischer. Ich nehme den mathematischen Mittelwert: 853.
Wie viele Neuerscheinungen lesen Sie pro Jahr?
Etwa 50 bis 70.
Welche AutorInnen haben Sie mit 15 geschätzt?
Was ich geschenkt bekam. Das Gefängnistagebuch, ausgerechnet, der Luise Rinser. Der Stumme von Otto F. Walter und eine Anthologie mit Erzählungen von Heinrich Böll.
Welche AutorInnen schätzen Sie heute?
Jenny Erpenbeck, Richard Flanagan, Angelika Overath, Robert Walser, Marie-Luise Scherer, Judith Zander, Julian Barnes.
Was lesen Sie, wenn es nicht mit dem Beruf zu tun hat?
Leichte Essays. Amerikanische, deutschsprachige und argentinische Blogs.
Haben Sie in Ihrer Laufbahn als KritikerIn je ein Urteil grundlegend revidieren müssen?
Ja, ich habe Benno Maurers Das Kamasutra des Waldarbeiters gründlich missverstanden. Es ist darin nicht das Scheitern der erotischen Beziehungen der Waldarbeiter, sondern das Sägen ohne Auftrag … tja, ich schäme mich heute ein wenig.