Es musste schnell gehen, sehr schnell sogar, viel Zeit zum Überlegen blieb nicht. Am Tag, als Michel Houellebecqs Roman Unterwerfung in Frankreich erschien, fand das Gemetzel in den Redaktionsräumen der Satirezeitung Charlie Hebdo statt. Wenige Tage später war die deutsche Ausgabe auf dem Markt. Verzögerung wurde nicht geduldet, die Rezension musste sofort, möglichst bevor das Buch in den Buchläden auslag, erscheinen. Freundlich gesinnt mag man das als Grund nehmen, warum die Rezensionen sich lieber auf das Kampfgebiet der Ideologie begaben und warum sich Kritiker als Sachverständige für französische Innenpolitik ausgaben. Roman Halfmann benennt im Hessischen Rundfunk das Dilemma, in dem sich Rezensenten befinden, deutlich: „Natürlich, angesichts der Anschläge in Paris und auch der Pegida-Demonstrationen in Deutschland scheint es geradezu unmöglich, den Roman als rein literarisches Erzeugnis zu lesen.“ So sieht es Cornelia Geissler in der Frankfurter Rundschau auch: „Man liest das Buch unter dem Eindruck der Ereignisse, aber auch mit den bewegenden Bildern von riesigen Demonstration in Paris vom Sonntag im Kopf.“
Die eigentliche Aufgabe der Literaturkritik, einen Text als etwas Gemachtes, einem ästhetischen Programm Folgendes zu untersuchen, wurde vergessen. Aber warum reden wir überhaupt von literarischen Formen und von Sprache, wenn nicht gerade diese einzigartigen Ausdrucksmittel, in jedem Buch neu erprobt, neu erfunden, neu durchgespielt, Auskunft geben würden über die Haltung eines Autors, die Moral eines Textes, die Zeiterfülltheit eines Werkes, die Kritik an Geist und Lebensgefühl einer Epoche, die Weise, wie Welt erfasst und gedeutet wird. Alles, was in einem literarischen Werk drinsteckt, vermittelt sich über Form und Sprache. Weh dem Rezensenten, der Geschichten nacherzählt. Er hat auf dem Feld der Literaturkritik nichts verloren. Das ist die dürftigste Art, mit Literatur zu verfahren. „Geschichten erzählen kann mein Fernseher auch“, sagte Alfred Gulden einmal und meinte, dass ein Roman mehr ist als sein bloßer Inhalt. Der Plot ist der Köder, der uns reinzieht in einen Text. Dieser aber erzählt mehr als auf den ersten Blick sichtbar ist. Im Abstand von mehreren Jahren lässt sich das an jedem Kunstwerk mit erzählender Absicht nachweisen. In einer „Polizeiruf 111“-Folge aus DDR-Zeiten war einmal ein Krimi über einen Handtaschenräuber auf dem Friedhof zu sehen. Ein höheres Maß an Ödnis ist nicht vorstellbar – ist man an der reinen Handlung interessiert. Aber heute erzählt uns der Film etwas über die DDR, was gar nicht beabsichtigt war, wir erfahren alles über eine verkorkste Gesellschaft mit biederer Moral, in der es Verbrechen eigentlich nicht geben hätte dürfen.
Seltsam, was sich im Fall des jüngsten Houellebecq ereignet. Jeder Rezensent schreibt von der schleichenden Islamisierung Frankreichs, die in einprägsamen Szenen dargestellt wird, aber die Meinung, was wir davon halten sollen, geht stark auseinander. Ein „Islamisierungs-Horrorwerk“ (Jürg Altwegg) nennt die FAZ den Roman, während auf Spiegel Online (Sebastian Hammelehle) heftig dementiert wird, dass er als „Schreckensszenario“ zu nehmen sei. Das hindert den Verfasser nicht daran, sich im Titel für die Angstversion zu entscheiden: „Gespenstische Aktualität“. Die Süddeutsche Zeitung nimmt eine Zwischenhaltung ein, wenn sie von der „Unentschiedenheit des Romans“ spricht (Thomas Steinfeld). Immerhin herrscht Einigkeit darüber, dass eine nahe Zukunft imaginiert wird, weshalb das Schlagwort vom „Antizipationsroman“ (Christopher Schmidt in der SZ) seine Berechtigung hat.
Unausdeutbar! Oder doch nicht?
Die literarische Form? Fehlanzeige. Gregor Dotzauer gibt im Tagesspiegel seiner Meinung Ausdruck, dass der Houellebecq-Roman „im besten Sinne Literatur“ sei. In der Begründung belässt er es bei einigen knappen Anmerkungen. Wir hätten es mit einer „in ihrer Vieldeutigkeit unausdeutbaren Versuchsanordnung“ zu tun, eine kühne Bemerkung, wenn man sieht, wie rasch viele seiner Kolleginnen und Kollegen fertig waren mit dem Buch als eine durchaus deutbare Auslegung einer nahen Zukunft. Überhaupt distanziert sich Dotzauer von all den inhaltsfixierten Besprechungen, wenn er zumindest in Andeutungen ahnen lässt, dass sich ein Autor Gedanken darüber gemacht hat, wie sich unsere Gegenwart in eine absehbare Zukunft weiterdenken ließe: „Es ist kein Roman aus der geschichtsphilosophischen Vogelperspektive, sondern eine Erzählung aus dem Blickwinkel eines typischen Houellebecq-Helden“.
Im besten Sinne Literatur, daran ließe sich anknüpfen. Damit beginnen aber auch schon die Schwierigkeiten. Wie geht man mit einem Buch um, dessen Verfasser vor allem in manchen französischen Medien der Vorwurf gemacht wird, Parteigänger des Rechtsextremismus zu sein? Immerhin wurden Vergleiche mit Louis-Ferdinand Céline angestellt, einem ausgewiesenen, unverbesserlichen Antisemiten, der erstklassige Literatur geschrieben hat. Nur, in dieser Gesellschaft hat Houellebecq nichts verloren. Mit der politischen Rechten hat er nichts zu schaffen, und an einen Roman wie Célines Reise ans Ende der Nacht kommen seine Bücher nie heran.
Allen Rezensionen sieht man an, wie schwer sich ihre Verfasser mit dem Fall Houellebecq tun. Einverständnis herrscht nicht einmal in der Einschätzung, ob das Buch islamophob ist oder nicht. Für Stefan Gmünder im Standard „wird klar, dass es sich hier nicht um ein Buch gegen den Islam, sondern über die Krise der westlichen Demokratie handelt.“ Auch Roman Halfmann winkt beruhigend ab: „kein islamophober, nicht einmal islamkritischer Roman“ sei zu vermelden. Nach Jürg Altwegg bescheinigte Laurent Joffrin in Libération dem Autor „schriftstellerische Qualitäten“, scheute sich aber nicht „seine Ideen zu bekämpfen“. Nur mit den Ideen ist das so eine Sache. Dass Kritiken zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, ist der Normalfall. Wir reden über Literatur, weil wir das letzte Wort über einen Autor oder ein Buch nicht gefunden haben. Aber nicht einmal über so elementare Dinge, ob es sich um eine Satire handelt oder nicht, herrscht Klarheit. „… das ist unübersehbar Satire“, schreibt Cornelia Geissler, Gregor Dotzauer hält dagegen und lobt die „intellektuelle Farbigkeit, die sich nicht auf satirische Absichten reduzieren lässt.“ Stefan Gmünder nickt zustimmend und findet überhaupt, dass es Houellebecq „bitter ernst ist. Ironisch gebrochen sind höchstens dessen bedingt sympathische Hauptfiguren.“ Cornelia Geissler sieht die Hauptfigur François strenger: „Er ist unsympathisch wie die meisten von Houellebecqs Helden.“ Schwer tut sie sich schon mit dem Roman. Wenn die Analytikerin versagt, muss der Gefühlsmensch her: „Dieses Buch lässt einen nicht unberührt.“ Also gut, das nehmen wir so, doch zwei Sätze später preist sie die „kalte Intelligenz, den unemotionalen Blick des Erzählers“. Das sind doch literarische Methoden, Distanz zu schaffen, eben Einfühlung zu vermeiden, die Gefühlsebene zu verlassen. Cornelia Geissler schafft es, nicht unberührt zu bleiben, aber unemotional.
Der Autor verliert das Interesse
Dass es mehr geben muss als eine politische Provokation wissen Christopher Schmidt und Stefan Gmünder. Wie genau gearbeitet der Roman ist, darauf weist Christopher Schmidt hin, der „ein fein geknüpftes Netz an Verweisen“ ausmacht und diesen nachspürt. Stefan Gmünder übt Kritik nicht an der Haltung des Autors, er weist nach, wie der Text im Lauf der Zeit an Dynamik verliert, weil der Autor „das Interesse an Versuchsanordnung und Hauptfigur verliert.“ Das ist mehr, als man in handelsüblichen Auseinandersetzungen mit dem Buch sonst zu lesen bekommt.
Zu einer großen Ehrenrettung von Autor und Roman schwingt sich Friederike Gösweiner in der Presse auf. „Ein grandioser Roman“ sei zu vermelden, „literarisch einwandfrei konstruiert“. Es folgt eine umfangreiche Inhaltsangabe, danach kommen doch noch kritische Einwände: „Holzschnittartig konstruiert“, Mangel an Psychologie, unzulässige Verknappungen. Das alles steckt die Rezensentin dann aber locker weg, weil sie Houellebecq als Zeitdiagnostiker schätzt, der einem siechen Europa, in dem so jemand wie „der metaphysisch obdachlose François“ sein leeres Leben führt, einen Spiegel vorhält. Die Verteidigung ist mit Furor geschrieben und klammert sich vollkommen an den Inhalt.
Weltekel und spirituelle Sehnsucht
Die Konzentration der aktuellen Kritiken wird nahezu vollständig auf die Vorstellung eines politisch radikal umgemodelten Frankreich gelenkt. Dabei holt Houellebecq weit aus in die Geschichte, Literaturgeschichte jedenfalls. Francois, der Literaturwissenschaftler, kommt wie ein Wiedergänger des Großmeisters der literarischen Dekadenz, Joris-Karl Huysmans, herüber. Das sieht auch Stefan Kister in der Stuttgarter Zeitung so, wenn er meint, „bei diesem literaturgeschichtlichen Setting, in dem sich Weltekel und spirituelle Sehnsucht durchdringen, müsste eine Besprechung ansetzen.“ Konjunktiv! Macht er selbst auch nicht. Für eine genaue Lektüre plädiert Jürgen Ritte in der NZZ. Die politische Diskussion, die der Roman ausgelöst habe, findet er überflüssig, weil damit der literarische Aspekt auf der Strecke bleibe. Als „Seismograph seiner Epoche“ will er Houellebecq verstanden wissen, und deshalb sieht er die Diskussion des Buches als Skandalon deutlich das Thema verfehlen. Jens Jessen von der Zeit stört an Unterwerfung die geplante Tabuverletzung, und wenn er sich dann doch herablässt, den Roman als Kunstwerk ins Auge zu fassen, wirft er ihm „Wurschtigkeit in der Durchführung der leitenden Idee“ vor.
Für Wolfgang Paterno im profil ist das Buch „viel mehr als nur ein Roman“, weil es vielfach wie ein Zaubertext über die Zustände in unserer europäischen Wirklichkeit benützt wird. Und doch unternimmt Paterno nichts anderes, als das Buch als Maßstab an die politische Wirklichkeit zu legen. Ein eigener Gedanke kommt ihm kaum jemals unter. Leider kein Einzelfall, sondern gängig gewordene Praxis im Feuilletonisten-Alltag.
Warum aber kaum je ein Wort über die Sprache, das eigentliche Elementarteilchen von Literatur? Mit der Tradition der französischen Aufklärung geht es bergab, und Michel Houellebecq ist der Prophet dazu. Eine recht bequeme Auffassung von Literatur eigentlich.