„Einfacher werden. Zurück zu den Anfängen. Wieder miteinander leben und mit der Umgebung, soll heißen mit der Natur.“ – Ja, wie wollen wir leben? Diese existenzielle Frage wurde bereits zu allen Zeiten der Literaturgeschichte gestellt. Geprägt durch die Erfahrungen der Klimakatastrophe, der Terroranschläge und der Kriegsbedrohung stellt sie die Absolventin des Studiums für Literarisches Schreiben an der Universität Hildesheim Mirjam Wittig in ihrem Debütroman An der Grasnarbe (Suhrkamp, 2022) neu und spürt dem Politischen im Privaten nach. Es ist die „Hoffnung auf eine andere Lebensform oder dieses Eigentliche“, nach dem Wittigs Figuren suchen – und es im besten Sinne nicht finden.
„Wenn du nicht an Revolution glaubst: Entzieh dich.“ Das ist das Credo des Aussteiger-Bauern Gregor, der seinen Universitätsjob gekündigt hat, um mit seiner Frau Ella und der gemeinsamen Tochter Jade einen Hof in Südfrankreich zu kaufen. Die deutsche Familie ist eine „Versehrtenanstalt“, die Helfer und Helferinnen für die fast nicht zu bewältigende Arbeit mit den Tieren und der Ernte gegen Kost, Logis und vor allem dem Ausblick auf ein gänzlich anderes Leben als in Deutschland aufnimmt. So eine Versehrte ist auch die unter Angststörung leidende Restaurateurin Noa. Und ihre Panikattacken haben es in sich. Gekonnt setzt Wittig Noas Anfälle formal mittels brüchiger Parataxe, abreißenden Gedankenfetzen und flirrenden Satzfragmenten um, die stilistisch präzise die Ohnmachtserfahrungen nachzeichnen. Die erzählte Zeit fliegt der Leserin nur so um die Ohren, wenn sie gedacht hat, sich in den ausgedehnten Naturschilderungen entspannen zu können. Trigger für Noas Panikattacken sind Menschen, die den medial verbreiteten Bildern von islamistischen Terroristen entsprechen; sei es der dunkelhäutige Fremde in der U-Bahn oder der freundliche Nachbarsbauer Karim vom Wochenmarkt. Ohne moralisierenden Unterton, schlicht die alltäglichen Wurzeln der Fremdenfeindlichkeit ausgrabend, verhandelt Wittig das Thema Rassismus: „Und dass ich rassistische Gedanken nicht ungeschehen mache, indem ich sie selbst scheiße finde, weiß ich auch so.“
Eine Schäferidylle ist dieses Buch also so gar nicht, und das merkt man schon auf den ersten Seiten, wenn alle aufgebauten Erwartungen – Sommerurlaub in Südfrankreich, schläfriges Schafehüten, und nicht zuletzt der vorangestellte Hirtengesang Vergils von der Befreiung der Natur – konsequent durchkreuzt werden. Das macht das Buch bedrückend und zugleich eindrücklich, zumal hinter der ersehnten Ganzheit immer auch das Kippmoment in die Katastrophe hervorscheint. Da sind die ausgedehnten Wanderungen Noas, die an positive Einsamkeitserfahrungen à la Caspar David Friedrich erinnern und nicht ohne Grund eine erotische Vereinigung mit der Natur beinhalten. Da sind aber auch die vielen Narben, die Schrammen, die Kerben, die Verletzungen im Gras: Befreit wird hier nichts, denn diese Revolution ist dialektisch. Jedes neue Leben – Fauna und Flora – wird wiederum unterworfen: Böcke werden aussortiert, Lämmer röchelnd gegen Stäbe gedrückt, Schafe springen einander in Panik auf den Rücken, sie ziehen eine Schleifspur über den Boden, wenn sie getrennt werden; Geflechte werden zerschnitten, werden ausgehoben, aber das ist eben nötig. Wittig zeigt nicht Gut noch Böse, nicht Moral noch Verpflichtung, sie zeigt schlicht darauf, sie deutet hin – und macht der Leserin damit das richtige Leben im Falschen bewusst. Und Noa wird klar, dass sie Sisyphos gleicht: In Zeitraffungen wird mehr und mehr klar, dass die Entzogenen gegen das übermächtige Erbe ihrer Vorfahren ankämpfen: „Wir schaffen das alles einfach nicht, wie soll das gehen?“, fragt sie sich.
Genau in solchen Sätzen liegt das seismographische Potenzial des Romans: Wittig stellt die Fragen, die weh tun, die man verdrängt, die man lieber mit sich allein ausmacht. Dagegen steht Wittigs Roman ein, es ist nämlich ein Buch, das Einsamkeit politisiert, das Miteinander stark macht. Wie es ist, mit einer alt zu werden, das lernt Noa dann auch bei zwei Bäuerinnen kennen. Doch dafür muss sie sich selbst überwinden, heißt: Man muss die Zukunft ermöglichen. Wenn sie sich dazu entschließt, die transhumance mit einer Schafherde zu gehen, dann schimmert die Perspektive auf Erlösung zart durch. Für eine Auflösung geht es Wittig aber zu sehr um ums, um die Leserin. Und darin zeigt sich dann doch die Verwandtschaft mit Vergil, dessen Doppelstimmigkeit Wittigs Roman gekonnt umsetzt: Panegyrische Rede über das sich Entziehen in der Natur wird von Noas trauernd-mitfühlender Stimme begleitet. Es sind diese unaufgelösten Spannungen durch die Perspektive der Hauptfigur, welche die Leserin vor die Aufgabe stellen, sich mit der Dialektik menschlicher Herrschaft über die Natur zu beschäftigen. Ob die Menschen wieder in die Natur eingehen können, das wird sich zeigen, wenn wir uns mit drängenden Fragen konfrontieren. Deshalb müssen wir diesen Roman lesen – und seine Fragen aushalten können.
* * *