Unsere Hochzeit war laut auf die Weise, die Nachbarn stört, deshalb hatten wir sie alle eingeladen. Ein Zelt im Garten deiner Mutter, ein großes Zelt im großen Garten, hundertdreiundzwanzig Gäste, Kleinkinder nicht mitgezählt, alle unsere Freunde und einige Verwandte, die Nachbarn und ein DJ, den ich mit einer langen Playlist ausgestattet hatte. Neulich, als ich mir – ein letztes Mal – die Fotos angesehen habe, dachte ich: Das war ein gelungenes Fest.
Das mit den Anrufen fing fünf Monate vor unserer Hochzeit an, und ich erinnere mich genau an den ersten. Ich erwachte kurz nach halb eins, während du so tief schliefst, dass du die sich wiederholende fünfteilige Tonfolge nicht hörtest. Ich stand nicht sofort auf, denn ich dachte, dass sich jemand verwählt haben musste. Spätestens nach dem dritten Klingeln, wenn der Anrufbeantworter anspringen und deine Ansage abgespielt würde, wäre dem Anrufer klar, dass er sich verwählt hatte. Aber es klingelte nach einer kurzen Unterbrechung erneut.
Das Telefon stand auf der Bauernkommode, die ich im Sommer während meines Urlaubs abgebeizt und geölt hatte. Sie erinnerte mich an die heißen Tage, die ich in der Garage verbracht hatte, der Kühle atmende Beton um mich, die Chemikalien, mit denen man sich in Sekundenschnelle verätzen konnte, in meinem Kopf nur Watte, kein Termindruck und nur das eine Ziel, dieses Möbelstück herzurichten. Nun stand sie an der Wand gegenüber der Balkontür, ein schöner Ort, wo das Holz in der Nachmittagssonne einen güldenen Glanz annahm.
Nachts hingegen war sie bloß ein grauer Gegenstand, der sich schemenhaft von der Wand abhob, ich glaube, in jener Nacht habe ich sie zum ersten Mal im Dunkeln gesehen. Wir hatten ein schon damals veraltetes Telefon mit Hörer und Kabel, und als ich abnahm, meldete ich mich nicht mit meinem Namen, sondern mit einem „Hallo“, denn noch immer ging ich davon aus, dass der Anruf weder dir noch mir galt.
„Ich will Markus sprechen“, sagte eine Männerstimme. Ich fühlte mich durch diesen Befehl ohne jedwede Entschuldigung für die nächtliche Störung sofort angegriffen, obwohl die Stimme nicht resolut klang – Inhalt und Ton passten nicht zusammen. Mein Puls pochte in den Ohren.
„Wer ist denn da?“
„Ich will Markus sprechen, ja?“ Das nachgeschobene Ja wie ein Schubsen.
„Moment“, sagte ich und legte den Hörer neben das Telefon, denn obwohl ich seine Stimme noch nie gehört hatte, ahnte ich, wer der Anrufer war.
Es war immer schwierig, dich zu wecken: Morgens um halb sieben, wenn wir aufstehen mussten, um zur Arbeit zu fahren, erst recht mitten in der Nacht. Ich berührte dich vorsichtig an der Schulter. „Ich glaube, dein Bruder ist am Telefon.“ Als hätte das Wort „Bruder“ einen elektrischen Stoß in dein Hirn geschickt, bist du aufgeschreckt und sofort ins Wohnzimmer geeilt.
Du hattest die Türen offen stehen lassen, und während der ersten Minuten hatte ich versucht, etwas zu hören, aber du hast kaum gesprochen, nur ein gelegentliches leises Murmeln klang durch den Flur, also schloss ich die Schlafzimmertür und schlief weiter.
Als ich gegen fünf Uhr wach wurde und du nicht neben mir lagst, stand ich auf, um nach dir zu sehen – und da saßt du, im Dunkeln auf dem Fußboden, mit dem Rücken an die Kommode gelehnt, eingewickelt in die dunkelrote Wolldecke, die immer auf dem Sofa lag. Ich stand im Türrahmen und gab dir ein Zeichen aufzulegen, aber du sahst mich nur müde an und schütteltest langsam den Kopf.
Eine Stunde später hast du dir in der Küche Frühstück gemacht. Du hast immer Kellogg’s Smacks mit reichlich Kakaopulver und warmer Kuhmilch gegessen, jeden Morgen dasselbe, und das hat mich etwas angeekelt, denn ich kann den Geruch warmer Kuhmilch kaum aushalten und auch nicht das Geräusch der Smacks, wenn sie sich mit Flüssigkeit vollsaugen – ein leises Quellen und Knistern.
„Was war denn los?“, habe ich dich gefragt.
„Ich möchte nicht drüber reden“, hast du geantwortet, „nicht jetzt.“
Wir fuhren dann gemeinsam zur Arbeit, ich setzte dich, wie jeden Morgen, bei deiner Firma ab und fuhr weiter in meine Praxis. Im Gegensatz zu mir hattest du geregelte Arbeitszeiten, deshalb fuhrst du fast täglich mit dem Zug um 16:48 Uhr zurück. Manchmal, wenn ich um diese Zeit gerade etwas an der Anmeldung zu tun hatte und mein Blick auf die große Wanduhr fiel, dachte ich: „Gleich fährt seine Bahn“ oder „Jetzt sitzt er schon im Zug.“
Ich fuhr erst zurück, wenn alle gegangen waren. Und diese eine Stunde, die ich dann täglich allein im Auto verbrachte, wurde in jener Zeit immer mehr zum Highlight, und vielleicht hätte mir das zu denken geben sollen. Aber das tat es nicht, ich stieg einfach ein und drehte meine Musik auf und gab mich ihr hin, wie ich es schon immer gemacht habe, wenn ich mit mir allein war und nichts anderes wollte.
Du hast mir auch während des Abendessens nichts über das nächtliche Telefonat erzählt und erst als du danach zur Kommode gingst, um zu prüfen, dass der Anrufbeantworter ausgeschaltet war, stand es wieder zwischen uns, denn ich habe dich dabei beobachtet und du hast es gemerkt.
„Meinem Bruder geht es ziemlich schlecht, kann sein, dass er nochmal anruft“, hast du gesagt.
Auch in der zweiten Nacht hast du das Telefon nicht gehört, aber diesmal stand ich nicht auf, sondern rüttelte an dir, bis du wach warst. Erst später, als ich dich schluchzen hörte, ging ich ins Wohnzimmer, um nach dir zu sehen. Da saßt du, wieder in die Wolldecke gehüllt, dein Oberkörper nach vorn gekrümmt, bebende Schultern. Ich setzte mich neben dich auf den Boden und wollte dir den Arm um die Schultern legen, aber du hast meine Berührung abgewehrt und so stand ich wieder auf und ging zurück ins Bett.
Am nächsten Morgen hast du mir gesagt, dass du nicht arbeiten könntest; zwei Nächte in Folge ohne nennenswerten Schlaf, du fühltest dich erschöpft und übermüdet und müsstest dich einen Tag krankmelden.
Zwei Stunden musikalische Hingabe für mich.
Mein Leben. Dein Leben.
Dein Bruder. Dein Bruder.
Auch am nächsten Tag konntest du nicht arbeiten. Da es ein Freitag war, beschloss ich, die Nacht in der Stadt mit Mareike zu verbringen, zu tanzen, zu trinken. Als wir im Morgengrauen den Club verließen, Arm in Arm und gut gelaunt, dachte ich an deine zusammengekauerte Gestalt, die gerade auf dem Fußboden vor der Kommode sitzen würde. Ich erzählte Mareike davon. Sie konnte nicht begreifen, dass ich nichts wusste, und hörte während des ganzen Weges zurück zu ihrer Wohnung nicht auf, mir Fragen zu stellen, auf die ich keine Antworten hatte.
Als ich gegen Mittag nach Hause kam, fand ich vor der Kommode die zurückgelassene Decke und eine geleerte Flasche Rotwein, du lagst im Schlafzimmer in einem komatösen Schlaf. Später am Tag, du schliefst noch immer, ging ich ins Fitnessstudio und von dort auf ein Konzert. Du hattest die beiden Karten in der Küche auf die Anrichte gelegt und auf einen Zettel geschrieben, dass du keine Lust auf das Konzert hättest und zu Hause bleiben würdest.
Als ich gegen Mitternacht zurückkam, warst du schon wieder am Telefon. Neben einer Weinflasche lag eine aufgerissene 300-Gramm-Milka-Mandel-Karamell-Packung. Ich blieb im Türrahmen stehen und hob meine Hand zu einem stummen Gruß, du nicktest mir zu. Während ich mir die Zähne putzte, stellt ich mir vor, wie es in einem Magen aussieht, mit einem Viertelkilo Schokolade und einem Dreiviertelliter Rotwein drin. Wie der Teig eines Rotweinschokorührkuchens, beschloss ich.
Weshalb er immer nachts anrief – ich habe dich nie gefragt. Ich ahnte, dass es etwas mit seinem Leben zu tun hatte, er war zu diesem Zeitpunkt in Rumänien, niemand wusste genau wo, und er hätte es auch nicht gesagt, denn er fühlte sich verfolgt von euch, von dir und deiner Schwester, die wenige Monate später meine Schwägerin wurde, und von deiner Mutter, die ihm monatlich tausend Euro überwies, „wegen ihres schlechten Gewissens“, wie du mir erklärtest.
Die Telefonate gingen noch mehrere Nächte weiter, eine lange Anklage, von der du mir mittlerweile einiges, nicht alles erzählt hattest. Du und deine Schwester, ihr hättet ihn alleingelassen, seid damals einfach ausgezogen, zu einem Zeitpunkt, als es schlimmer zwischen euren Eltern wurde, als der Vater immer seltener nach Hause kam und die Mutter sich am frühen Abend zurückzog, um sich in der Intimität ihres Schlafzimmers mit Sherry in den Schlaf zu trinken. Er, ganz allein im großen Haus, niemand für ihn da, das sei der Punkt gewesen, an dem es mit ihm bergab gegangen sei, und nichts hättest du unternommen, um ihm zu helfen. Eure Schwester traf eine geringere Schuld, denn sie war die Älteste und gleich zu Beginn ihres Studiums schwanger geworden, nein, sie konnte nicht bleiben. Aber du, du hättest die Wahl gehabt, hättest in Frankfurt auch dann studieren können, wenn du nicht ausgezogen, sondern bei ihm geblieben wärst, um ihn zu beschützen.
Es brachte nichts, dich daran zu erinnern, dass du mir eine andere Version erzählt hattest, nichts, darauf hinzuweisen, dass das Ganze zwölf Jahre zurücklag.
„Kann sein“, sagtest du, „aber für ihn ist es aktuell, er fühlt das so, es ist seine Realität.“
Nach nicht einmal zwei Wochen hattest du dich vollständig schuldig bekannt, gesagt: „Es tut mir alles so leid“, geweint und wieder geweint und ihn gefragt: „Was soll ich machen? Wie kann ich dir jetzt helfen?“
Ich vermute, er hat dir darauf nichts Schlüssiges geantwortet; es ging hauptsächlich darum, dass du dich schuldig bekennst, so viel glaubte ich zu verstehen.
In den folgenden Wochen wurden die Anrufe seltener, hörten aber nicht auf. Einmal ertappte ich mich dabei, wie ich dachte, dass die regelmäßigen Anrufe berechenbarer gewesen waren als der neue Zustand, denn nie wusste ich, ob uns eine störungsfreie Nacht bevorstand oder ob irgendwann zwischen Mitternacht und Morgengrauen das Telefon klingeln würde.
Du warst jetzt ein Verurteilter. Ein Verurteilter im Pyjama, den ein erratischer Wärter des Nachts aus seiner Zelle zerrte, um ihn ein bisschen zu quälen. Ein paarmal meldete ich dich krank, weil ich dich morgens deliriös auf dem Sofa vorfand, der ganze Raum ein Gestank, und als du eines Nachts eine halbe Flasche Whiskey getrunken hattest, weil die Weinvorräte aufgebraucht waren, konnte ich es nicht mehr aushalten.
„So geht das nicht weiter“, habe ich dich angeschrien, „du machst dich hier kaputt! Es geht nicht, dass du dich krankmeldest, es geht nicht, dass wir nicht mehr ungestört schlafen können, es geht nicht, dass du dir jede Nacht die Kante gibst!“
Du bist ganz ruhig geblieben und hast gesagt: „Du hast recht. Ich rede mit ihm.“
Als du mir am folgenden Morgen sagtest: „Ich habe ihn überzeugen können. Er kommt zurück“, bin ich blass geworden, das habe ich gespürt. Du hast es nicht gesehen oder ignoriert, aber ich weiß es genau.
Eine ungewollte Angst lag in meiner Stimme, als ich fragte: „Das bedeutet?“
„Dass er zurück nach Deutschland kommt, nach Mainz, da finden wir am ehesten eine Wohnung für ihn.“
Wir, das war am Ende eure Mutter, denn die verkehrte in solventen Kreisen, in denen es Immobilienbesitzer gab, die ihren Bekannten solche kleinen Gefallen tun konnten. Immerhin: Mainz war gute fünfhundert Kilometer entfernt.
Ein Umzug musste nicht organisiert werden, denn er besaß nichts. „Sogar seine Gitarre hat er nicht mehr“, hast du gesagt, bedauernd.
Er hatte sich für so talentiert gehalten, dass er nach dem Abitur nicht einmal versucht hatte, an der Musikhochschule aufgenommen zu werden. Er würde auch so reüssieren. Zwei Nachwuchspreise hatte er gewonnen, mit selbst komponierten Songs, du hast sie mir mal vorgespielt, und wirklich, sie waren richtig gut. Musik, die originell und dennoch eingängig war, Texte, die klangen wie Poesie. Aber zum Stand-up-Star hatte es trotzdem nicht gereicht.
Ein Super-Gitarrist ohne Gitarre, habe ich gedacht und mir vorgestellt, wie er sie zertrümmert hatte, um sich an einem kleinen Feuer die klammen Hände zu wärmen, da unten, in Rumänien, dem idealen Auswanderland.
Deine Schwester hat ihn am Bahnhof in Empfang genommen, und sie war es auch, die Möbel, Geschirr und Bettwäsche organisiert hatte. Sie hatte ihm auch ein Pre-Paid-Handy gekauft, doch das hatte er abgelehnt, denn er wollte vermeiden, dass ihr ihn „jederzeit orten“ konntet.
Wenige Tage nach seiner Ankunft rief er an, ausnahmsweise am Nachmittag. Ich ging schon seit längerem nicht mehr ans Telefon und saß an unserem Esstisch, der, wie ich gleich erfahren würde, nicht mehr unser Tisch war und es eigentlich auch nie gewesen war.
„Ja, klar weiß ich das“, sagtest du in den Hörer, während du vor der Kommode standest, das Telefonkabel innerhalb kürzester Zeit mehrfach um deine Hand gewickelt. „Kein Problem, wir organisieren das.“ Diese Mischung aus Furcht und Verständnis in deiner Stimme, die ich vor Beginn der Anrufe nicht gekannt hatte.
Der Tisch gehöre deinem Bruder und der wolle ihn nun wiederhaben, hast du mir erklärt. Ich lachte kurz auf: „Und dafür mieten wir jetzt einen Transporter und fahren schlappe tausend Kilometer durch die Republik, oder was?“ Aber schon während ich es sagte, ahnte ich, dass du einfach nur bejahen würdest.
Es war ein älterer Tisch aus Kiefernholz, schlichtes Modell, mit einer Schublade an einer Seite, die wir nie benutzt hatten. Nichts an diesem Tisch war besonders und sein Zustand war lamentabel, denn unser Raclette-Gerät war darauf durchgeschmort und nun befand sich in der Mitte eine viereckige Brandverfärbung. Ich schlug dir vor, ihm hundertfünfzig Euro zu geben, dafür würde er mindestens ein ebenbürtiges Modell bei Ebay-Kleinanzeigen bekommen, aber du wolltest davon nichts wissen. Also mieteten wir einen Kleintransporter und fuhren den Tisch nach Mainz.
Es war Anfang Mai, ein ungewöhnlich warmer Tag. Die Wohnung befand sich am Rande der Altstadt, ruhige Lage, Seitenstraße mit Baumbestand, Blick auf einen gepflegten kleinen Platz mit Spielgeräten und Bänken. Deine Mutter hatte wirklich gute Kontakte.
Wir hoben den Tisch aus dem Transporter und du sagtest: „Klingel bei Samsa!“ Auf meinen fragenden Blick antwortetest du: „Er will nicht, dass sein richtiger Name auf dem Klingelschild steht.“
Samsa, wie originell, dachte ich.
Im zweiten Stock angekommen, stand dein Bruder bereits in der Tür. Er war noch dünner als du, etwas kleiner, wirkte gute zehn Jahre älter, als er war, trug ein verschlissenes T-Shirt undefinierbarer Farbe und eine viel zu weite Jogginghose, die er mit einem Ledergürtel in der Taille fixiert hatte. Als wir uns mit dem Tisch an ihm vorbeischoben, sah ich, dass er einen seiner Brillenbügel mit grauem Gewebeband am Gestell befestigt hatte. Sein Haar musste er kurz zuvor geschoren haben, mit seinem feinen Flaum auf dem Kopf erinnerte er mich an Patienten kurz nach der Chemotherapie, wenn ihre Körper wieder mit dem normalen Funktionieren rangen.
In der Wohnung war es heiß und stickig, ein säuerlicher Geruch ungelüfteter Räume, der nicht zu der angenehmen Leere passte. Nachdem wir den Tisch abgestellt hatten, berührte ich einen der Heizkörper, kurz nur, denn reflexartig zog sich meine Hand zurück von dem heißen Metall.
„Ziemlich warm hast du’s hier“, sagte ich.
„Arschloch“, sagte er.
Mehr Dialog haben wir nie zustande gebracht.
Ich drehte mich um und ging zurück zum Transporter, du bliebst noch einige Minuten bei ihm, dann fuhren wir nach Hause. Während der Fahrt wolltest du mir von ihm erzählen, aber ich wollte nichts hören.
In den folgenden Wochen hast du so viel mit deiner Schwester und deiner Mutter telefoniert wie nie zuvor. Einiges musste für ihn organisiert werden, aber zu viel durfte es nicht sein, denn ihr befürchtetet, dass er dann wieder seine Sachen packen und verschwinden würde. Er lehnte einen Termin beim Internisten ab, obwohl er dir von seinen ständigen Magenschmerzen berichtetet hatte, wollte mit keinem Psychotherapeuten reden, erst recht nicht mit einem Psychiater, bloß einen Zahnarzt wollte er. Den bekam er.
Die Vorbereitungen für unsere Hochzeit waren zu diesem Zeitpunkt bereits in vollem Gange, das Zelt bestellt, Cateringservice und Florist beauftragt, die Einladungen seit Monaten verschickt – keine an deinen Bruder; das meiste war vor den Anrufen und vor seiner Rückkehr geschehen. Seit Wochen fragte ich mich, wann du auf das Thema zu sprechen kommen würdest. Ich wollte ihn nicht einladen, denn ich fand ihn unzumutbar und befürchtete Szenen, deshalb beschloss ich, seine Beleidigung zum Anlass für meine Weigerung zu nehmen. Aber das Gespräch sollte niemals stattfinden.
Der Juni war kühl und regnerisch und ich hatte viel zu tun; die Leute hatten Schnupfen oder waren heiser und beschwerten sich die ganze Zeit über den miesen Sommer. Ich schrieb ihnen Krankmeldungen, empfahl Ruhe und Ibuprofen und dachte, dass sie sich nach einer Woche Sonne über die Hitze beklagen und mit Schwindelanfällen und Sonnenstichen im Wartezimmer sitzen würden. Es war in dieser Zeit, als ich anfing mich zu fragen, weshalb wir eigentlich beschlossen hatten zu heiraten. Ich dachte: Man sagt an diesem Tag der Trauung „Ja“ zum anderen, man heiratet, weil man etwas miteinander vorhat. Aber ich hatte nichts Bestimmtes mit dir vor, nicht einmal Wünsche hatte ich. Du wolltest Kinder; aber nicht sofort, du wolltest mit mir zusammenleben; das taten wir bereits. In den letzten Monaten hatten wir, abgesehen von der Feier, nichts geplant, nicht einmal eine anschließende Reise. Leere füllte mich aus und ich fragte mich, ob die nächtlichen Anrufe etwas damit zu tun hatten.
Die Hochzeit war für den 18. August angesetzt, da würden alle zurück aus den Sommerferien sein und die Wahrscheinlichkeit, dass das Wetter mitspielen würde, war groß. An einem Samstag Ende Juni, an dem ich gemeinsam mit Mareike mein Hochzeitskleid aussuchte – „reichlich spät“, fand die Verkäuferin –, kippte etwas in unserem Leben. Als ich gegen Abend nach Hause kam, saßt du auf dem Balkon, vor dir auf dem Tisch ein aufgeschlagener Notizblock, in deinem Schoß ein Buch, das ich nie zuvor gesehen hatte. Zwei Zitate hattest du herausgeschrieben:
„Der Wütende verweigert einem Menschen, den er für erlittene Schmerzen oder Kränkungen verantwortlich macht, die Empathie. Seine Wahrnehmung reduziert diesen Menschen auf ein einziges Merkmal: Ursache der Versagung zu sein.“
„Hass geht aus der Wut hervor. Im Unterschied zu Wut hat Hass keine anfallartige Struktur mehr. Er ist dauerhafter, wobei seine Dauerhaftigkeit aus seiner Integration in die Charakterstruktur einer Person resultiert.“
Du sahst, dass ich die Textstellen las, und sagtest: „Ich glaube, mein Bruder hasst mich. Und ich bin schuld daran. Ich kann das nicht aushalten.“ Dann hast du mir von dem Gespräch erzählt, das du mit ihm geführt hattest, während ich in einem Brautmodengeschäft Champagner getrunken und Kleider anprobiert hatte.
Was ich dir nicht gesagt habe: Das war der erste Abend, an dem ich den Stecker aus der Telefonbuchse zog.
Da ich morgens als Erste aufstand, war es nicht schwierig, es vor dir zu verbergen. Ob dein Bruder in den folgenden Nächten versucht hat, dich anzurufen, weiß niemand. Einmal hat er eure Mutter angerufen, aber sie hatte eine andere Strategie als du: Sie sagte ihm, dass sie eine alte Frau sei und ihren Schlaf brauche, gerne würde sie sich mit ihm unterhalten, aber nicht mitten in der Nacht am Telefon. Gespräch beendet.
Dass er das als Beweis ihrer fortgesetzten Gewaltherrschaft über ihn interpretierte, erfuhren wir von deiner Schwester. In den Monaten, die er dort, drei Kilometer entfernt vom Haus eurer Mutter, gewohnt hatte, hatte er sich kein einziges Mal mit ihr getroffen.
Das nächtliche Stilllegen unseres Telefonanschlusses war mir schnell zur Gewohnheit geworden, ich dachte kaum noch darüber nach. Umso mehr erschrak ich, als ich am 21. Juli gegen halb sieben den Stecker einsteckte und das Telefon sofort klingelte. Ich nahm ab und hörte die bebende Stimme deiner Schwester, sie weinte, war aufgelöst. Etliche Male habe sie seit dem Vorabend versucht, uns zu erreichen, ob wir das Telefon denn nicht gehört hatten?
Ich beschloss, auf diese Frage niemals zu antworten.
Habe ich mir in den folgenden Wochen vorgestellt, wie dein Bruder nächtelang vergeblich versucht hat, dich anzurufen? Mich gefragt, ob er sich im Stich gelassen und in seiner Wahrnehmung der Welt als feindlicher Ort bestätigt gefühlt hatte, weil du nicht mehr ans Telefon gegangen warst? Fühlte ich irgendeine Schuld?
Die Antwort ist Nein, und manchmal habe ich
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