Es ist 19 Uhr 30 und zu dieser Jahreszeit muss ich noch fast zwei Stunden mit einer zeitschindenden Aktivität verbringen, bevor ich ins Bett gehen kann. Draußen sitzen sie auf den Balkonen zusammen und lachen. Man geht nur vor Sonnenuntergang ins Bett, wenn man krank ist, oder lebensmüde. Ich würde mich eher als tagesmüde begreifen. An sich habe ich nichts gegen das Leben, wir beide haben uns in letzter Zeit eben nur nicht so viel zu sagen. Ähnlich einer Wohngemeinschaft, in der Zimmer separat vermietet werden und man sich dann aus Versehen in der Küche trifft, weil sich die Kochzeiten unangenehmerweise überschnitten haben und man aus Versehen schon mit seinen Einkäufen die Küche betritt, während der andere schon Zwiebeln schneidet und man dann nicht mehr rauskommt aus der Nummer und dann ganz froh ist, wenn einer auf die Idee kommt über den intermittierenden Smalltalk einen Podcast über wissenschaftliche Mythen oder so laufen zu lassen. Dann kann man ab und zu sowas sagen wie: „Irre, dass Spinat gar nicht so viel Eisen hat. Haha, dann hatte Popeye wohl unrecht.“ Das „Haha“ wird natürlich auch ausgesprochen, weil das alles so unangenehm ist, dass das Zwerchfell zu blockiert ist, um ein echtes Lachen zuzulassen. Ob es trotzdem eine gute Idee war, allein in eine Zweizimmerwohnung in eine Stadt zu ziehen, in der ich niemanden kenne und zusätzlich dazu auch Podcasts nicht zu mögen, scheint mir mittlerweile fragwürdig. Ich dachte, so macht man das, wenn man beschließt „sich selbst allein genug zu sein.“ Ich rufe dafür täglich meine Mutter an, die mein einziger Sozialkontakt ist neben eingeübten Dialogen beim Einkaufen und dem Durchscrollen der Profilbilder von WhatsApp und Telegram, um zu sehen, ob jemand sein Profilbild gewechselt hat, aber ich denke nicht, dass das gilt. Das liegt vielleicht auch daran, dass ich nicht trinken will und ich will mich nicht nüchtern mit Leuten treffen, mit denen ich nicht schlafen will, und Leute, mit denen ich schlafen will, kann ich nur nicht nüchtern kennenlernen, also treffe ich mich lieber mit niemanden. Es fragt sowieso niemand, weil alle mit dem Sommer beschäftigt sind. Meine Mutter sagt, ich soll doch einfach mal ein Glas am Abend trinken, das würde die Stimmung heben. Ich öffne also ein glutenfreies Biobier, das ich mir mit dem Gedanken gekauft habe, dass es in Ordnung sei, sowas alleine zu trinken, weil es so vernünftig scheint. Ich dachte wahrscheinlich, dass selbst, wenn ich es mir finanziell leisten könnte jeden Tag zwei Kästen davon zu trinken, dass es ein freundlicheres, gesünderes Bild ausstrahlen würde, von leeren Flaschen glutenfreiem Biobier umgeben zu sein, als von leeren Bierdosen. Vielleicht auch, weil Dosen derartig eindellen, wenn man sich bewusstlos über sie rollt, dass es schwierig wird sie am Pfandautomaten einlesen zu lassen. „Sich allein mit glutenfreiem Biobier zu besaufen“ – hallt in meinem Kopf wider wie eine gängige Redewendung, die sogar in einer Ausgabe von der Geolino mal erklärt worden sein könnte. „Das heißt so viel, wie dass jemand weiß, dass er schon ein Versager ist, sich aber nicht völlig gehen lässt und auf die Umwelt achtet und die Gesundheit, weil er noch etwas Hoffnung hat, dass es besser werden könnte, obwohl es eigentlich aussichtslos ist.“ Wenn ich sonst über Hoffnung nachgedacht hab, hab ich den Phantomschmerz nicht ausgehalten und den Fernseher eingeschalten, aber ich habe ihn für 80 € verkauft, weil ich dachte, er lenkt mich ab von meinem Leben. Weiß irgendwie nicht mehr genau, was ich damit meinte, vielleicht, dass mir alles andere als Nachmittagsfernsehen bei VOX egal war. Ich schäme mich und rauche dabei, weil das Bier trinken sonst sinnlos wäre, obwohl mein Zwerchfell zu eingeschnappt ist, um mich richtig atmen zu lassen – geschweige denn lachen. Vielleicht bin ich der kochende podcasthörende Zweckmitbewohner in mir selbst, sinniere ich und merke froh, dass das Bier sanft anfängt zu wirken, obwohl es glutenfrei ist. Zwischendrin nehme ich einen Zug aus dem Inhalator, aber ich rauche lieber wieder, das scheint meinem Zwerchfell besser zu gefallen. Ich überlege wieder nach Berlin zu ziehen, meine Mutter sagt, dass ich dann darauf achten müsse, dass die Sonne reinscheint in die Wohnung, sonst wäre ich wieder traurig. Meine Mutter denkt, dass allein mit einem Glas Wein und Sonne keine Traurigkeit in meinem Leben herrschen könnte. Zumindest zucke ich jetzt nicht mehr über jedes Lachen zusammen, das in meine Küche dringt und das, obwohl Mittwochabend ist. Heutzutage lachen sie auch unter der Woche. Ich schaue nicht aus dem Fenster, ich bin ja auch kein Masochist. Stattdessen lache ich lieber zynisch mit, davon bekomme ich aber Magenschmerzen, am Bier kann es ja nicht liegen, weil glutenfrei. Vielleicht liegt es auch an dem Tigerbalsam, den ich mir auf meine Lippen schmiere, weil es so schön brennt. Seit einigen Monaten kann ich ohne Tigerbalsam nicht mehr leben, weil es mich atmen lässt. Nicht metaphorisch gesehen. Ich frage mich, ob ich eigentlich gerade einen Herzinfarkt habe und bin froh, dass meine Mutter konditioniert ist, täglich von mir angerufen zu werden, so werde ich nicht verwesen in der Wohnung zum spätsommerlichen Lachen anderer. Zuverlässig beginnt mein Herz schneller zu schlagen, vielleicht um zu beweisen, wie fit und voller Vitalität es noch ist, ich zünde eine neue Zigarette zu dem letzten Drittel Bier in der Flasche an und muss an meinen Großonkel Lajos mit dem Herzschrittmacher denken. Als er nach der Narkose aufgewacht war und sein optimiertes Herz zuverlässig schlagen hörte, war er zunächst beruhigt, dass er noch lebte. Nach weiteren Minuten fiel ihm auf, dass sein Herz nicht synchron im Takt zum Sekundenzeiger war. Er hielt also die Luft an, dann atmete er schnell, dann wiederum langsamer, dann hustete er, dann trank er etwas Wasser, aber der Herzschlag und die Uhr näherten sich einander nicht an. Und ansonsten gab es auch keine anderen Unterhaltungsangebote in dem Krankenzimmer, abgesehen von der Uhr; die anderen drei Patienten schliefen. Also stand Lajos auf und sprang aus dem Fenster.
Die Ärztin, die ihm den Herzschrittmacher eingesetzt hatte, fand ihn dann, er hatte sich nur das Bein gebrochen, weil es lediglich der zweite Stock gewesen war, aus dem er sich gestürzt hatte, aber sie schrie ihn trotzdem an, weil sie es unverschämt fand, dass er ihre Arbeit nicht respektierte und sich stattdessen aus dem Fenster stürzte, weil warum auch, zum Teufel, dann hätte sie sich die Operation auch sparen können. Und Lajos antwortete:
„Das Ticktick vom Herz und das Ticktack der Zeit kommen nicht zusammen. Wie soll man den Scheiß aushalten?“
Keiner wusste damals was er meinte, und man sagte sich, dass es an der Narkose gelegen haben muss. Lajos lebte noch dreißig Jahre danach und beschwerte sich nicht mehr; ich glaube ich weiß was er meinte.
„So ist das mit mir und der Liebe.“, hätte ich ihm gesagt, wenn wir uns mal getroffen hätten, aber er starb vor mir, man sagt aus Kummer, weil sein ältester Sohn sich erhängt hatte am Tag der Hochzeit seiner ersten Liebe, die seinen älteren Bruder gewählt hatte.
Es ist 20 Uhr 30. Immerhin. Ich habe das zweite Bier aufgemacht, nachdem ich die leere Puppenhülle am Rand des Einweckglasdeckels betrachtet habe und dreimal hintereinander in dem Duktus meines untalentierten 16-jährigen Theater-AG-Ichs denke: „Auch Du hast mich verlassen!“ indem ich abwechselnd zuerst das „auch“, dann das „Du“ und dann das „verlassen“ betone und dann verärgert bemerke, dass mein innerer Puppenhüllenmonolog¹ wieder vom Lachen von beisammensitzenden Leuten unterbrochen wird. Umso mehr kann ich mich daraufhin in mein Verlassenwerden von der von mir handaufgezogenen Raupe reinsteigern, die ich in einem Lidl-Brokkoli fand und daraufhin in ein leeres Marmeladenglas zur Pubertät brachte und sowas wie Mutterstolz spürte und mir romantisch vorstellte, wie ich den frischgeschlüpften kleinen Kohlweißling sanft auf meine Fingerkuppe setzen würde und nach Worten wie „Gute Reise, mein Freund!“ in die Freiheit entlassen würde. Natürlich schlüpfte er, als ich meinem sogenannten App-Date im Laufe der Nacht einen Kamillentee kochen musste, weil er plötzlich Magenkrämpfe bekam, als wir schon nackt nebeneinander lagen. Er wollte meinen Tigerbalsam nicht, den ich ihm auf die Bauchgegend schmieren wollte. Es sei ihm zu scharf. Ich wusste nicht, ob er sexuell oder olfaktorisch meinte. Vielleicht war es auch in der Nacht, als ich mit dem Typen schlief, der zu alt war, um solchen HipHop wie KIZ zu mögen und mir empfahl, den Satisfyer zu kaufen, weil ich ihm erzählt hatte, dass ich ein Masturbationslegastheniker sei. Er hatte ihn auch damals seiner Freundin geschenkt.
Als dann auch noch der Kohlweißling einfach so abgehauen war, glaubte ich nicht mehr daran, dass ich geliebt werden könnte und habe deshalb gelernt allein zu schlafen. Das geht gut mit Wärmeflasche und Baldriantabletten. Aber wenn ich morgens aufwache mit der kalten Wärmeflasche im Arm und Sabber auf meinem Kopf-kissen, kann ich mich einfühlen, wie es sein muss in einer lieblosen Ehe gefangen zu sein. Der Tigerbalsam hilft zumindest gegen den abgestandenen Geruch. Man will morgens mit jemand anderen aufwachen. Ich sollte einen Hund adoptieren und hoffen, dass er mich gernhat. Leider verbietet mir das mein Mietvertrag. Also beschließe ich wirklich umzuziehen. Mir fällt auf, dass die einzige Konstante in meinem Leben mein Konto bei der Sparkasse ist, das ich habe, seit ich zwölf bin. Ich habe nie die Bank gewechselt, obwohl sie mir als Einzige kein Handtuch mit meinem Namen eingestickt zur Firmung geschenkt haben, das haben nur die Konfirmanden bekommen; entweder sie hatten was gegen Katholiken oder gegen mich. Kann ich auch irgendwie beides nachvollziehen.
21 Uhr 30. Ich bereue, dass ich nur zwei Bier gekauft habe und finde im Regal eine Piccoloflasche Sekt, die mir mein ehemaliger Zweckmitbewohner zum Geburts-tag dagelassen hat. Ich dachte, Piccoloflaschen verschenkt man nicht, sondern trinkt sie in der S-Bahn auf dem Weg zum Berghain, aber der Zweckmitbewohner wird schon wissen was er tut, immerhin ist er Arzt. Es hängt eine kleine Grußkarte daran, auf der steht, dass 1 Milliarde Sekunden 31,8 Jahre entspricht. Ich werde also am 7. Dezember 1 Milliarde Sekunden alt, laut der Grußkarte, die ich etwas fragwürdig finde, aber er ist Arzt, er wird schon wissen was er tut. Meine Mutter hatte mir vorgeworfen, dass ich nicht mal versucht hätte ihn kennenzulernen, vielleicht wäre das was geworden, immerhin sei er Arzt. Ich hebe die Piccoloflasche auf ihn und die Raupe und trinke. Der Sekt ist lauwarm und draußen lachen sie wieder. Ich trinke den Sekt lauwarm, rauche noch eine Zigarette. Wegen des Tigerbalsams schmeckt sie wie eine Mentholzigarette und das lässt mich an Helmut Schmidt und meine Exfreundin gleichermaßen denken. Beides macht mich traurig, weil der eine tot ist und die andere in Stuttgart, was aufs Gleiche rauskommt für mich. Ich beschließe die nächsten 1 Milliarde Jahre anders zu verbringen. Anders heißt besser, aber genau weiß ich noch nicht, was ich damit meine. Ich hab ja noch Zeit bis zum 7. Dezember. Draußen wird wieder gelacht und ich schaue aus dem Fenster und sage „Ihr wisst ja gar nichts.“
Der laue Sommerwind scheint den übermäßig dosierten Tigerbalsam in meinem Gesicht zu aktivieren und mir laufen unkontrolliert Tränen über das Gesicht. Das finde ich eigentlich ganz gut.
Der Nachbar aus dem Erdgeschoss, schaut nach oben zu mir. Er raucht immer am Fenster mit den Unterarmen im Fensterrahmen aufgestützt, immer im Unterhemd, zu jeder Witterung, sodass ich seine verwaschene Tätowierung einer nackten Frau am Unterarm sehen kann. Vielleicht will er ja nicht, dass seine Oberbekleidung nach Rauch riecht. Er sieht immer nach draußen, aber mit einem Gesichtsausdruck, als würde ihn das alles nicht interessieren, mäandernd zwischen Melancholie und Zufriedenheit.
Die Begrüßung folgt eigentlich sonst immer demselben Schema. Ich sage „Hallo.“ und er antwortet eben-falls mit einem „Hallo.“ und je nachdem, wie es uns geht, lächeln wir schief oder nicken dazu nur mit gesenktem Blick.
Heute sagt er stattdessen „Na?“ Mittlerweile weiß ich auch, was man wirklich auf ein „Na?“ antworten sollte. „Alles gut.“
Er nickt, als wüsste er, was ich eigentlich damit meine. Heute hustet er. „Bin krank.“, sagt er entschuldigend. Und ich sage „Ich werde bald umziehen.“
Und er nimmt einen Zug von der fast aufgerauchten Zigarette und sagt „Schade.“ Darüber freue ich mich und ich reiche ihm meinen Tigerbalsam. „Das hilft“. Dann nickt er nochmal und schließt das Fenster.
Und ich denke, näher bin ich der wahren Liebe wahrscheinlich nie in meinen ersten Milliarden Sekunden gekommen.
Zumindest ist es jetzt dunkel geworden und ich kann erst mal schlafen gehen. Das geht ja ganz gut mit Wärmeflasche und Baldrian.