Nachts schreiben, um am Tag nicht verloren zu gehen

Gedanken zu Literatur und Selbsterfahrung. Von Arne Rautenberg

Online seit: 18. Januar 2018
Arne Rautenberg ©Birgit Rautenberg
Juveniles Loser-Feeling, Coolsein und unangemessene Überheblichkeit – für Rautenberg ist das alles Geschichte.

Ganz bei mir bleiben. In meinen Texten, in meinem Vortrag. Ich bin Lyriker, ich schreibe Gedichte und keine Romane. Das heißt, ich muss mir nicht täglich eine Seite Prosa rausquälen (wie ich es auch schon getan habe), sondern darf sprunghaft und phlegmatisch sein, einfach dahinleben und mir eine gewisse Zeitoase zur schreibenden Besinnung einräumen.

Dies ist meinen momentanen Lebensumständen geschuldet. Ich bin Nachtarbeiter geworden. Noch vor eineinhalb Jahrzehnten ging ich vom Bett aus direkt an den Schreibtisch und erledigte mein Schreibwerk, noch saumselig aus der Nacht heraus, frisch und ungefiltert konnte ich den erwachenden Gedanken nachgehen, ihnen hinterherschreiben, sie zu fassen kriegen und en passant auch größere Prosastrecken bewältigen.

Das ist vorbei. Wir haben zwei Kinder, ein bis an die Knochen gehender, hochfrequenter Ton piept um 6:30 Uhr, dann heißt es, aufstehen, anziehen, Weckdienste an den Kindern vollziehen, aufdecken, Brote schmieren, Minimal-Konversationen am Laufen halten bzw. ertragen, Zeitung lesen – und wenn die Kinder in die Schule radeln, sind die den Geist erweckenden Akkus bereits halbleer.

Also erledige ich am Morgen die Schreibarbeiten, in denen der Hauch der Inspiration kleingeschrieben ist: Mails, Briefe, Überarbeitungen, Zugfahrten buchen, Grübeleien über anstehende Grundsätzlichkeiten neuer Projekte, Sortierarbeiten, Recherchen, Telefonate, Aufsätze, Lektüren.

Der Tag nimmt seinen Lauf. Mittags kochen, essen, die Kinder kommen aus der Schule. Nachmittags bin ich ganz normaler Familienvater, das heißt: schön auf dem flauschigen Wohnzimmerteppich rumkugeln, aus Versehen einschlafen, Musik hören, Spiegel online lesen, Haus- und Gartenarbeiten erledigen, H.C. Artmann lesen, Stadtfahrten angehen, mit dem Sohn auf den Fußballplatz, mit der Tochter auf den Pferdehof (sie reitet ein Araber-Pferd), mit der Frau spaziere ich frühabends an der Kieler Förde entlang (wir erzählen uns unseren Tag – eine wunderbare, beziehungsstabilisierende Gewohnheit), im Sommer bin ich viel am Strand, nach der Tagesschau wird vielleicht noch etwas fern gesehen, Murakami oder Knausgård gelesen, alles ganz normal, wie es jeder kennt. Ich habe auch kein Problem damit, sondern halte es wie Tonio Kröger bei Thomas Mann: „Man ist als Künstler innerlich Abenteurer genug. Äußerlich soll man sich gut anziehen, zum Teufel, und sich benehmen wie ein anständiger Mensch“.

Zu dieser Einsicht zu kommen, hat mich viele Jahre gekostet: Jahre des Leichtsinns, des trotzigen Aufgehens in einem juvenilen Loser-Feeling, Jahre der inspirativen Erweckung samt arroganter Zurschaustellung einer freilich noch nicht ausgereiften Künstlernatur, Jahrzehnte des Coolseins und der unangemessenen Überheblichkeit. Für mich ist das alles Geschichte. Mein Alltag, der meine drei Glücksfaktoren bedingt – erstens frei über die eigene Zeit verfügen, zweitens etwas tun, was man gerne tut, drittens so viel Zeit wie möglich mit denen verbringen, die einem am meisten am Herzen liegen – hat mich Demut gelehrt.

Allerdings bin ich in meinem Alltag 24 Stunden online mit meinem erweiterten Bewusstseinsstrom. Kommt mir etwas Sonderliches in die Quere, schreibe ich es in meinen Notizblock. Mein Credo seit vielen Jahren: Ein Tag, von dem nichts übrig bleibt, der ist nichts wert – oder als Variante: Ein Tag, von dem nichts übrig bleibt, der ist verloren für immer.

Und ich bin ein vergesslicher Mensch. Also bewege ich mich mit offenen Sinnen und sammle via Notiz, was ich sehe, was ich höre, was ich denke. Mein Sohn erzählt etwas von Arschhaaren vom Elefanten, ich schreibe es auf. Meine Tochter zeigt mir auf ihrem Handy ein Foto, auf dem sie aus ihren langen Haaren einen Kranz zu einem Nest geflochten hat, damit sie ihr schwarzes Lieblingshuhn hineinsetzen kann. Ich schreibe es auf. Und überlege später, als ich das Foto noch einmal betrachte: Ist der Kopf ein Nest, der das Huhn behütet – oder hat das Huhn den Kopf ausgebrütet? Ich sitze am Strand und die Möwe mit dem Totenkopf fliegt vorbei, ich schreibe es auf.

Manchmal bleibt der Notizblock leer. Dann wundere ich mich, warum ich so unausgeglichen bin. Vielleicht bin ich auch nur ungeduldig, denn eigentlich weiß ich, dass die Zeit literarischer Schaffensdurststrecken