Zehntausende Neuerscheinungen, jedes Jahr. Und die altbekannte Klage: Wer soll das alles lesen? Nun, dafür gibt es ja die Literaturkritiker. Aus dem Wust der Bücher, die alljährlich auf den Markt geworfen werden, sollen sie nicht nur die per Verlagswerbung in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gedrückten Romane oder Erzählbände sichten, sondern auch die versteckten Perlen bergen, die in den Programmen der Kleinverlage zu finden sind, aber eben unter dem Radar der etablierten Feuilletons bleiben. Außergewöhnliche Bücher wie der Roman Neubayern von Florian F. Scherzer, der im Münchner Hirschkäfer Verlag erschienen ist.
In dessen überschaubarem Programm sind ansonsten vor allem Krimis mit Münchner Einschlag sowie Regionalkochbücher und bayerische Reiseliteratur zu finden. Scherzers Debütroman sticht heraus, nicht nur inhaltlich, sondern vor allem, weil es ein in jeder Hinsicht schön gemachtes Buch ist und sich allein daher schon von der Dutzendware abgrenzt, die in Bahnhofsbuchhandlungen auf Gelegenheitskäufer wartet. Dennoch wäre Neubayern als Produkt eines Kleinverlags wohl den Weg so vieler Bücher gegangen, die sich allenfalls per Mundpropaganda im Freundes- und Bekanntenkreis verbreiten und ihre Käufer unter den spärlichen Besuchern von zwei, drei lokalen Lesungen finden.
Auf die per elektronischem Wege versandten Presseaussendungen des Verlags reagierten die Feuilleton-Redaktionen wie voraussehbar nicht. Was man ihnen auch kaum zum Vorwurf machen kann angesichts der Werbeschreiben, die dort alltäglich eintrudeln. Daher nahm Scherzer die Sache selbst in die Hand und schickte ein Exemplar seines Romans direkt an einen Kulturredakteur der Süddeutschen Zeitung, dem es nach der Lektüre nicht anders ging wie wohl jedem Leser: Er war begeistert. Er schrieb eine umfangreiche Lobeshymne, die – obgleich nur im Regionalteil erschienen – Neubayern den Durchbruch brachte und im Gefolge die erste Auflage prompt abverkaufte.
Ein Heiliger als Menschenjäger
Der Roman beeindruckt schon auf den ersten Blick. Die vertraut wirkende Umschlagsillustration legt trügerischerweise eine folkloristische Idylle nahe, doch man muss genauer hinschauen: Zu sehen ist eine traditionelle, etwas abgewetzte Holzfigur des Hl. Andreas, der selbstbewusst vor einem roten Hintergrund mit abbröckelnder Farbe einen Spieß hält, auf dem offenbar ein abgetrennter Kopf eines kleinwüchsigen Menschen zu sehen ist. Ein christlicher Heiliger als Menschenjäger, wie es den Anschein hat? Natürlich ist es eine geschickte Manipulation des Autors selbst, und die tiefere Bedeutung dieser inkohärenten Darstellung erschließt sich erst später.
Neubayern startet als Heimatroman der dunklen Sorte, in dem die gute alte Zeit, deren Verklärung schon immer ein fixer Bestandteil der bayerischen Volksseele war, völlig ungeschminkt beschrieben wird: die kargen Lebensumstände, der fürchterliche Gestank allenthalben, die grauenhafte Kindersterblichkeit, die Misswirtschaft der Amtsträger und die verlogene Gloria um seine Hoheit, den König. Vor allem aber erleben wir die Rückständigkeit der von Kirche und Krone in folgsamer Unmündigkeit gehaltenen Bevölkerung, die im von Scherzer beschriebenen Landstrich um die Dörfer Oberpfaffing und Rieding lebt. In der Kleinstadt Reisach sind die Verhältnisse zwar etwas besser, aber die gesamte Romanlandschaft, deren Dörfernamen sich natürlich in keiner Landkarte auffinden lassen, umgibt eine unheimliche, ja bedrückende Atmosphäre.
Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt der weitverbreitete Aberglaube, der sich bei den Hinterwäldlern hartnäckig hält. So verehrt man die am Himmel schwebenden Kreuze, die eine Zeit lang zu sehen waren, oder fürchtet sich vor den Sagengestalten der Perchteln. Das sind kleinwüchsige Wesen, die aus den Wäldern in die Dörfer einfallen, um das Viehfieber und allerlei anderes Unglück zu bringen. Allenthalben beruft man sich auf die Perchteln, um die Kinder zu maßregeln und disziplinieren. Bizarrerweise aber scheint dieser Volksglaube zugleich eine Realität zu sein, oder zumindest eine sehr geschickte Inszenierung der Erwachsenen: Als es nämlich zu einem der Überfälle kommt, bei denen die an schmalwüchsige Indios erinnernden Perchteln ins Dorf einfallen, werden sie gnadenlos erschlagen und ihre Körper in einem sogenannten Andreasfeuer verbrannt. Denn der legendäre Andreas, dem war man ja zuerst auf dem Umschlag begegnet, war ein Perchteln-Bezwinger.
Heimatkrimi, Thriller, road movie
Das Rätsel um die „Zwergenungeheuer“ führt direkt ins dunkle Geheimnis von Neubayern, das hier aber ausdrücklich nicht verraten werden soll. Nur so viel: Es gibt im engen Soziotop des Romans nichts Schlimmeres, als von der Obrigkeit nach München geschickt zu werden. Von dort, so weiß man, kehrt niemand lebend zurück. Allerdings aus anderen Gründen, als man zunächst annehmen möchte. Es hat nämlich ebenso zu tun mit dem roten Teufel, der ein Kind im Wald attackiert hat. Der Bub namens Benno überlebte das zwar, war aber mysteriöserweise auf einmal verschwunden und nicht mehr auffindbar.
Mit einer ungeheuren Volte jedenfalls katapultiert Scherzer seine Leser in einem plötzlichen Umschwung der Handlung in die Gegenwart, sodass aus dem bajuwarischen Heimatkrimi plötzlich ein veritabler Thriller wird. Die sogenannte Heimat erweist sich dabei als jene Lüge, die sie stets war. Und doch sind wir an die Herkunft gebunden, selbst wenn wir das vor uns nicht zugeben können. Das führt Scherzer mit dem abenteuerlichen road movie vor, zu dem der Roman wird, indem er davon erzählt, wie der jugendliche Protagonist, Josef Kiener, sich auf die Suche macht nach dem verschwundenen Benno, und dabei mehr herausfindet, als er je für möglich gehalten hätte.
Auch für Scherzers Leser gilt, dass sie aufmerksam bleiben sollten auf ihren Lektürestreifzügen durch Neubayern: „Mir schnürte es vor Ergriffenheit fast die Kehle zu“, berichtet der Protagonist an einer Stelle, als er des Konterfeis des Königs ansichtig wird: „Ich blieb sehr lange vor dem Bild des gütigen Landesvaters stehen.“ Dass hiermit etwa eine wunderbar perfide Anspielung auf die zeitgenössische Verehrung des zum Landesvater stilisierten Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß mitschwingt, werden norddeutsche Leser womöglich nicht erkennen. Wie auch Dialektwörter wie „Fischdandler“, „Schwammerl“, „Gschwerl“ oder „eingekastelt“ sich als Stolpersteine erweisen könnten. Scherzer hat sich aber in der Wiedergabe der Dialoge durchaus eine Zurückhaltung in Sachen bairischen Dialekt auferlegt, wohl um die Wahrnehmung des Romans nicht zu sehr in Richtung eines Genretextes zu verschieben.
Der Kienersepp jedenfalls, so viel darf verraten werden, verliebt sich im weiteren Verlauf der Handlung in eine ungewöhnliche Frau und auch das Rätsel um den verschwundenen Benno wird geklärt. Dennoch heißt es am Schluss nicht wirklich „Ende gut, alles gut“ – Scherzer verweigert dem Leser die beruhigende Auflösung des Geschehens, weil bei aller spannenden Lektüre, die sein Roman bietet, es in Neubayern stets um einen kritischen Kommentar zu unserer von Rassismus, Kapitalinteressen, Bodenschatzausbeutung und kriegerischer Gewalt geprägten Gegenwart geht. Bayern ist bei ihm eben keine Idylle, sondern Gegenstand einer mit den Mitteln der Literatur durchleuchteten Hassliebe.
Subtile Fälschung
Aber der Roman bietet noch mehr: Etwa eine saubere Textredigierung, an der sich die großen Verlage eine Scheibe abschneiden sollten, die offenkundig keine Kapazitäten mehr haben für ein Korrektorat. Ein schöner Bonus sind auch die vom Autor selbst angefertigten Illustrationen und in der Manier von W. G. Sebald subtil gefälschten Schwarz-Weiß-Fotografien, die dem Roman als Heft beiliegen, weshalb man sie bei Lust und Laune ins Buch einkleben beziehungsweise zu einem Poster zusammenfügen kann.
Zu kritisieren gibt es an Neubayern durchaus ein paar kleinere Punkte, wie sie nicht untypisch sind für Debütautoren. So hätte das knapp über 300 Seiten umfassende Buch gegen Ende durchaus 50 Seiten kürzer sein können, und die Imitation der unterschiedlichen Erzählerstimmen in den vorgeblichen aus fremder Feder stammenden Dokumenten beziehungsweise Berichten, aus denen der Text besteht, ist sprachlich nicht immer perfekt gelungen. Doch diese Schönheitsfehler beeinträchtigen das Vergnügen an Neubayern keineswegs; gewisse Längen gab es ja auch etwa beim neuen Roman von Peter Handke zu bewältigen.
Vielmehr gilt es hervorzuheben, dass der Roman im wahrsten Wortsinne als Nebenarbeit entstanden ist, nämlich in der schmalen zeitlichen Lücke nach dem Abliefern der Tochter in der Schule und dem Beginn der eigentlichen beruflichen Tätigkeit Scherzers als Grafikdesigner. In dieser täglichen Kärrnerarbeit ist ein beachtliches Buch entstanden, das nun die breitere Leserschaft findet, die es verdient hat. Zugleich erinnert es daran, wie viele vergleichbare Romane noch existieren mögen in den Untiefen der Programme kleiner Verlage, die ungerechterweise untergehen, während sich auf den Bestseller-Tischen der Kettenbuchhandlungen zu weiten Teilen der Schund stapelt.