Über einen zu Recht Vergessenen schreiben bedeutet, ihn dem Vergessen zu entreißen. Otto Willi Gails Romane verdienen es, in einer Momentaufnahme wieder in Erscheinung zu treten, während sie im kulturellen Gedächtnis verblassen. Wer war Gail? In der Zwischenkriegszeit war er ein beliebter Verfasser technischer Zukunftsromane. In den USA, wo sich 1929 der Begriff Science-Fiction als Gattungsbezeichnung etablierte, gehörte er zu den prominenten deutschen Vertretern dieses Genres. Robert Godwin, der 2011 in seinem Verlag Apogee Space Books Hans Hardts Mondfahrt auf Englisch unter dem Titel By Rocket to the Moon neu auflegte, behauptet: „Otto Willi Gail was one of the most popular science fiction authors in Germany during the early 20th century.“
In Sachen Biografie hält Wikipedia sich kurz, deshalb hier einige genauere Auskünfte: 1896 im fränkischen Gunzenhausen in einer Kaufmannsfamilie geboren, studierte Gail von 1918 bis 1920 Elektrotechnik und Physik an der Technischen Hochschule München. Schon der Vater verfasste Beiträge zu technischen Problemen der Luftschifffahrt. Nach einem Zwischenspiel als kaufmännischer Angestellter debütierte Gail junior 1925 als Schriftsteller mit dem Roman Der Schuß ins All. 1926 folgte unter dem Titel Der Stein vom Mond eine Fortsetzung, die mit ihrem Zusatz „Ein kosmischer Roman“ Gattungsfarbe bekannte. 1928 und 1929 erschienen zwei weitere, für ein jugendliches Publikum geschriebene technisch-utopische Romane: Hans Hardts Mondfahrt und Energiesammler HaDeWe.
1929 veröffentlichte Gail noch den Erzählband Die blaue Kugel. Damit wäre der Weg für eine literarische Karriere geebnet gewesen, doch Gail wechselte die Richtung. Er wurde Sachbuchautor und Rundfunkredakteur; er schrieb Hörbilder für den Bayerischen, Berliner und Schweizer Rundfunk. Die Bücher trugen Titel wie Mit Raketenkraft ins Weltenall. Vom Feuerwagen zum Raumschiff (1928), Der Griff nach dem Atom (1947, 3. Auflage 1958; Neuausgabe 1962) oder Physik der Weltraumfahrt (1948, 2. Auflage unter dem Titel Weltraumfahrt 1958). In der NS-Zeit profilierte Gail sich als einer der beliebtesten Reporter und Ansager des Reichssenders München. Besonders erfolgreich waren seine Autofibeln, die er in den Dreißigerjahren verfasste und die mehrere Auflagen erlebten. Gail starb 1956 in München.
Nach 1945 erschien zu Lebzeiten und postum eine Reihe von Neuausgaben der Romane, u.a. in der Buchgemeinschaft Jung-Donauland und in der Reihe Heyne SF. Bereits in den 1920ern wurden einige Romane ins Russische und – unter den Titeln: The Shot into Infinity (1929), The Stone From the Moon (1930) und By Rocket to the Moon. The Story of Hans Hardt’s Miraculous Flight (1931) – ins amerikanische Englisch übersetzt. Alle drei sind neu aufgelegt worden und heute als Kindle-E-Books lieferbar.
Im Vorwort zu Der Schuß ins All nennt Gail Jules Vernes Von der Erde zum Mond als sein Vorbild, nicht ohne zu betonen, dass er dessen Fantasien auf den neuesten Stand aktualisiert habe und sein Roman keine Utopie mehr sei, sondern die Beschreibung eines schon bald realisierbaren Unternehmens. Hinsichtlich seiner naturwissenschaftlichen und technischen Kenntnisse war Gail Verne gewiss überlegen. Nicht durch einen Kanonenschuss, sondern durch Raketenantrieb wird bei Gail das Raumschiff zum Mond befördert. Der Autor hatte die Arbeiten der Pioniere der Weltraumfahrt mit Raketentechnik studiert: den Amerikaner Robert Hutchings Goddard und die Deutschen Hermann Oberth und Max Valier. Dieser beriet Gail beim Verfassen seiner Romane in wissenschaftlich-technischen Fragen. Dass wir heute eher Verne als Gail lesen, ist nicht eine Frage der wissenschaftlichen, sondern der literarischen Kompetenz.
Wie präsentieren sich Gails Romanfiguren? August Korf, der deutsche Ingenieurheld in Der Schuß ins All, ist, wie könnte es anders sein, „ein breitschultriger, blonder Hüne“. Um seinen Mondfahrtplan zu finanzieren, muss er eine öffentliche Sammlung veranstalten: „Ich vertraue auf die Urteilskraft des deutschen Volkes.“ Korf konkurriert mit „dem Russen“, genauer: dem „Klein-Russen“ Dimitri Suchinow. Trotz Finanzierungsschwierigkeiten weigert sich Korf, „ausländische Gelder“ anzunehmen: „[L]ieber vernichte ich meine ganze Erfindung, als daß auch diese Sache wieder ins Ausland wandert. Ist es nicht genug, daß – im Falle eines Weltkriegs – die Amerikaner uns mit unseren eigenen Z-Kreuzern bedrohen, die Japaner mit unseren Krupp-Schiffsgeschützen die Meere beherrschen und die Franzosen mit unseren Saarkohlen Stahl erzeugen? Wirklich – das Ausland ist gerüstet mit unseren eigenen besten Waffen, um nach Belieben über uns herfallen zu können, sobald sich ein Anlaß dazu bietet. Nein, Onkel, mein Raumschiff muss und wird eine deutsche Nationalangelegenheit bleiben.“
Der deutsche Ingenieur hat die Aufgabe, Deutschlands technische und militärische Überlegenheit über seine Feinde zu garantieren. Doch allein mit der Beschreibung technischer Objekte und Vorgänge ist kein Unterhaltungsroman herstellbar. Das Prodesse muss mit dem Delectare verbunden werden. So wird die „Nationalangelegenheit“, die deutsche Rakete, durch eine „fatale“ Frau gefährdet, die „rassige“ Ungarin Natalka Weisz, die bei Korf als Assistentin gearbeitet und in die er sich verliebt hat: „Man beobachtete ja oft, daß geistig hochstehende, ja bedeutende Männer in den Dingen der Weiblichkeit wie mit Blindheit geschlagen scheinen.“ Wie Korfs Schwager durch detektivische Arbeit herausfindet, ist Natalka die Tochter von Korfs russischem Konkurrenten, dem es gelungen ist, mit den von Natalka gestohlenen Unterlagen zum Raketenantrieb ein bemanntes Raumschiff zum Mond zu schicken. Doch erreicht dieses nicht die nötige Geschwindigkeit, um zur Erde zurückzukommen. Hardt will mit seinem neuen Raumschiff mit verbessertem Antrieb eine Rettungsexpedition für den bedrohten Piloten starten. Die Finanzierung des Raumschiffs wird durch Spenden und durch die Unterstützung von Suchinows rumänischem Geldgeber ermöglicht. Im Dienst der Sache gilt also trotz der zitierten gegenteiligen Beteuerung: Pecunia non olet.
Das Ergebnis ist beeindruckend: „Da lag das gewaltige Raumschiff: ein riesiger, zuckerhutförmiger Stahlrumpf, der vorne in eine abgestumpfte rings mit Fenstern besetzte Spitze auslief. Am hinteren Ende der teils schwarz gestrichenen, teils glänzend polierten ‚Riesenzigarre‘ gähnte zwischen den Stabilisierungsflächen die Öffnung des Auspufftrichters der Schubrakete. Winzig – wie Ameisen – erschienen die Menschen an dem glatten Körper des phantastischen Fahrzeuges.“ Beschämt sei, wer diese Stelle als „Männerfantasie“ liest. Rhetorisch klingt jedenfalls angesichts dieser „sagenhaften Maschine“ die Frage: „Deutscher Geist und deutsches Können, würden sie siegen über die Kraft der Erde und der Sonne?“ Sie siegen.
Der Pilot, der sich als Natalka entpuppt, wird zwar gerettet, sie und Korf träumen von einer gemeinsamen Zukunft. Doch stirbt die von den Strapazen geschwächte Ex-Spionin bei der Landung – poetische Gerechtigkeit. Den trauernden „Gustl“ Korf tröstet der Schwager: „‚Ja – es war gut so! […] Willst du um einen Menschen trauern, der im Augenblick des Glücks geschieden ist? Schau, Gustl, du gehörst nicht mehr dir und nicht mehr – ihr. Du gehörst der Menschheit, und die Welt hat ein Anrecht auf dich. Frei und ungebunden muss der Mann sein, der dazu berufen ist, das Planetenreich zu erobern‘ […]. Aus den Stahlaugen des Ingenieurs leuchteten aufs neue Lebensmut und Schaffensfreude.“
Von den großen Taten dieses und anderer heldenhafter Ingenieure und Naturwissenschaftler, von Fahrten zum Mond und zur Venus handelt der Roman Der Stein vom Mond. In Hans Hardts Mondfahrt hat Gail zur Schere gegriffen. „In Form einer Jugenderzählung“ wandelt er den Stoff der beiden Vorgängerromane ab und übernimmt aus ihnen ganze Passagen wörtlich.
Auf die Misere in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg antwortet Otto Willi Gail wie viele andere deutsche SF-Autoren (Frauen gab es in diesem Genre kaum) mit dem Glauben an künftige glänzende Triumphe deutscher Wissenschaft und Technik. Die Unfälle und Fehlschläge sind nur Umwege auf dem Marsch in eine glorreiche Zukunft Deutschlands. Auch für Gail gilt: Mit der Zeit gehen heißt, mit ihr vergehen.