Franz Novotny: Die Ausgesperrten

Von Angelika Reitzer. „Picturing Austrian Cinema“ – Teil 5

Online seit: 28. Dezember 2022
Franz Novotny – Die Ausgesperrten
Franz Novotny – Die Ausgesperrten

S-Bahn-Station Wien-Ost, ein Bahnsteig, abgeblätterte Holzvertäfelung, Taubendreck. Ist das überhaupt in Farbe? Die Geschwister Anna und Peter raffen die Geldscheine (vor allem Zwanziger mit dem Porträt des Erbauers der Semmeringbahn) zusammen, die aus der Armprothese des Trafikanten geflattert sind, nachdem sie den Mann mit einer Billardkugel niedergestreckt haben, geschlagen und getreten, über ihn drübergestiegen sind wie über einen weggeworfenen Sack. Der Trafikant hat Blut auf der Stirn, es rinnt ihm aus dem Mundwinkel, er wehrt sich gegen die Bande von „verdammten Surrealisten“, wie ein Postler den jungen Leuten hinterherschimpft. Der Vater der Geschwister ist ein ehemaliger Nazi-Schauspieler und Sadist, ein Kleinbürger, der seine Familie demütigt und misshandelt, auch er ist kriegsversehrt.

Die Arm- und Beinprothesen der im Krieg deformierten Väter eignen sich bestens als Symbol für den Zustand Österreichs in der Nachkriegstristesse, einer Landschaft voller psychischer Defekte, und die behauptete österreichische Opferrolle im Nationalsozialismus. So wie die SS-Leute in der Ukraine keinen jüdischen Stichwortgeber auf der Bühne sehen wollten, sondern einen Operettensänger, behaupten die Plakate auf dem Bahnsteig (weiterhin und wiederum), Wien sei immer eine Reise wert und werben mit Wiener Walzer. Die Handlung ist im Jahr 1959 angesetzt. Aber Wien ist (schon) Zombieland, in dem die Ruinen und Kanäle, die grauen dreckigen Mauern lädierte und nur notdürftig zusammengestückelte Untote und deren Nachkommen beherbergen. Das Geld in der Prothese und das mehrmals entwendete (arisierte) Geld für eine neue, bessere Gehhilfe als Kalauer für den Wiederaufbau. Kein Platz für Phantomschmerzen.

Die Maturantin Anna und der Maturant Peter („Wir sind irgendwie Faschisten, nur intelligenter“) spielen zwar moderne Musik, lesen Sartre und Camus, betrügen sich selbst aber unter andauerndem „intellektuellem Geschwätz“ (Jelinek), weil sie nur den Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg und Konsum haben.

Hans („Du bist die Faust, ich das Hirn“, sagt Peter zu ihm) würgt den Trafikanten. Der junge Fabrikarbeiter verkauft schwarz Schallplatten und will Sportlehrer werden, die Tageslosung aus der Prothese interessiert ihn weniger. Sein roter Schal ist aber eher Zitat als politische Überzeugung.

Auf die Szenerie schaut die Tochter aus gutem Hause (52:16) in Pelzmantel und weißen Stiefelchen, von der Jelinek sagt, sie sei die Einzige der Bande, die sich anarchistische Züge leisten kann, weil sie frei ist von der prekären Situation der Kleinfamilie und den Zwängen von deren Milieus.

Kracauer sagt, dass das Kriminalgenre nur in Staaten mit gesunder demokratischer Tradition gedeihen konnte. Das trifft bestimmt auf die Beliebtheit des deutschen Sonntagabendkrimis zu, ist es aber ein Indiz für oder gegen die Wirkung des Films von Jelinek und Novotny im Jahr 1982? Wurde die Provokation, dass der ideologische Stumpfsinn des Nationalsozialismus in den jungen Menschen weiterlebt, dass Peters Herrenmenschentum ihn zu Nihilismus und Gewalt antreibt, die mit wirklicher Anarchie natürlich nichts zu tun hat, vom Kinopublikum verstanden? Und wie lesen wir heute, nach weiteren 30 Jahren Sinnlosigkeit und Besessenheit, Amokläufen und Attentaten die Ausgesperrten, zählen wir uns zu ihnen oder sind wir eher ein Krawattenproduzent aus St. Pölten, der durch eine Luke am Dach des Haus des Meeres stolpert und vor grauem Himmel, Kirchtürmen und auffliegenden Tauben nur „Hilfe! Hilfe!“ rufen kann?

Sexualität, die in Erniedrigung und Frustration mündet, die Überfälle zur Geldbeschaffung und um die eigene (ersehnte) Überlegenheit auszuleben, die Schule sprengen, aber sich dennoch um ein Stipendium bemühen, um diese Welt hinter sich zu lassen. Die Wut darüber, dass die Jugendlichen von ihren eigenen Wünschen ausgesperrt sind, wird im Film, dem ein realer Kriminalfall aus der Zeit vorausging, übersetzt in Pyrotechnik und Action, inszenatorische Drastik und 1a Kintopp, in eine Ästhetik des Obszönen inklusive Zerstörung der Körper als Fortführung der faschistischen Körperlichkeit.

Jelineks Peter, der in einem blutigen Gemetzel seine Familie ausrottet, ist einer der ersten Amokläufer in einem österreichischen Film. Nicht wenige „Typen- oder Bedeutungsträger“ (Jelinek) absoluter Machtlosigkeit, deren Individualanarchismus sie und die Gesellschaft, in der sie leben, in die Katastrophe führt, werden ihm folgen.

© Spector Books, Leipzig 2022

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Angelika Reitzer, Schriftstellerin, Drehbuchautorin, zuletzt erschienen die Romane Obwohl es kalt ist draußen und Wir Erben sowie das Inventar der Gegend (Lyrik, Musik, Fotografie) und der Kurzspielfilm Dear Darkness (Regie Antoinette Zwirchmayr, Drehbuch Reitzer/Zwirchmayr), www.angelikareitzer.eu.

Aus: Katharina Müller, Claus Philipp (Hg.)
Picturing Austrian Cinema
99 Filme / 100 Kommentare
Spector Books, Leipzig 2022.
212 Seiten, 100 Abbildungen, € 32

Zu bestellen bei Spector Books