Die Geburt des Textes aus dem Geiste der Schlaflosigkeit

Lucia Geis über Insomnia von Ivo Andrić und Wunderheilungen von César Aria.

Dieser Beitrag entstand im Zusammenhang mit dem Online-Seminar „Literatur- und Kulturkritik schreiben“.

Online seit: 28. Juli 2023

Vorbei sind die Jahre der (nächtlichen) Stille. Das Nachtleben ist wieder laut, die Krisen unüberhörbar, die Meinungsäußerungen und Proteste schrill. Die zunehmenden Klagen über Schlaflosigkeit verwundern insofern wenig. Zwei sehr unterschiedliche Texte, die Elend und Glanz dieses Phänomens aufgreifen, passen da wie ein (Trost-)pflaster auf die Trostlosigkeit.

Ivo Andrić, serbischer Literatur-Nobelpreisträger von 1961, hat zeitlebens unter Schlaflosigkeit gelitten. Wieviel radikaler diese das Leben prägt als bloßes Nicht-(Ein-)Schlafenkönnen, davon zeugen nun seine von Michael Martens herausgegebenen und übersetzten Notate in gnadenloser Unerbittlichkeit. Andrić hatte sie nie zur Veröffentlichung bestimmt und als Leser kommt man sich tatsächlich zuweilen wie ein Voyeur vor. Das ist unangehm, schmälert Qualität wie Erkenntnisgewinn aber freilich nicht.

Die Qual

Denn in seinen den Qualen der Schlaflosigkeit abgerungenen Texten breitet Andrić sein Innerstes aus, unaufhaltsam kreisend um „schwarze“ Ängste, Sprache und das Stummsein, um das Leben und den Lebensekel, verlorene Liebe, Einsamkeit und Nicht-Zugehörigkeit. Sich von ihrem depressiven Charakter nicht anstecken zu lassen, ist schwer, denn selten, sehr selten gibt es Brüche, die schmunzeln lassen, etwa wenn er schreibt „Unzufriedenheit… war immer die Grundlage meines geistigen Daseins“ und vier Zeilen später „Der Mensch ist unzufrieden und unglücklich, dass nicht mindestens zweimal am Tag ein Wunder geschieht.“ Andererseits liest man sehr poetische Abschnitte, vor allem wenn Andrić die Träume seiner kurzen Schlafphasen formuliert.

Als Tagebuch versteht er seine Notate ohne Datums- und Ortsangaben nicht, denn obwohl eifriger Leser von solchen, lehnt er es ab, sie zu schreiben: „Seine Erlebnisse auf Papier zu befestigen, hieß für ihn, sie zu verkleinern, auszutrocknen, ihr Wesen für immer zu verlieren. Ihn erinnerte das immer an den Versuch, die wichtige und schwierige Funktion des Vergessens, … zu vereiteln.“ Ob man dies für bare Münze nehmen kann, bleibt fraglich, ist doch dieser Abschnitt der einzige des Buches, in dem Andrić  die Ich- gegen die Er-Perspektive tauscht und damit Distanz schafft, von der auch seine Romane geprägt sind. Allein stünde er mit diesem Plädoyer keinesfalls: Patrick Modiano, der französische Literaturnobelpreisträger, erkundet wie in allen seinen Romanen so auch im neuesten Unsichtbare Tinte die komplexe Bedeutung des Vergessens für das Schreiben.

Das Fantastische

César Aira, über dessen eigenen Schlaf nichts bekannt ist, was in Zeiten der Autofiktion angesichts des Romantitels und der Namensgleichheit von Autor und Protagonist erwähnt sei, liefert dagegen ein funkensprühendes Wunderwerk der Ideen, denen vordergründig die Schlaflosigkeit bzw. der Somnambulismus die Feder führt. Konfrontiert uns Andrić mit oftmals allzu brutal erlebter Realiät, so der Argentinier auf absurd-komische Art mit der nicht aufrecht zu erhaltenden Grenze zwischen Fantasie, Fantasma und Realität. Während Andrić von einer Nacht in die andere stolpert, gleitet Aira durch ein Labyrinth – das Labyrinth von Buenos Aires und das Labyrinth im Kopf – den „Irrgarten seiner verflossenen Jugend“ – , dabei die Frage, ob sein Protagonist nun zu Wunderheilungen fähig ist stets als Ariadnefaden auslegend, aber nie fixierend.

Bei Andrić  heißt es: „Alles, was ich im Traum niemals ahnen und in der Wirklichkeit niemals sehen konnte, hat mir die Schlaflosigkeit mit ihrer stummen und finsteren Sprache gesagt.“ Damit wird er zum Übersetzer der Ungeheuer, die nicht der „Schlaf der Vernunft“, sondern die Schlaflosigkeit gebiert. Bei Aira ist die Schlaflosigkeit dagegen Anwalt surrealer Bilder, von denen weder Leser noch Protagonist wissen, wessen Ursprungs sie sind. Oberflächlich betrachtet wird die Geschichte eines Arztes erzählt, der den Arztkittel abgelegt hat, um zu schreiben, angeblich Wunderheilungen vollbringen kann, entführt wird, und schließlich einen totkranken Millionär durch seine Wunder, an die der Arzt selber nicht glaubt, heilen soll und zu diesem Zweck einen surrealistisch sprachwandlerischen Tanz aufführt.

Die Vernunft

Auch wenn Airas Roman mit dem Erwachen des schlafwandelnden Protagonisten in „fremden Nebenstraßen, die er in Wirklichkeit gut kannte“ beginnt, wird schnell deutlich, dass der Autor sowohl die Schlaflosigkeit wie auch die Stadt Buenos Aires lediglich als Folie benutzt, auf die er seine Geschichte mit all ihren Abschweifungen einschreibt. Seine Hauptfigur ist kein Flaneur wie ihn der deutsche Autor Franz Hessel in den 1920er-Jahren durch Berlin oder Paris streifen ließ. Anders als bei Hessel lernt Airas Leser die Stadt und ihre Geschichte nicht kennen. Aber er taucht in die Tradition der „lateinamerikanischen Phantastik“ eines Jorge Luis Borges oder Julio Cortázar ein, die ihre Leser mit einer Mischung aus Realität und Surrealität aufs Glatteis führten. Nur die Kunst vermag Wunder als sich selbst erzeugende Systeme zu erschaffen, in Airas Fall durch Kollisionen. Schon in dem zitierten zweiten Satz sind die „fremden Nebenstraßen“ zugleich die bekannten und der Romaneinstieg lebt von weiteren Gegensätzen: zerstreut und aufmerkam, an- und abwesend, nah und fern. An die Stelle des von der Vernunft klar geschiedenen Entweder – Oder tritt somit etwas Neues, das sich um dessen Grenzen nicht schert: die „fantastische Möglichkeit“. Europäische Leser mögen darüber hinweglesen, wenn Airas Protagonist Mariano Grondona ob seiner Vernunft als Vorbild nennt. Aber Grondona ist kein Hirngespinst, sondern war argentinischer Soziologe, Anwalt und Journalist, Peron-Anhänger, 1976 Unterstützer des Militärputsches. Noch 2003 soll er gesagt haben: „The rational behavior, in any war, is to be on the side of the winners“. Wenn solches Handeln für sich die Vernunft in Anspruch nehmen kann, dann braucht es in der Tat eine (Literatur der) Schlaflosigkeit, die über die Ungeheuer gebärende Vernunft wacht.

Der flüchtige Augenblick

Aira wie Andrić haben, unabhängig davon, ob die Schlaflosigkeit des Autors fiktional oder real ist, aus dem Phänomen der Schlaflosigkeit eine besondere Prosa entwickelt: Aira stellt in seinem zu Recht ohne Genrebezeichnung publizierten Text philosophische Abhandlung, Farce und Erzählung übergangslos nebeneinander. Man könnte ihn einen modernen Romantiker nennen, waren doch sie es, die das, was zuvor als Abweichung verpönt war, zum Wesen ihrer Literatur gemacht haben. Bei Andrić liest man nun eine Kurzprosa, die seinen opulenten Romanen diametral entgegengesetzt ist. Sein Herausgeber spricht im Nachwort von einer „Poetik der Schlaflosigkeit“ und weist auf zahlreiche Leidensgenossen von Kafka über Cioran bis Pessoa mit ihren zum Verwechseln ähnlichen Formulierungen hin.

Der Wanderer Peter Handke behauptet in seinem Versuch über die Müdigkeit, über die Schlaflosigkeit sei alles gesagt. Dennoch entwickelt er selber so etwas wie eine Poetik der Müdigkeit. „… alles friedliche Geschehen war zugleich schon Erzählung und diese … gliederte sich in meinen müden Augen von selber zum Epos…: Die Bilder der flüchtigen Welt rasteten ein, eins und das andere, und nahmen Gestalt an.“ Und anlässlich der Auszeichnung mit dem Franz-Kafka-Preis 1979 heißt es : “Aber die flüchtigen Augenblicke eines ja als Gesetz erfahrenen ANDEREN Lebens zu einem sanft nachdrücklichen Seins-Entwurf ineinanderzuphantasieren, das allein ist es, was mir inzwischen als nothelferische, als die notwendige, Literatur vorschwebt.” Schöner kann man der Literatur nicht zu ihrem Recht verhelfen – Literatur als die phantasierende Gestaltung der flüchtigen Augenblicke eines anderen Lebens, seien dies wie bei Ivo Andrić  der Angst vor den verpassten Möglichkeiten geschuldete Nachtwelten oder die auf Irrwegen sich auftuenden Wunderwelten eines César Aira.

 

Ivo  Andrić: Insomnia. Nachtgedanken, Paul Zsolnay, Wien 2020.

César Aira: Die Wunderheilungen des Doktor Aira. Matthes & Seitz, Berlin 2020.