Es ist eine eigentümliche Position: Alban Nikolai Herbst steht poetologisch auf der Höhe der Zeit und befindet sich zugleich im Abseits des Literaturbetriebs. Zwar verlangen seine anspruchsvollen Bücher einiges ab, doch belohnen sie jene Literaturkenner, die sich auf das Abenteuer der Lektüre einlassen. Insofern kann man es als Einladung werten, dass sein neuer Roman Traumschiff dem Leser, weder in Stil noch Umfang, Steine in den Weg legt.
Mit dem 2013 erschienenen Roman Argo schloss Herbst eines der ambitiösesten Erzählprojekte der Gegenwartsliteratur ab, nämlich die postapokalyptische „Anderswelt“-Trilogie, deren erster Band bereits 1998 erschien. Zusammen ergeben die drei Bände knapp 2000 Seiten, in denen alles andere als linear erzählt wird, die Figuren (darunter der Autor selbst) unter verschiedenen Namen auftreten und gelegentlich auch in Hexametern deklamiert wird.
Wer die Bücher von Herbst liest, sollte grundsätzlich sowohl gute Kenntnisse in antiker Mythologie, europäischer Kultur und klassischer Musik mitbringen, als auch bei den Stichworten wie Cyberspace oder Science-Fiction nicht zusammenzucken. Sein Schreiben nämlich steht im poetologischen Zeichen eines ‚Kybernetischen Realismus‘.
Darunter zu verstehen ist eine Ästhetik, die mit den Mitteln der Literatur versucht, unserer digitalen Wirklichkeit und der Leitfunktion der Neuen Medien gerecht zu werden, indem Herbst erzählerische Fantasie und virtuelle Realität in einer oft unentwirrbaren Gemengelage von Wirklichkeitsebenen zusammenführt. Was ihm dabei gelingt, ist an die eigentlich verschüttete Tradition phantastischen Erzählens in der deutschsprachigen Literatur anzuschließen, für die heute nahezu vergessene Namen wie Wolf von Niebelschütz oder Albert Vigoleis Thelen stehen.
Inkommensurable Schreib-Maschine
Aber selbst seinen treuesten Lesern, die im Wechsel der Handlungsebenen der Anderswelt den Überblick bewahren, dürfte es nicht immer leicht fallen, den Anschluss an die literarische Produktion der Schreib-Maschine Herbst zu bewahren. Denn neben seinen laufenden Buchveröffentlichungen, die zudem Lyrik sowie Kurzgeschichten umfassen, betreibt der Digitaldichter konsequenterweise den literarischen Blog Die Dschungel. Anderswelt, der neben seiner Funktion als öffentliches Arbeitsjournal ebenso den Versuch einer Realmitschrift seines Lebens unternimmt.
Schwer macht es Herbst aber nicht nur seinen Lesern, sondern auch dem Literaturbetrieb, von dessen Eitelkeiten er sich gerne fernhält, während er dessen oft geradezu inzestuöse Vetternwirtschaft immer wieder offensiv kommentiert und offenlegt. Solch verweigerte Anpassungsleistung resultiert freilich im verständlichen Gegenzug in einer Ignorierung durch den Betrieb in Hinblick auf Ehrungen und finanzielle Förderung.
Während Herbst für die gängige Literaturkritik auch deshalb ein rotes Tuch bleibt, weil man sich grundsätzlich schwer tut mit Texten, die dem vorherrschenden realistischen Literaturverständnis inkommensurabel sind, hat zumindest die Germanistik in letzter Zeit damit begonnen, das hybride Werk des Berliner Autors angemessen zu würdigen.
Gute Bücher sind, einem Werbespruch für Unterhaltungsliteratur zufolge, wie das schöne Leben – man wünscht sich, sie würden einfach nie aufhören. Doch das Ende ist, in beiden Fällen, stets unausweichlich, und davon, wie ein Leben zu Ende geht, erzählt Herbst auf ergreifende Weise in Traumschiff. Die Anspielung auf die bekannte Fernsehserie ist kaum zu übersehen (doch zugleich eine Finte). In der Tat spielt das Buch auf einem Kreuzfahrtschiff, das von zunächst nicht weiter bemerkenswerten Urlaubern bevölkert scheint. Die im Roman nachverfolgte Route verläuft vom Südatlantik über den Äquator zu den Kapverden und weiter an den Kanarischen Inseln vorbei nach Lissabon und an der Biskaya entlang in den Ärmelkanal.
Den alltäglichen Betrieb auf einem Kreuzfahrtschiff vermag Herbst anschaulich zu schildern, weil er das Sozialverhalten der Passagiere und des Personals, die verschiedenen Feiern, spielerischen Rituale und läppischen Musikeinlagen, mit denen die Urlauber unterhalten werden, aus eigener Erfahrung kennt, da er im Frühjahr 2014 auf einem derartigen Touristendampfer von Australien nach Europa schipperte. Nicht nur konnten die Leser seines Blogs ihn auf dieser Reise sozusagen begleiten, er hat auch ein Hörstück daraus gemacht, das als Collage von Feldaufnahmen Anfang Juni unter dem Titel Eine akustische Kreuzfahrt vom WDR ausgestrahlt wurde.
Geprügeltes Russenkind
Den Roman bestimmt die Stimme der 69 Jahre alten Hauptfigur Gregor Lanmeister, die nicht unbedingt als sympathische Identifikationsfigur angelegt ist: Als Geschäftsmann im Halbleiterbereich verspekulierte er sich bei einem Betrugsversuch an chinesischen Geschäftspartnern, seine Frau hat er ebenso wiederholt betrogen und sich nie wirklich um seinen Sohn gekümmert. Allerdings schält sich als Grund für solche Charakterschwäche heraus, dass er als ein illegitimes ‚Russenkind‘ eine gefühllose Kindheit verbringen musste, ungeliebt und von seiner Mutter verprügelt.
Lanmeister ist eine rätselhafte Figur: Da er beharrlich schweigt, ja: aus unerklärlichen Gründen schweigen muss, verlegt er sich darauf, seine Gedanken in siebzehn Kladden aufzuzeichnen, die er am Ende seiner Reise der jungen ukrainischen Bordpianistin übergeben will, welche er aus der Ferne anhimmelt. Seit das Schiff in Barcelona angelegt hat – so wird Lanmeister nicht müde zu betonen, ohne freilich zu erklären, was genau er meint –, besitzt er das ‚Bewusstsein‘. Das schält sich heraus als eine Form höheren Wissens um die letzten Dinge als Vorstufe einer spirituellen Einheit mit der Natur.
Damit verknüpft ist sein zunehmendes Einverständnis mit dem Tod. Denn so viel ist dem von einem Schlaganfall geschwächten Erzähler stets klar: Diese Kreuzfahrt wird seine letzte Reise sein, sie ist eine Passage in den Tod.
Herbst unterlegt dieser Sterbegeschichte einen subtilen Subtext, in dem mythologische, religiöse und literarische Motive oder Anspielungen den zunehmenden körperlichen wie geistigen Verfall kommentieren. Das Schiff erscheint so etwa als veritables Totenfloß, denn Lanmeister ist nicht der Einzige an Bord, der das ‚Bewusstein‘ besitzt, vielmehr existiert – von den erholungssuchenden Urlaubern unbemerkt – eine womöglich rund 140 todkranke Personen umfassende „Reisegesellschaft der Sterbenden“ auf dem Schiff, das nicht von ungefähr über vier Kühlzellen verfügt.
Indem wir Lanmeisters oft als Gedankenprotokoll oder Selbstgespräch angelegten Ausführungen folgen, lässt sich der allmähliche geistige Verfall anhand seiner zunehmenden Gedächtnislücken oder Erinnerungsschwierigkeiten nachverfolgen. Das Meer erweist sich insofern als eine Art Lethe, aber auch verwandte Motive wie Totenglocke oder Totenvogel haben verdeckte Auftritte im Roman, die der Geschäftsmann, ohne besonderen Sinn für Kultur und Mythos, freilich nicht als solche zu erkennen vermag.
Lebensfilm und Himmelfahrt
Im Angesicht des Todes steht für Lanmeister die Reflexion darüber, was das Ende des Lebens für ihn bedeutet, naturgemäß im Zentrum seiner Gedanken. Leben ist Frist, im Grunde eigentlich Galgenfrist, wie etwa der Religionsphilosoph Jacob Taubes betonte, und entsprechend umkreisen die Gedanken des Sterbenden eine Philosophie der Zeit, die er als ein stationäres Phänomen auffasst. Daher ist für ihn der Tod keine Katastrophe, der wir uns nähern, sondern ein Ereignis, das uns lebenslang erwartet: „Wir bewegen uns über die Oberfläche der Zeit darauf zu. Was wir den Tod nennen, steht einfach still. Das genau ist sein Wesen. Nur er bleibt, wo er ist, und das Traumschiff schiebt sich ihm Raumsekunde für Raumsekunde entgegen.“
Virtuos gelingt es Herbst weiters, viele Klischees, Mythen und Hoffnungen, die wir mit dem Prozess des Sterbens verbinden, in den Roman einzuflechten, ohne dabei je aufgesetzt zu wirken. So grübelt Lanmeister über geläufige Vorstellungen wie die vom blitzschnell ablaufenden Lebensfilm bis zum Licht am Ende des Tunnels, denkt aber ebenso nach über religiöse Versprechungen wie die von der Himmelfahrt der Seele oder die Konzepte von Wiedergeburt und Seelenwanderung, wobei er allerdings eine gesunde Skepsis gegenüber diesen Verheißungen bewahrt. Und gerade dies spricht sehr für ihn.
Als säkulare Form einer Überwindung des Todes beschäftigt ihn ebenso die Idee von der Weitergabe eines „Stabes“ an Nachfolgende, vor allem in Form einer Aussöhnung mit seinem Kind, das nach der schmutzigen Scheidung mit ihm gebrochen hatte. Insbesondere diese verabsäumte Versöhnung ist so schmerzlich für ihn, dass er seinen Sohn, aber auch andere Menschen, die ihm einstmals etwas bedeuteten, in manchen Momenten an Bord gespensterhaft als Halluzinationen wiederzuerkennen glaubt. Was es mit diesen Erscheinungen wirklich auf sich hat, legt das Ende des Romans offen, sei hier aber nicht verraten: Es sollte vielmehr selbst gelesen werden.
Mit Traumschiff versucht Herbst das, nach dem Wunder der Entstehung des Lebens, andere große Geheimnis unserer Existenz zu ergründen. Das Buch umkreist den menschlichen, allzumenschlichen Traum von einem schönen Tod. Exemplarischen Ausdruck findet diese Sehnsucht in dem Ende, das der herzkranke Passagier Patrick erleidet, der voller Erfüllung in einem Moment grenzenlosen Glücks und in Einverständnis mit seinem Schicksal stirbt.
Eine schöne Vorstellung, ebenso wie jene Feststellung, die Lanmeister einmal in die Worte fasst: „Alles, was war, hinterlässt eine Spur.“ Freilich ist auch dies nur eine tröstende Hoffnung, und wie Lanmeister einmal notiert: „Erschwerend muss hinzugefügt werden, dass alles, was über den Tod gesagt werden kann, notwendigerweise diesseitig bleibt.“
Dass Herbst seinen Protagonisten nie vorschiebt, um dem Leser eigene Überzeugungen zum Thema Tod aufzunötigen, ist eine Stärke des Romans. Stattdessen regt diese meisterlich erzählte Sterbensgeschichte uns zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Ende an. Insofern darf man sein Buch als Literatur im besten Sinne betrachten, ist doch eine der bedeutendsten Aufgaben der Literatur der emphatische Protest gegen die entmutigende, bittere Wahrheit, dass der Tod nichts weiter ist als ein zumeist eher qualvolles Erlöschen unserer Existenz, wie auch der damit verbundene Schmerz für die Hinterbliebenen deshalb so untröstlich ist, weil nach unserem Ende nichts anderes kommt als das Nichts.