
Ganz bei mir bleiben. In meinen Texten, in meinem Vortrag. Ich bin Lyriker, ich schreibe Gedichte und keine Romane. Das heißt, ich muss mir nicht täglich eine Seite Prosa rausquälen (wie ich es auch schon getan habe), sondern darf sprunghaft und phlegmatisch sein, einfach dahinleben und mir eine gewisse Zeitoase zur schreibenden Besinnung einräumen.
Dies ist meinen momentanen Lebensumständen geschuldet. Ich bin Nachtarbeiter geworden. Noch vor eineinhalb Jahrzehnten ging ich vom Bett aus direkt an den Schreibtisch und erledigte mein Schreibwerk, noch saumselig aus der Nacht heraus, frisch und ungefiltert konnte ich den erwachenden Gedanken nachgehen, ihnen hinterherschreiben, sie zu fassen kriegen und en passant auch größere Prosastrecken bewältigen.
Das ist vorbei. Wir haben zwei Kinder, ein bis an die Knochen gehender, hochfrequenter Ton piept um 6:30 Uhr, dann heißt es, aufstehen, anziehen, Weckdienste an den Kindern vollziehen, aufdecken, Brote schmieren, Minimal-Konversationen am Laufen halten bzw. ertragen, Zeitung lesen – und wenn die Kinder in die Schule radeln, sind die den Geist erweckenden Akkus bereits halbleer.
Also erledige ich am Morgen die Schreibarbeiten, in denen der Hauch der Inspiration kleingeschrieben ist: Mails, Briefe, Überarbeitungen, Zugfahrten buchen, Grübeleien über anstehende Grundsätzlichkeiten neuer Projekte, Sortierarbeiten, Recherchen, Telefonate, Aufsätze, Lektüren.
Der Tag nimmt seinen Lauf. Mittags kochen, essen, die Kinder kommen aus der Schule. Nachmittags bin ich ganz normaler Familienvater, das heißt: schön auf dem flauschigen Wohnzimmerteppich rumkugeln, aus Versehen einschlafen, Musik hören, Spiegel online lesen, Haus- und Gartenarbeiten erledigen, H.C. Artmann lesen, Stadtfahrten angehen, mit dem Sohn auf den Fußballplatz, mit der Tochter auf den Pferdehof (sie reitet ein Araber-Pferd), mit der Frau spaziere ich frühabends an der Kieler Förde entlang (wir erzählen uns unseren Tag – eine wunderbare, beziehungsstabilisierende Gewohnheit), im Sommer bin ich viel am Strand, nach der Tagesschau wird vielleicht noch etwas fern gesehen, Murakami oder Knausgård gelesen, alles ganz normal, wie es jeder kennt. Ich habe auch kein Problem damit, sondern halte es wie Tonio Kröger bei Thomas Mann: „Man ist als Künstler innerlich Abenteurer genug. Äußerlich soll man sich gut anziehen, zum Teufel, und sich benehmen wie ein anständiger Mensch“.
Zu dieser Einsicht zu kommen, hat mich viele Jahre gekostet: Jahre des Leichtsinns, des trotzigen Aufgehens in einem juvenilen Loser-Feeling, Jahre der inspirativen Erweckung samt arroganter Zurschaustellung einer freilich noch nicht ausgereiften Künstlernatur, Jahrzehnte des Coolseins und der unangemessenen Überheblichkeit. Für mich ist das alles Geschichte. Mein Alltag, der meine drei Glücksfaktoren bedingt – erstens frei über die eigene Zeit verfügen, zweitens etwas tun, was man gerne tut, drittens so viel Zeit wie möglich mit denen verbringen, die einem am meisten am Herzen liegen – hat mich Demut gelehrt.
Allerdings bin ich in meinem Alltag 24 Stunden online mit meinem erweiterten Bewusstseinsstrom. Kommt mir etwas Sonderliches in die Quere, schreibe ich es in meinen Notizblock. Mein Credo seit vielen Jahren: Ein Tag, von dem nichts übrig bleibt, der ist nichts wert – oder als Variante: Ein Tag, von dem nichts übrig bleibt, der ist verloren für immer.
Und ich bin ein vergesslicher Mensch. Also bewege ich mich mit offenen Sinnen und sammle via Notiz, was ich sehe, was ich höre, was ich denke. Mein Sohn erzählt etwas von Arschhaaren vom Elefanten, ich schreibe es auf. Meine Tochter zeigt mir auf ihrem Handy ein Foto, auf dem sie aus ihren langen Haaren einen Kranz zu einem Nest geflochten hat, damit sie ihr schwarzes Lieblingshuhn hineinsetzen kann. Ich schreibe es auf. Und überlege später, als ich das Foto noch einmal betrachte: Ist der Kopf ein Nest, der das Huhn behütet – oder hat das Huhn den Kopf ausgebrütet? Ich sitze am Strand und die Möwe mit dem Totenkopf fliegt vorbei, ich schreibe es auf.
Manchmal bleibt der Notizblock leer. Dann wundere ich mich, warum ich so unausgeglichen bin. Vielleicht bin ich auch nur ungeduldig, denn eigentlich weiß ich, dass die Zeit literarischer Schaffensdurststrecken
Dieser Beitrag ist nur für Abonnenten zugänglich. Bitte melden Sie sich in Ihrem Konto an, oder wählen Sie eines der drei unten stehenden Abos, um sofort weiterzulesen.
Das erfolgreichste, weil intellektuell beweglichste Literaturblatt unserer Tage*
– für den Preis von einem Espresso im Monat.
Förder-Abo
€ 9,00 / Monat
(Mindestlaufzeit: 12 Monate)
- Zugang zu allen Online-Beiträgen
- Printausgabe (4 Hefte / Jahr)
- E-Paper-Ausgabe (4 Hefte / Jahr)
- 300+ Online-Beiträge / Jahr
- Online-Leseproben und Vorabdrucke
- Zugang zu E-Paper-Ausgaben im Archiv
- Zugang zu ca. 2000 Beiträgen im Archiv
- Tägliche Presseschau
- Newsletter
- Novitäten-Telegramm
- Preis-Telegramm
- Ausschreibungen
- Ausgewählte VOLLTEXT E-Books
- Ausgewählte VOLLTEXT Specials
Digital
€ 2,00 / Monat
(Mindestlaufzeit: 12 Monate)
- Zugang zu allen Online-Beiträgen
- E-Paper-Ausgabe (4 Hefte / Jahr)
- 300+ Online-Beiträge / Jahr
- Online-Leseproben und Vorabdrucke
- Zugang zu E-Paper-Ausgaben im Archiv
- Zugang zu ca. 2000 Beiträgen im Archiv
- Tägliche Presseschau
- Newsletter
- Novitäten-Telegramm
- Preis-Telegramm
- Ausschreibungen
Print & Digital
€ 3,00 / Monat
(Mindestlaufzeit: 12 Monate)
- Zugang zu allen Online-Beiträgen
- Printausgabe (4 Hefte / Jahr)
- E-Paper-Ausgabe (4 Hefte / Jahr)
- 300+ Online-Beiträge / Jahr
- Online-Leseproben und Vorabdrucke
- Zugang zu E-Paper-Ausgaben im Archiv
- Zugang zu ca. 2000 Beiträgen im Archiv
- Tägliche Presseschau
- Newsletter
- Novitäten-Telegramm
- Preis-Telegramm
- Ausschreibungen
* Saarländischer Rundfunk
FAQ
Wie kann ich ein VOLLTEXT-Abonnement verschenken?
Sie können alle VOLLTEXT-Abonnements befristet oder unbefristet verschenken. Die Mindestlaufzeit beträgt ein Jahr. Danach kann das Abonnement auslaufen oder wahlweise durch die Schenkenden oder die Beschenkten verlängert werden.
–> Bestellinformationen
Was sind E-Paper-Ausgaben?
E-Paper-Ausgaben entsprechen 1:1 der gedruckten Zeitschrift. Abonnenten erhalten nicht nur Zugriff auf die jeweils aktuelle Ausgabe, sondern auch auf ältere Hefte im Archiv (gegenwärtig alle Ausgaben seit 2016).
Gibt es Kündigungsfristen?
Nein, Sie können das Abonnement jederzeit formlos per E-Mail oder Post kündigen.
Ich bin bereits Abonnent der Printausgabe und möchte Zugang zu den Online-Beiträgen, wie komme ich dazu?
Wenn Sie bereits über ein Online-Konto auf Volltext.net verfügen, können Sie mit Ihrem bisherigen Passwort auf die Beiträge hinter der Paywall zugreifen.
Ich kann die heruntergeladenen E-Paper-Ausgaben nicht öffnen.
Die E-Paper-Ausgaben sind mit einem Passwort geschützt. Informationen zum Passwortschutz finden Sie nach der Anmeldung auf der Startseite Ihres Online-Kontos.
Wo finde ich mein Online-Konto?
Am oberen, rechten Rand des Bildschirms finden Sie einen Link „Mein Konto“, über den Sie sich einloggen können.