Sehnsucht und Verachtung

Von Christoph Peters

Online seit: 28. Oktober 2024

Vermutlich reicht das überaus ambivalente Verhältnis von Städtern und Landbevölkerung bis in die Zeit der frühesten Stadtgründungen zurück und folgt in mehr oder weniger allen Kulturen ähnlichen Mustern.

Zuletzt war auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie die Flucht urbaner Freiberufler und Akademikerfamilien aufs Land zum Trend ausgerufen worden – die Angst vor dem tödlichen Virus und das Recht auf Home Office machten es möglich. Doch schon länger gibt es einen Boom bei Büchern und Zeitschriften, die das Landleben feiern. Darin finden sich ebenso rustikale Einrichtungsideen wie Tipps für den bäuerlichen Wildkräuterkarten oder Fotostrecken der letzten pflügenden Kaltblüter. Marktanalysen zeigen, dass es vor allem der gebildete Mittelstand ist, der diese Publikationen kauft. Dort unterhält man sich denn auch gern übers Marmelade-Kochen oder selbst eingeweckte Gurken, diskutiert diesen oder jenen Fersentyp bei handgestrickten Socken. In jüngster Zeit tauchen allerdings vermehrt Artikel reumütiger Rückkehrer auf, beschwören den neuen alten Abscheu vor der kleingeistigen Enge des Landlebens, der unausrottbar reaktionären Gesinnung der nativen Bevölkerung. Während der Neu-Gärtner selbstangesetzte Brennnessel-Jauche gegen Blattläuse auf seine Salatpflänzchen sprühte, wehten ihm die Insektizid-Nebel aus den Düsen einer zehn Meter breiten Feldspritze über den Zaun, mit der ein benachbarter Bauer alle nicht nutzbaren Lebensformen auf seinen Äckern ausrottete. Auf das Angebot eines klärenden Gesprächs, reagierte letzterer mit Geringschätzung oder der Androhung von Gewalt.

In diesem Szenario ist der Bauer nicht länger ein Rohling ohne Bildung und Manieren, sondern eine Art Halbbruder des „edlen Wilden“.

Unabhängig davon, was wirklich passiert, neigen wir dazu, derartige Erfahrungen nicht als konkreten Konfliktfall zwischen Individuen zu begreifen, sondern überhöhen sie umgehend zu signifikanten Beispielen für allgemeine oder typische Verhaltensweisen dieser oder jener Bevölkerungsgruppe. Dabei basiert das, was wir als exemplarisch wahrnehmen, fast immer auf weit zurückreichenden Typisierungen beziehungsweise Zuschreibungen: So wie sich die nach-modernen Landidyllen bis in die antike Bukolik zurückverfolgen lassen, greifen auch viele der neuen Anti-Provinz-Schriften auf Stereotype zurück, die seit Urzeiten den Blick urbaner Eliten auf die Landbevölkerung bestimmen: Demzufolge wuchern abseits der kommunikativen und kulturellen Zentren religiöse Bigotterie und politische Engstirnigkeit. Während im Zivilisationsraum Stadt fortschrittlich-diverse, global-ökologisch denkende Politiker gewählt werden, erhalten in den Käffern nationalkonservative bis rechtsradikale Dumpfbacken die meisten Stimmen.

Dem Klischee des tumben, rückwärtsgewandten Bauern steht das Gegenklischee unverbildeter Landmenschen in gesunder Umgebung gegenüber. In diesem Szenario ist der Bauer nicht länger ein Rohling ohne Bildung und Manieren, sondern eine Art Halbbruder des „edlen Wilden“, von authentischer Würde und mit einer geradezu mystischen Beziehung zur Erde und ihren Lebenszyklen, der dem kopflastigen Städter den Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Entfremdung zeigen könnte.

Auch in umgekehrter Richtung wechseln sich Anziehung und Abscheu ab: Einerseits bleibt die Stadt für alle, denen ihr Dorf unerträglich langweilig und eng erscheint, der sagenumwobene Fluchtpunkt, in dem sich individuelle Freiheit im Hinblick auf Lebensweise, Weltanschauung und nicht zuletzt Sexualität ausleben lässt, andererseits bietet die Anonymität großstädtischer Menschenmassen in labyrinthischer Architektur aus Sicht derer, die den eigenen Hof nur im Notfall verlassen, Raum für jede Art von Zügellosigkeit, Verderbnis und Verbrechen.

Wie bei allen Klischees handelt es sich bei diesen Zuschreibungen um grobe Verallgemeinerungen, andererseits bestätigen sozialwissenschaftliche Studien und Wahlergebnisse immer wieder, dass die Menschen auf dem Land tatsächlich eher zu traditionellen, häufig auf religiösen Grundlagen basierenden Wertsetzungen neigen und gesellschaftspolitischen Experimenten eher skeptisch gegenüber stehen. Dementsprechend drängt sich die Frage auf, ob es womöglich doch grundlegende Unterschiede in der täglichen Erfahrung des Lebens zwischen Stadt und Land gibt, die eine andere Sicht der Welt mit sich bringen.

Unsere frühen Vorfahren hatten eine Vielzahl von Gründen die Stadt als Lebensraum zu entwickeln: Neben verteidigungsstrategischen Vorteilen und den Möglichkeiten effektive Organisations- und Machtstrukturen zu etablieren, sind Städte immer auch der Versuch gewesen, die Unberechenbarkeit der Natur aus dem eigenen Leben soweit wie möglich heraus zu drängen. Die gewaltigen Mauern, mit denen sich die frühen Städte umgaben, dienten nicht nur dem Schutz vor Feinden, sondern sie hielten auch alles außen vor, was an Gefahren aus der nie wirklich beherrschbaren Wildnis in den menschlichen Siedlungsraum einbrechen könnte. Heutzutage wäre es im Zentrum einer Großstadt im Prinzip möglich, sein gesamtes Leben fernab jedweder Naturerfahrung zu verbringen.

Dagegen sind Menschen, die auf dem Land leben, Tag für Tag mit der Erhabenheit der Natur konfrontiert. Nach wie vor erscheinen die tausend Meter hoch aufragende Felswand, die Farben des Herbstlaubs, die Spiegelung des Mondes in einem See, aber auch der Pirol, der Schwalbenschwanz, die Türkenbundlilie als unbegreifliche Wunder, vor denen ehrfürchtiges Staunen die einzig angemessene Reaktion wäre. Auf der anderen Seite zeigt die Natur in ihrer totalen Übermacht, all unseren Versuchen, Gefahren zu bannen, Sicherheit herzustellen in Gestalt von Dürren, Fluten, Stürmen, Schneelawinen und Felsstürzen regelmäßig ihre Grenzen auf.

Die Attraktionen der Stadt sind dagegen allesamt Menschenwerk. In der Bewunderung für Kathedralen, Paläste, Wolkenkratzer, Fernsehtürme verehren wir unsere eigene Gestaltungskraft. Erst wenn der Blitz einschlägt, ein Orkan die Dächer abdeckt, Erdbeben Wohntürme zum Einsturz bringen, bricht die alte Angst vor der Natur wieder auf.

Auch ökonomisch unterscheiden sich Stadt und Land fundamental voneinander: Während die urbane Wirtschaft in ihrer unendlich diversifizierten Arbeitsteiligkeit größtmögliche Unabhängigkeit von natürlichen Gegebenheiten anstrebt, Ingenieurskunst, industrielle Fertigung, aber auch Verwaltung, Bankwesen und alle Arten Dienstleitung ganzjährig auf mehr oder weniger identische Weise ablaufen, ist die Landwirtschaft noch immer abhängig von den Abläufen der Natur. Aussaat, Wachstum und Ernte, Paarungszeit, Trächtigkeit, die Geburt von Lämmern, Ferkeln, Kälbern ergeben sich aus dem Zyklus der Jahreszeiten.

Womöglich liegt der latente Konservatismus der Landbevölkerung denn auch darin begründet, dass die Erfahrung der weit über das eigene Leben hinausreichenden Wiederkehr des Gleichen, bei letztlich totaler Abhängigkeit von einem freundlich gesonnenen Himmel eine größere Skepsis gegenüber der politischen Überzeugung mit sich bringt, dass der Mensch und die Verhältnisse, in denen er lebt, sich überhaupt grundlegend ändern lassen.

Zwar dominieren der urbane Raum und seine Wertsetzungen die öffentlichen Diskurse und der Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt beträgt in der EU inzwischen lediglich 1,4 Prozent, aber ihre Erzeugnisse bilden nach wie vor die Grundlage der menschlichen Existenz: Zuerst und vor allem anderen sind wir auf Nahrungsmittel angewiesen, noch immer besteht ein Großteil unserer Kleidung aus Wolle, Baumwolle, Leinen und Leder und der Rohstoff Holz, der in riesigen Waldflächen wächst, ist für die Bereitstellung und Einrichtung von Wohnraum unersetzlich.

Und so werden wohl auch in Zukunft ländlicher und städtischer Raum alternativlos aufeinander angewiesen bleiben und die sich aus der Verschiedenheit der Welterfahrungen ergebenen Unterschiede der Lebensentwürfe und Denkweisen wahlweise ertragen oder verklären, einander abwechselnd Spiegel und Kontrastmittel sein und so oder so ihren vor Jahrtausenden in Mesopotamien begonnen Dialog in produktiver Dissonanz fortsetzen.

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Der vorliegende Essay wurde für die Europäischen Literaturtage verfasst, die am 7. November in der Minoritenkirche in Krems mit einem Gespräch zwischen dem Autor Christoph Peters, der Philosophin Lisz Hirn und Katja Gasser eröffnet werden. Das volle Programm findet sich unter https://www.europaeischeliteraturtage.at