Von Hans Blumenberg, dem generalistisch engagierten Universitätsphilosophen, weiß man, dass sein Denken maßgeblich durch Werke der schönen Literatur geprägt war, genauer vielleicht: beflügelt wurde. Nicht nur die späten Bücher zu Goethe und Fontane bezeugen seine diesbezügliche Kennerschaft, sondern auch die zahlreichen literarischen Referenzen − Zitate, Vergleiche, Beispiele − in seinen großen geistesgeschichtlichen und kulturphilosophischen Abhandlungen. Blumenbergs frühes Interesse an „übertragener“ Rede, aus dem in der Folge eine umfassende Metapherntheorie erwuchs, bezog seinen ursprünglichen Impuls aus weitläufigen literarischen Lektüren, von Lukrez über Dante bis zur Poesie der Moderne.
Dass Blumenberg bereits in seinen universitären Lehrjahren mehrere, zum Teil umfangreiche literarische Aufsätze abgefasst hat und später, neben seiner akademischen Karriere, regelmäßig − vorzugsweise unter Pseudonym − als Rezensent internationaler Belletristik tätig war, ist neuerdings durch ein Sammelwerk belegt, das seine einschlägigen Arbeiten aus dem Zeitraum 1938 bis 1958 als Erst- oder Nachdrucke vollumfänglich erschließt.1 Rund ein Dutzend der insgesamt 42 Texte entstammen dem unveröffentlichten Nachlass des Autors.
Das Konvolut dieser apokryphen Schriften bezeugt die intellektuelle Souveränität Hans Blumenbergs als Literaturkritiker, seine Konsequenz, auch seinen Eigensinn im Umgang mit belletristischen Texten. Naturgemäß ist dieser Umgang philosophisch inspiriert, gekennzeichnet jedoch von großem Respekt vor den Möglichkeiten und Leistungen künstlerischer Literatur, deren Erkenntnisgewinn den der Schulphilosophie erweitert, in manchen Fällen gar übertrifft. „Es wird deshalb immer eine echte Aufgabe philosophischer Besinnung sein“, unterstreicht Blumenberg schon 1950 in einem Vortragstext, „die in der Kunst und Dichtung bezeugte Erfahrung sorgfältig abzuhören und sich von dem als echtes Zeugnis Erkannten in der Richtung des Denkens, des Ansatzes der Fragen bestimmen zu lassen.“
Solch einfühlenden, dabei höchst produktiven Respekt hat der Kritiker über viele Jahre hin gegenüber sehr unterschiedlichen Autoren der euroamerikanischen Moderne sowie der zeitgenössischen deutschen Erzählliteratur walten lassen. Dass er dabei nicht so sehr auf deren Rang und anerkannte Bedeutung achtete, vielmehr darauf, ob ihre „Aussage echt und fern von Klischee und seichter Romantik“ sei, kurz, ob er als Leser sich „gepackt“, schlimmer noch: „angerührt“ fühlte. Dieses womöglich aus Emil Staigers damals populärer Ergriffenheitsästhetik hergeleitete Statement ist durchaus zeittypisch. Blumenberg begibt sich damit zumindest versuchsweise in die unbedarfte Erwartungsposition eines Normalverbrauchers von Unterhaltungsliteratur, der nur das begreift (und begreifen will), was ihn ergreift: „Gegenwart ist nur bei den Ergriffenen.“
Doch zugleich macht er implizit deutlich, dass es ihm nicht um den künstlerischen Wert, nicht um die formale Gestalt der besprochenen Texte geht, sondern um ihre Authentizität als Zeugnis persönlichen Ringens um das Verständnis der conditio humana, um die Herstellung eines „unverdünnten Bezugs auf das substantiell Menschliche“, um Existenzfragen und Grunderfahrungen mithin, die für den Einzelmenschen ebenso wie für die Menschheit unabwendbar daraus erwachsen, dass auf Erden „etwas“ vorzufinden und dem Menschen aufgetragen ist, und nicht vielmehr „nichts“ − die Leibniz-Heidegger’sche Formel kehrt bei Blumenberg oftmals wieder.
Solchen Fragen nachzugehn und entsprechende Lebenserfahrungen literarisch aufzuarbeiten, ist ein Imperativ, dem nach Ansicht des Kritikers alle Autoren zu folgen haben, gänzlich unabhängig von ihrem künstlerischen Vermögen und ihren jeweiligen thematischen Vorgaben. Literatur muss nicht „gut“ und „schön“, sie muss „stark“ sein. Da können sich denn auch markante Differenzen auftun, etwa dann, wenn Blumenberg den Roman Molloy von Samuel Beckett ausdrücklich als „ein starkes Buch, in jedem Sinne“ belobigt, ihm aber gleichzeitig die Qualitäten eines „guten“ Buchs abspricht. Dass der Roman offenkundig „meisterlich geschrieben“ ist, scheint Blumenberg eher zu irritieren denn positiv zu stimmen, da er dem Autor vorwerfen muss, er parodiere bloß „die Wirklichkeit als Zerfall“, präsentiere „das Drama des Menschen“ als „grausame Belustigung, die aus der Entlastung von der Frage nach dem Sinn gerade erst entspringt“, und er düpiere den Leser mit dem unernsten „Lockruf des Tiefsinns zu nicht vorhandenen Abgründen“.
Bei Hans Blumenbergs kritischem Anspruch kann sich demnach auch das beste Buch als ein schwaches Buch erweisen, und umgekehrt nimmt er sich heraus, die „Stärke“ unterhaltsamer, gefühliger, bekenntnishafter, nachlässig hingeschriebner Texte eigens hervorzuheben. Von daher erstaunt es nicht, dass er sich gleichermaßen aufmerksam (und gleichermaßen produktiv) mit unterschiedlichsten, ja konträren Schriftstellern auseinandersetzt − mit Faulkner und Fallada, mit Kafka und Kellermann, mit dem akademisch geadelten Dichter Paul Valéry und den inzwischen gänzlich vergessnen US-amerikanischen Bestsellerautoren Frederic Prokosch oder Alan Paton („schlechthin große Literatur“). Für ihn als Kritiker kommt es nicht auf die vertikale Rangordnung zwischen Hoch- und Gebrauchsliteratur an, es geht ihm vielmehr um das gleichberechtigte Nebeneinander unterschiedlichster literarischer Ausdrucksformen. Der Kunstcharakter des Werks bleibt freilich durchwegs sekundär gegenüber dem, was man einst als dessen geistigen „Gehalt“ bezeichnet hat.
Einsichtig ist auch, dass die Dichtung, als Wortkunst, für Blumenberg nur dann relevant ist, wenn sie nach weltanschaulichen, philosophischen, religiösen Inhalten abgefragt werden kann. Formalistische Poesie irgendwelcher Art kommt dafür kaum in Betracht, auch nicht das formal perfekte Erzähl- oder Dichtwerk; denn: „Das Werk darf nicht alles leisten, wenn im Publikum noch etwas ‚geschehen‘ soll.“
Erstaunlich sind allerdings die Lücken in Blumenbergs ungemein weitgespanntem Lektüreprogramm − seiner Vorliebe für konservative, religiös motivierte und philosophisch versierte Schriftsteller wie Carossa oder Langgässer, Claudel oder Bernanos, T. S. Eliot oder Ernst Jünger steht die harsche Kritik an „nihilistischen“, „existentialistischen“, „formalistischen“ Autoren gegenüber (Sartre, Beckett, Robbe-Grillet).
Bemerkenswert, wiewohl keineswegs überraschend ist auch seine pauschale Nichtbeachtung jener französischen Radikaldenker und Extremliteraten (Bataille, Blanchot, Artaud, Sachs, bis hin zu Albert Camus u.a.), die das 20. Jahrhundert weit stärker imprägniert haben als die katholische literarische Intelligenz beiderseits des Rheins, ganz abgesehn davon, dass grade sie für Blumenberg valable Denkpartner hätten sein können − bei der Frage nach Gott und dem Tod ebenso wie bei der Auseinandersetzung mit dem menschlichen Fatum der Schuld, des Geschlechts, des Leidens, der Sinnleere, also mit dem Absurden. − Dass im Übrigen zwei führende Autoren der 1940er- und 1950er-Jahre, die Blumenberg als maßgebliche Gewährsleute für die von ihm bevorzugte „starke“ Literatur hätte aufrufen können, Hans Henny Jahnn und Hans Erich Nossack, in seinen Schriften nicht einmal dem Namen nach vorkommen, bleibt als bedauerliches Defizit zu vermerken − kaum vorstellbar, dass er die beiden namhaften norddeutschen Zeitgenossen damals nicht wahrgenommen hat.
II
Der zeitlich frühste, umfangmäßig größte Text, der im vorliegenden Band präsentiert wird, ist ein 64-seitiger Aufsatz, den Hans Blumenberg 1938 (im Alter von 18 Jahren) abgefasst, in der Folge jedoch nie wieder aufgegriffen und auch nicht veröffentlicht hat. Gegenstand dieses stilistisch wie gedanklich staunenswerten Gesellenstücks ist das Werk des Schriftstellers Hans Carossa, der den jungen Blumenberg als Person wie als Autor gleichermaßen fasziniert haben muss − jedenfalls weiß er nicht nur dessen literarische Schriften aufs Höchste zu schätzen, er bewundert auch den „ausdrucksstarken Kopf des Dichters“, dessen „inneres Bild“ er in Lovis Corinths „Selbstportrait in Rüstung“ adäquat ausgedrückt findet.
Blumenberg bleibt bei der Lektüre Carossas ganz auf die „Ideen“ fixiert, die er in Vers und Prosa ausgebreitet findet − es ist der „Geist“ des Werks, auf den es ihm ankommt, und nicht das Werk selbst als künstlerisches Gebilde. „Seele“, „Herz“, „Wesen“, „Geheimnis“, „Schicksal“, „Gnade“, „Heil“, der „ganze Mensch“ sind bei ihm häufig wiederkehrende Begriffe. Rekurrent bleibt die Frage nach Gott, dem Sinn des Lebens und der Welt. Der junge Kritiker selbst ist nicht nur theologisch auf hohem Niveau interessiert, er scheint auch vertrauensvoll im christlichen Glauben verankert zu sein und daraus − wie er es bei Hans Carossa zu beobachten meint − „heilende und emporhebende Kräfte zu schöpfen“.
Mit Carossa teilt Blumenberg die Überzeugung, wonach „das Zusammenwachsen mit der großen Gemeinschaft des Volkes und die Verpflichtung seiner Kraft an diese Gemeinschaft“ ein entscheidender Imperativ sein müsse − er betont es im Rückblick auf dessen horrende Erfahrungen im Ersten Weltkrieg. Ob Blumenberg dabei auch schon an den damals heraufziehenden zweiten großen Krieg gedacht hat, ist anhand seines Aufsatzes nicht auszumachen, aber auch nicht auszuschließen.
So oder anders: Grade die Extremerfahrung des Kriegs ermächtigt und verpflichtet den Dichter, der „Gemeinschaft“ zu einem „Lebenssinn“ zu verhelfen, ihr „als Seher und Mahner, als Erwecker und geistiger Führer“ dienstbar zu sein. „Zwischen Gestern und Morgen steht der Dichter, in gleicher Weise verpflichtet der Vergangenheit wie der Zukunft“, schreibt Blumenberg: „Von jener empfängt er das beständigste Erbe und hat es zu bewähren, für diese aber bereitet er die großen Inhalte und Weisungen.“
Dass ein 18-Jähriger mit solch weltanschaulichem Aplomb über literarische Texte referiert, mag befremdlich anmuten; ebenso, dass er sich dabei unentwegt auf Goethe beruft, aber auch auf mindere Autoren wie Ernst Wiechert und Max Mell. Doch unverkennbar ist in diesem Frühwerk manches von dem angelegt, was er später machtvoll zur Geltung bringen wird − fachübergreifendes Erkenntnisinteresse, interdisziplinäre wissenschaftliche Kompetenz, hohe Synthetisierungs- und Darstellungskraft, gleichrangige Aufmerksamkeit für kleinste beiläufige Details wie für das große Ganze der Welt und des Wissens, Nutzung von Literatur- oder Bildwerken zur Präzisierung und Erhellung philosophischer Fragestellungen.
[Übrigens greift Hans Blumenberg in seinem großen religionsphilosophischen Spätwerk zur Matthäuspassion (1988) stillschweigend auf seinen essayistischen Erstling zurück: Genau ein halbes Jahrhundert nach dessen Entstehung erinnert er hier − in dem eindringlichen Kapitel zur Frage „Seit wann bin ich?“ − noch einmal an den nach wie vor verehrten Hans Carossa und führt dabei dieselben Werke und Zitate an, die ihn schon als Jüngling beeindruckt hatten. Solche Treue und Verehrung ist für Blumenberg charakteristisch; auch andre Autoren − allen voran Goethe, Schopenhauer, Fontane, später Ernst Jünger − sind dadurch zu seinen ständigen Denkpartnern geworden.]
Auf Blumenbergs geheimes Debüt von 1938 folgte 1944 ein ebenfalls unveröffentlicht gebliebener Versuch „Über Dostojewskis Novelle ‚Die Sanfte‘“, ein Text, den man nun endlich als sein erstes Meisterstück zu lesen bekommt − souverän durchdacht und ausformuliert, originell in seiner Argumentation, reich an Einsicht und Ertrag. Blumenberg, inzwischen 24, 25 Jahre alt, bietet eine ebenso brillante wie sachkundige Lektüre eines gemeinhin unterschätzten Erzählwerks, das der russische Autor 1876 in sein öffentliches Tagebuch eines Schriftstellers einrückte. Die Anregung dazu erhielt er durch eine Zeitungsnotiz über den rätselhaften Freitod einer jungen Frau, die sich anscheinend unmotiviert, mit einer Ikone in der Hand, aus dem Fenster gestürzt hatte.
Was Blumenberg am Leitfaden von Fjodor Dostojewskis „phantastischer“ Novelle an Lesefrüchten zutage fördert, geht über literarhistorische Befunde weit hinaus und nimmt auch manches vorweg, was die internationale Dostojewski-Forschung erst viel später erschlossen und gesichert hat. Ausgehend von einzelnen Worten, Gesten, kurzen Episoden, mit denen der Erzähler die stolze 16-jährige Frau und ihren nörglerischen, viel älteren Ehemann charakterisiert, entfaltet er einen faszinierenden Diskurs über „Gott und die Welt“ und eröffnet abgründige Einsichten in so unterschiedliche, dabei eng verknüpfte menschliche Eigenschaften wie Misstrauen, Eifersucht, Selbstsucht, Selbstverachtung, Machtwille, soziale Inkompetenz, Weltekel.
Auch das Phänomen des paradoxalen mimetischen Begehrens − etwa die heimliche Bewunderung des Gatten für den gehassten Nebenbuhler − erkennt und beschreibt er mit der Souveränität seines umfassenden Wissens, lang bevor der Dostojewski- und Shakespeare-Experte René Girard es für sich entdeckt und daraus sein philosophisches Kernthema macht.
[Dass Blumenberg seinen ungemein scharfsinnigen und autoritativen Lektürebericht sowie eine Reihe weiterer Texte (über Kafka, Sartre, Jünger, Greene u.a.) nach Kriegsende ungedruckt hat liegen lassen, ist angesichts ihrer intellektuellen und stilistischen Prägnanz schwerlich nachvollziehbar. Vielleicht hat er sie als Gelegenheitsarbeiten geringgeschätzt, vielleicht auch als Entwürfe für geplante größere Abhandlungen zurückgestellt. Tatsache ist jedenfalls, dass jede dieser noch so zeitgebundenen Arbeiten (meist zu Neuerscheinungen oder Jubiläen) das Potenzial zur Fortschrift eigenständiger Studien in sich trägt.]
III
Die Diversität der von Blumenberg präsentierten Autoren und Werke kann hier lediglich festgestellt, nicht aber im Einzelnen gewürdigt werden. Das Einzugsgebiet seiner kritischen Lektüren bleibt fast ausnahmslos auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts beschränkt, mit Texten aus dem angelsächsischen, französischen, deutschen Sprachbereich und Schriftstellern von Marcel Proust bis Ernest Hemingway und Evelyn Waugh. Vorrangig ist von Prosabüchern die Rede, bloß marginal auch von lyrischen und dramatischen Werken.
Weltanschaulich und stilistisch unterscheidet sich der Blumenbergsche Besprechungsdiskurs nicht wesentlich von der dominanten deutschsprachigen Essayistik der 1950er- und frühen 1960er-Jahre (Sieburg, Sternberger, Holthusen, Ernst und G. F. Jünger, mit rekurrenten Anklängen an Heidegger), charakteristisch für ihn ist jedoch die subtile Engführung von Pathos und Ironie, Lehrhaftigkeit und Improvisation, besonders aber seine Vorliebe für apodiktische Statements, die er bald zu jäh erhellenden Aphorismen, bald zu dunklen Weisheiten (wenn nicht gar Weissagungen) verdichtet: „Die Zeit ist nicht der Behälter der Dinge und Erlebnisse, sie ist ein reißendes Tier, ein gieriger Abgrund, sie ist das einzig Wirkliche, das sein Sein an allem Seienden mästet, das bleibt, indem es alles andere verschlingt.“ Notate dieser Art finden sich in den literarischen Aufsätzen zuhauf − man könnte sie leicht zu einer eigenständigen Spruchsammlung bündeln.
Struktur- und Stilanalysen sind von Blumenberg nicht zu erwarten, entsprechende ästhetische Erwägungen oder Wertungen schon gar nicht. Auch auf Inhaltswiedergaben kann er weitgehend verzichten, da sein vorrangiges Interesse in jedem Fall auf das Denken des jeweiligen Autors, den „Geist“ des jeweiligen Werks ausgerichtet bleibt. Vorzugsweise bezieht er sich deshalb auf das, was die literarischen Protagonisten (mit eingeschlossen die fiktiven Erzähler) in direkter Rede zu sagen haben. Psychologische, alltagsweltliche, topographische Aspekte spielen demgegenüber eine durchwegs untergeordnete Rolle. Freudianische Lesarten weist er explizit zurück.
Um Blumenbergs hermeneutische Literaturbetrachtung ein wenig noch zu spezifizieren, sei hier beispielshalber auf seine Essays über Franz Kafka und William Faulkner verwiesen. Von Letzterem präsentiert er das gesamte Erzählwerk (große Romane, zahlreiche Stories), bei Kafka − dem vier Einzelbeiträge gewidmet sind − steht übermächtig der Brief an den Vater im Vordergrund des Interesses.
Die üblichen biografischen und psychologischen Deutungsansätze für den Brief lässt Blumenberg konsequent außer Acht. Der „Vaterkoloss“ in Kafkas Text ist in seiner Wahrnehmung weder Abbild noch Schreckbild des eignen Vaters, von dem er vielleicht Statur und Umriss mitgeteilt bekommen habe, den er aber als mythische Erscheinung bei Weitem überrage und gleichsam in den Schatten stelle. Blumenberg sieht ihn in den Dimensionen eines mythischen Heroen, eines leeren, gottfernen Idols − Maß aller Dinge und letzte Instanz: „Aus innerer Notwendigkeit heraus, aus dem Leiden an solcher Namenlosigkeit hat Kafka die Leere dieser gottlosen Religiosität ‚besetzt‘, zuerst und immer wieder mit dem Vater …“
So wird der „Vater“ zu einem allgegenwärtigen, zugleich unerreichbaren Absolutum, das den Ausgeschlossenen zu „furchtbarer Einsamkeit“ verdammt, ihn der tiefsten „Qual, Scham, Schuld, Erniedrigung“ überantwortet. Kafkas Schreibarbeit erweist sich demgegenüber als eine nie vollendete, nie zu vollendende Form von „Selbstbehauptung“, welche aber die vergeblich ersehnte Erwählung beziehungsweise Begnadigung durch den absoluten Vater nicht zu kompensieren vermag.
Im Prozess-, im Schloss-Roman wie auch in andern Texten des Autors erkennt Hans Blumenberg den gradezu titanischen, dabei vergeblichen Versuch, die Leere seiner „gottlosen Religiosität“ mit einer anonymen Instanz zu besetzen, die lediglich in Anführungsstrichen als „väterlich“ zu bezeichnen sei. Kafkas Brief an den Vater mag familiäre und psychische Befindlichkeiten in sich aufgenommen haben, weist allerdings weit über sie hinaus − er ist kein Dokument persönlicher Klage oder Anklage, vielmehr ein tragischer, epochaler Schlussakkord: „Und es ist gewiss nicht zufällig, dass eben der Name des ‚Vaters‘, der am Anfang unseres weltgeschichtlichen Äons mit dem Namen Gottes zu einem Inbegriff der Liebe verschmolzen ist, nun in der Krise dieses Äons der furchtbaren Anonymität des Nichts zufällt.“
Um mehr als private Erfahrungen und Befindlichkeiten geht es auch dem US-amerikanischen Meistererzähler William Faulkner, dem Blumenberg um 1955/1957 zwei seiner stärksten Aufsätze gewidmet hat. Obwohl die trostlos verwilderte Alltagswelt der Südstaaten in Faulkners großen Romanen als stets gleichbleibende Kulisse für dramatische, oft gewalthafte Privat- und Gesellschaftsfehden vorgegeben ist, stehen Plot und Personal nur vordergründig unter der grausamen Fatalität der Bürgerkriege, des Rassismus, des Geschlechterkampfs, der Blutrache usf.
Wie bei Dostojewski und Kafka, bei Hermann Kasack oder Graham Greene, so verweist Blumenberg auch hier mit Vorliebe auf die existenziellen Probleme und letzten Fragen, die das Tun und Lassen der Menschen bestimmen − die bestimmend werden dafür, ob und wie ein Kind, eine Frau, ein Mann angesichts des Äußersten sich behaupten; wie und ob sie, bedrängt von individueller Schuld, von Scham, Hass, Gier, Angst und Wahn, einen Restbestand allgemein menschlicher Moral, Wahrhaftigkeit und Würde zu bewahren vermögen.
Unaufhaltsames Töten und Getötetwerden, Vergewaltigung und Versklavung in jeglicher Form, Raub und Verrat stehen solcher Rettung entgegen, verhindern sie meist. Dazu kommt als aktuelle Bedrohung die Naturzerstörung durch neue technische Errungenschaften und wirtschaftliche Interessen. Faulkners bleibende Leistung glaubt Blumenberg darin zu erkennen, dass er außer düsteren Einzelschicksalen auch generell die Sinnes- und Geisteswelt Amerikas erschlossen habe, um sie „mit dem höchsten Gesetz der Menschheit“ zu verschmelzen − in seinem Erzählwerk werden die südstaatlichen Provinzen und ihre ruhelosen Bewohner zur „Menschheitsallegorie“.
„Die Menschen sind nur Werkzeuge eines Vorgangs, der alles mit purer Mechanik umgreift. Es ist ein mythisches Ereignis, reines Verhängnis, das Böse ohne die Bösen. Kein Funke von Freiheit. Die Menschen sind Partikel eines Naturprozesses.“ Das ist das skeptische Fazit, das Hans Blumenberg aus seiner Faulkner-Lektüre zieht; es ist zugleich das Resümee seiner eigenen damaligen Zeitdiagnose, die in manchen Punkten − das vorgängige Zitat ist ein Beleg dafür − ihre Aktualität bewahrt hat.
Anmerkung
1) Hans Blumenberg, „Schriften zur Literatur“ (1945/1958). Suhrkamp Verlag, Berlin 2017; die Jahresangabe „1945“ im Untertitel ist unzutreffend.