Mrs. Sussman ließ die Haustür hinter sich zufallen und rückte in ihren Armen zwei riesige braune Papiertüten mit Einkäufen fürs Abendessen zurecht, als sie den schäbigen roten Teppich im Flur betrat.
Augenblicklich erschien auf der Treppe zu den Zimmern im Erdgeschoß Mrs. Engel, ihre Hauswartin.
„Ach, Sie sind’s“, rief sie enttäuscht.
„Wen haben Sie denn erwartet, meine Liebe“, erwiderte Mrs. Sussman gereizt. „Ein neuer Mieter hätte ja wohl geklingelt.“ Mrs. Engel betrachtete sie aus gutmütigen, müden Augen und sagte zögerlich:
„Vor einer Stunde ist eine Frau hier gewesen.“
Plötzlich glühten die hageren Züge von Mrs. Sussman vor Interesse.
„Vermietet?“, fragte sie. Ihr scharfer Blick traf das ältliche, schlichte Gesicht ihrer Angestellten, das von zwei hochgesteckten Zöpfen gekrönt war.
„Nein, es war zu teuer für sie … sieben Dollar für zwei Personen – für so ein schönes Zimmer, Kochnische, dreiflammiger Herd, Balkon mit Hudsonblick, wenn man sich ein bisschen hinauslehnt …“
Kapitel 1 – Leseproben aus neuen Büchern
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Mrs. Sussman stoppte sie und verschob ungeduldig eine Tüte auf ihren rechten Arm. „Sie hätten ein Angebot über $ 6.50 machen können.“
„Auch das hätte sie nicht bezahlen können. Sie sagte, sie seien erst gestern hier angekommen und könnten das jetzige Zimmer nicht halten. Sie kann nicht mehr als sechs Dollar pro Woche ausgeben.“
„Für den Preis wird sie nichts finden …“, bestätigte Mrs. Sussman.
„Nein … wird sie nicht … kein Zimmer wie die unseren … vielleicht ein dunkles Loch mit Kakerlaken …“, sagte Mrs. Engel. Ihr Blick verriet, dass ihr der Gedanke gefiel, eine Mieterin, die sieben Dollar verweigerte, müsse mit Kakerlaken leben.
Mrs. Sussman gönnte diese Mieter niemand anderem und fasste einen Entschluss. Resolut stellte sie ihre Tüten auf einen rissigen Ledersessel und verlangte: „Telefonnummer und Name! Sie haben doch alles notiert?“
Mrs. Engel zog einen fast leeren Zettel aus ihrer Schürzentasche und reichte ihn weiter.
„Hier. Sie wollte erst nicht. Dann hat sie gesagt: ‚Was soll’s? Wir können zwar weder sieben Dollar noch sechseinhalb Dol- lar zahlen. Auch sechs wären …‘“
„Dr. Robert Schicht“, las Mrs. Sussman. „Ein deutscher Name.“
„Sie sagte, sie seien aus Wien“, wandte Mrs. Engel ein.
„In Wien gibt es auch genügend Nazis. Nach Labor Day würde ich sie nicht nehmen. Aber jetzt muss ich jeden akzeptieren. Ich rufe sie an.“
Mrs. Sussman drehte an der Wählscheibe. Nach einer kurzen Pause sagte sie: „Mrs. Schicht, bitte“, und ein paar Augenblicke später hörte man sie in lautem, freundlichen Ton wie zu ihrer besten Freundin sagen: „Oh, Frau Schicht, es tut mir so leid, dass ich Sie verpasst habe. Ich bin Mrs. Sussman, die Vermieterin von 300 West 97th Street. Warum keinen Zweck? Meine Hauswartsfrau konnte nicht wissen, dass ich etwas für Sie habe, das Ihnen sicherlich gefallen wird – ein schöner Raum, sogar mit kleiner Küche, sehr kühl; zwei große Schränke, mit Balkon vor Ihrem Fenster … ja, sehr preiswert, nur $ 5.50. Okay, ich erwarte Sie in einer halben Stunde.“
Sie legte den Hörer auf und Mrs. Engel blickte sie vorwurfsvoll an.
„Ich musste es ihr so billig geben, sonst hätte sie nicht angebissen. Besser $ 5.50 als gar nichts. Haben Sie gewischt und die Möbel abgestaubt, meine Liebe? Aber eigentlich ist es für das Geld, das sie zahlen, sauber genug. Natürlich wird sie das Zimmer selber putzen. Eigener Mopp und eigene Putzmittel. Würde der Kongress nur ein Gesetz verabschieden, dass Zimmer nur jährlich vermietet werden dürfen. Jeden Sommer diese Quälerei. Aus den großen Wohnungen ziehen sie in die Resorts, aus den kleinen in die Camps und trotz allem muss ich mich gegenüber dem Eigentümer verantworten und Sie, meine Teuerste, bezahlen …“
Mrs. Engel senkte den Kopf, als sei sie zurechtgewiesen worden, nahm die Tüten vom Sessel und trottete hinter Mrs. Sussman, die auch ihre Vermieterin war, zu ihrer Wohnung im ersten Stock.
Eine halbe Stunde später kündigte das Klingeln der Haustür das Kommen von Frau Schicht an. Sie wirkte nicht sonderlich attraktiv. Der Schweiß hatte ihre Dauerwelle in kleine, steif aufragende Kringellöckchen verwandelt, ihr Make-Up weggewaschen und einen gelblicher Teint und blasse Lippen zum Vorschein gebracht. Und vielleicht hatten die Sorgen der vergangenen Jahre zusätzlich Spuren im Gesicht der etwa vierzigjährigen Frau hinterlassen. Ihre Züge waren ungleichmäßig; allein die großen hellbraunen Augen, nachdenklich und außergewöhnlich ausdrucksvoll, verliehen ihr Anmut. Momentan blickten sie erschöpft.
Kein Wunder: in ihrem hochgeschlossenen langärmeligen und eng taillierten Kleid aus dunkelblauem Crêpe, das vielleicht für kühle Sommertage in Frankreich oder Zentraleuropa geeignet war, musste sie sich schrecklich unwohl fühlen.
„Meine Güte“, sagte sie, nach Luft schnappend wie ein Fisch, als sie in den braunen Ledersessel in der Diele sank, „ist es hier immer so heiß im Sommer?“
„Bringen Sie der Dame ein Glas Eiswasser, meine Liebe“, beauftragte Mrs. Sussman ihre Haushälterin; dann wandte sie sich mit strenger Stimme an die künftige Mieterin: „Heiß oder nicht heiß, wir müssen Gott und diesem Land danken, dass wir hier sein dürfen.“
„Ich danke Gott und ich bin dankbar“, erwiderte Frau Schicht, „aber ich fühle mich, als würde ich zerfließen und ich bekomme kaum Luft …“
„Sie werden sich daran gewöhnen“, versicherte Mrs. Sussman, und wies auf das Glas mit den darin schwimmenden Eiswürfeln, das Mrs. Engel auf einem Tablett hereintrug. Dann fügte sie hinzu: „Trinken Sie jetzt Ihr Wasser und dann schauen wir uns das Zimmer an. In einer halben Stunde kommt der nächste Bewerber.“ Frau Schicht ergriff das Glas, nahm ein paar Schlucke, hielt inne, trank nochmals und ihr Gesicht drückte Erleichterung, beinahe Entzücken aus. Dann stellte sie das Glas mit den langsam zerschmelzenden Eiswürfeln auf das Tablett zurück und lächelte Mrs. Sussman und Mrs. Engel anerkennend zu. „Vielen Dank“, sagte sie: „Wie bekommen Sie nur so regelmäßige Eiswürfel hin?“
„Das macht der Kühlschrank“, erwiderte Mrs. Sussman knapp und erhob sich. „Wenn Sie mir folgen möchten, Frau … Frau …“
„Schicht. Ja, natürlich, vielen Dank. Jetzt geht es mir besser.“
Aber schon im zweiten Stock stöhnte Frau Schicht bereits wieder und folgte ihrer Vermieterin mühsam nach oben. Mrs. Sussman nahm keine Notiz davon und ging langsam und ohne innezuhalten weiter. Aus langer Erfahrung wusste sie, dass es am besten war, Proteste von Mietern nicht zu beachten.
Frau Schicht bemerkte, dass sich auf jeder Etage zwei mit Nummern versehene Türen befanden. Nach dem dritten Stock endete der Treppenteppich. Die vierte Etage schien weitaus bewohnter als die unteren. Zwei Türen links, eine Tür geradeaus, gleich neben dem Badezimmer; drei rechts.
Mrs. Sussman wählte einen der am Schlüsselbund befindlichen Schlüssel und öffnete damit eine der rechten Türen. Die Nummer 10 war ein quadratischer Raum, nicht besonders groß, aber hell und schön eingerichtet. Zwei ähnlich aussehende Sofas, ein großer Tisch, ein kleiner mit Aschenbecher, ein hübsches Bücherregal, ein Schreibtisch – alles aus gutem Holz gefertigt, wenn auch hier und da etwas angekratzt. Die Bilder an den Wänden waren ordentliche Reproduktionen bekannter Meister, die Vorhänge harmonierten mit der Einrichtung. Die „rooming houses“ glichen Wohnheimen. Hier sah es eher wie in einer eleganten Privatwohnung aus.
Mrs. Sussman erklärte, warum: „Die Einrichtung gehört der Vormieterin. Die Möbel bleiben den Sommer über hier stehen und ich darf sie mitvermieten. Im Herbst wird sie alles abholen und Sie bekommen andere Sachen.“
„So schöne wie diese?“
„Ich werde sehen, was ich tun kann“, erwiderte Mrs. Sussman kühl. „Aber Sie werden verstehen, dass ich bei einer so niedrigen Miete keine neue Einrichtung anschaffen kann. Dort …“ – sie zeigte zum rechten Fenster, „dort ist der Balkon, Sie müssen ihn mit dem Mieter des Nebenzimmers teilen, wenn es vermietet ist. Wenn Sie die Tür aufmachen, haben Sie Durchzug. Die Leute zahlen hier im Sommer fünfzehn bis zwanzig Dollar für Wohnungen, die sich anständig lüften lassen, aber ich verlange von Ihnen dafür nichts extra. Und hier – ein großes ‚closet‘.“
„Mitten im Raum?“, fragte Frau Schicht erstaunt.
„Wir sagen in Amerika closet zu einem Schrank“, erklärte Mrs. Sussman. Sie verließ das Zimmer und öffnete eine Tür zu ihrer Rechten. „Hier ist die Küche.“ Die „Küche“ war ein kleiner, fensterloser Kasten, mit einem Mülleimer und einem Tisch, auf dem ein rostiger, zweiflammiger Herd stand.
„Bis die anderen Zimmer vermietet sind, können Sie alles allein nutzen“, sagte Mrs. Sussman, „es gibt noch eine andere Dame auf der Etage. Sie wohnt in dem Zimmer mit dem Dachfenster. Sie arbeitet als Krankenschwester und ist kaum zuhause.“
„Aber wo soll ich kochen?“, fragte Frau Schicht.
„Wo? Sehen Sie den Herd nicht?“
„Nein, ich meine, wo soll ich das Essen zubereiten, Kartoffeln schälen und so?“
„Hier ist das alles nicht so aufwändig wie in Europa. Man öffnet Dosen. Aber ich gebe Ihnen ein Regal. Sie können Ihre Teller auf das mittlere Regalbrett stellen und auf dem oberen kochen. Für einen zweiten Tisch gibt es hier keinen Platz.“ Die Tür schließend fügte sie hinzu: „Bisher haben alle Mieter es so benutzt und niemand hat sich beklagt.“
Dieses Argument machte immer Eindruck, und überzeugt davon, dass Frau Schicht keine weiteren Einwände wagen würde, setzte die Dame des Hauses die Tour durch die vierte Etage fort.
„Hier ist das Bad. Wenn die anderen Zimmer vermietet sind, müssen Sie sich einigen, wer wann duscht. Wir wollen nicht, dass jemand nach 11:00 Uhr den Boiler benutzt. Und hier ist die Eisbox. Sie sehen, sie ist groß genug.“ Sie öffnete die Box und zeigte auf eine Milchflasche und eine Butterdose:
„Die gehören der Krankenschwester. Sie müssen die Kosten für das Eis mit ihr teilen.“ „Wieviel?“ fragte Frau Schicht ängstlich.
„Ein kleines Stück kostet 10 Cent. Ich rate Ihnen aber, jeden zweiten Tag einen Block für 15 Cent zu kaufen. Im Winter brauchen Sie kein Eis, dann können Sie Ihr Essen auf den Balkon stellen. Sie sparen Geld. So einen Vorteil haben Sie sonst nirgends.“
Sie warf einen Blick auf Frau Schicht und erwartete, dass diese nun „In Ordnung, ich nehme das Zimmer“ sagen würde, aber Frau Schicht schien nicht zu begreifen, was sie zu tun hatte. Sie wägte ab. Und fragte dann: „Ist die Krankenschwester Amerikanerin?“
Obschon sie die Neugier ihrer zukünftigen Mieterin irritierte, ließ sich Mrs. Sussman dazu herab, ihr zu antworten.
„Nein, sie ist Flüchtling wie Sie, Mutter von fünf Kindern. Deutsch-Jüdisch natürlich … Ich würde keine Deutschen nehmen, und wenn sie mir 20 Dollar pro Woche zahlten …“ Sie hielt in der Erwartung inne, dass Frau Schicht jetzt sagen würde: „Wir sind natürlich auch Juden“, aber diese Frau hatte wirklich keine Ahnung, wie sie sich zu benehmen hatte. Statt die Fragen zu beantworten, die man höflich an sie richtete, stellte sie selbst unaufhörlich welche.
„Wohnen die Kinder mit im Dachgeschoss?“
Mrs. Sussman erwiderte kurz angebunden: „Sie sind in Deutschland“, und drehte sich zur Treppe. Machte sich diese Person lustig über sie oder was war da los? Es hatte sie fast zwanzig Minuten gekostet, alles zu erklären, das Abendessen war nicht zubereitet und Jack konnte jede Minute kommen. Dankbarkeit konnte man von solchen Leuten nicht erwarten. Da macht man es so billig und bequem, wie es nur geht, und immer noch glauben sie, dass sie nicht genug für ihr Geld bekommen.
Mrs. Sussman hörte Frau Schicht hinter ihr die Treppe hinabsteigen, drehte sich aber nicht um. Sie war fest ent- schlossen, sich nichts weiter von „dieser Person“ anzuhören und schnell und grußlos in ihre Wohnung zu verschwinden. So machte sie es, hörte aber dennoch Frau Schichts: „Auf Wiedersehen, Mrs. Sussman. Vielen Dank.“
Mrs. Sussman blieb bei ihrer Entscheidung und murmelte etwas Unverständliches.
„Wir ziehen morgen ein“, sagte Frau Schicht, die Hand am Türknauf. „Heute ist es zu spät.“
„Ja, natürlich. Warten Sie bitte einen Augenblick“, rief Mrs. Sussman, „einen Augenblick, kommen Sie herein. Ich muss ihnen noch eine Quittung ausstellen.“
„Quittung wofür?“
„Für die zwei Dollar, die Sie mir als Vorschuss geben.“ Frau Schicht blickte verblüfft.
„Entschuldigung“, sagte sie, „das habe ich nicht bedacht. Ich habe keine zwei Dollar bei mir.“
„In Ordnung. Dann geben Sie mir einen Dollar.“
„Ich habe gar kein Geld, aber ich kann Ihnen meine Handtasche da lassen, wenn Sie möchten.“
„Nein, ich will Ihre Tasche nicht. Gehen Sie heim und bringen Sie mir das Geld.“
„Es ist so heiß“, murmelte Frau Schicht.
„Sie müssen ja nicht laufen“, sagte Mrs. Sussman ermutigend. „Wo wohnen Sie jetzt? 74. Straße. Dann nehmen Sie die Straßenbahn am Broadway, das sind nicht mehr als 20 Minuten.“
Frau Schichts braune Augen blickten niedergeschlagen. War es die Enttäuschung, die ersehnte Dusche verschieben zu müssen? Oder die Notwendigkeit, zehn Cent auszugeben?
„Gut“, sagte sie schließlich, „wenn Sie kein Vertrauen in mein Wort haben, bringe ich Ihnen die zwei Dollar.“
„Das ist keine Frage des Vertrauens, das ist eine Frage des Geschäfts“, erwiderte die Vermieterin in milderem Ton. „Manche mieten ein Zimmer und ziehen dann nicht ein. Und mir entgehen andere Mieter.“
„Auf Wiedersehen“, sagte Frau Schicht ohne Lächeln.
„Ich reserviere das Zimmer für zwei Stunden“, versprach Mrs. Sussman generös. „Auf Wiedersehen. Die Haltestelle ist gleich ums Eck. Der Fahrtwind wird Ihnen guttun.“
Inzwischen war Jack zurück und durchsuchte den Kühlschrank nach Essbarem.
„Sei nicht so ungeduldig mein Lieber“, sagte Mrs. Sussman, „das Essen ist in zehn Minuten fertig. Bitte mach die Dosen auf und nimm Eiswürfel aus dem Fach, während ich die Koteletts brate. Ich habe Mieter für die 10.“
„Was für Mieter?“, fragte Jack auf der Suche nach dem Dosenöffner.
„Der Öffner ist immer in der Tischschublade; wenigstens das könntest du dir merken“, wies ihn Mrs. Sussman zurecht, salzte die Koteletts und fuhr fort: „Leute aus Übersee“, und als hätte sie vergessen, dass ihr eigener Geburtsort nicht allzu weit von dem ihrer neuen Mieter entfernt lag, fügte sie hinzu:
„Leute, die so wenig wie nur möglich zahlen wollen, aber Ansprüche wie Millionäre haben.“
Aus dem Englischen von Beate Swoboda.
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