1981, ein Jahr vor meiner Geburt, erschien ein Meisterwerk des österreichischen Films, das in meiner Familie eine höchst eigenartige Rolle spielte. Es ist die eindrucksvolle und düstere Verfilmung von Franz Innerhofers Roman Schöne Tage durch Fritz Lehner. Ich habe den Film im Leben bestimmt fünf- oder sechsmal gesehen, immer mit einem Gefühl der Beklemmung und des Wiedererkennens. Franz Innerhofers eigene als Hilfsknecht auf einem Pinzgauer Hof durchlebte Kindheit diente dem Roman als Vorlage. Für die Verfilmung wurde die Handlung allerdings nach Kärnten verlagert. Meine Familie kommt aus Kärnten, auf väterlicher Seite sind es seit vielen Generationen Slowenisch (oder, wie sie es damals selbst mit einem gewissen Stolz nannten, „Windisch“) sprechende Bauern.
Mein Vater, der eine ganz ähnliche – und vermutlich noch viel traumatischere – Kindheit auf einem Kärntner Bauernhof verlebt hatte, lachte die ganze Zeit.
In dem Film passiert einem kleinen Jungen namens Franz gleich zu Beginn das Unglück, von seiner Mutter auf den Hof des ihm bislang unbekannten leiblichen Vaters geschickt zu werden. Dort behandelt man ihn brutal, verwendet ihn als rechtlosen Arbeitssklaven. Schließlich wird er als Bettnässer zum ewigen Dorfgespött und behält trotz aller Folter einen anarchischen, unbeugsamen Charakter bei, der seine Spannungen in stummem Protest oder gelegentlichen Regelverletzungen entlädt.
Ein einziges Mal schaute ich mir den Film gemeinsam mit meinen Eltern an. Mein Vater, der eine ganz ähnliche – und vermutlich noch viel traumatischere – Kindheit auf einem Kärntner Bauernhof verlebt hatte, lachte dabei die ganze Zeit. Es war ein bisschen unheimlich, denn er lachte sonst nie so viel. Nach einer Weile musste er aus dem Zimmer gehen. Besonders hatte es ihm die am Anfang des Films gezeigte Szene einer Zwangsfütterung des kleinen Franz angetan. Der Bauer zwingt dem Jungen Löffel um Löffel in den Mund, weil dieser sich zu essen weigert. Dem Bengel habe der Bauer es aber gezeigt, jubelte mein Vater und lachte und lachte und stellte sich dann, fern vom TV-Gerät, in der Küche auf, um sich vom Lachkrampf zu erholen.
Aber diese starke Reaktion meines Vaters ist gar nicht das, was ich mit „eigenartiger Rolle“ gemeint habe. Denn der Film ist noch viel stärker mit meiner Familie verbunden als durch bloße Ähnlichkeiten in der dargestellten Biografie. Meine Großmutter mütterlicherseits, die im Februar 2020 starb, hat darin sogar eine Statistenrolle. Es ist keine große, man erkennt sie nicht einmal gut. Sie ist Teil der volkreichen Fronleichnamsprozession in der zweiten Hälfte des Films. An dieser Stelle der Geschichte hat sich die Handlung dramatisch zugespitzt: Als ein Knecht eine auf dem Hof wohnende junge Frau namens Maria schwängert, führt das dazu, dass der Knecht sich erhängt. Maria flüchtet mit dem Fahrrad und gerät in einer albtraumhaften Szene mitten in eine die Landstraße heraufkommende Fronleichnamsprozession, wo sie von einer Gruppe von „Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnaden …“ betenden Frauen aufgehalten und bedrängt wird. Die Frauen fassen nach ihr, zerren an ihrem Haar, an ihren Kleidern, wollen sie nicht vorbeilassen. Unter diesen Frauen ist meine Großmutter. Wenn ich mich nicht irre, sieht man sie, bei 01:41:01, ganz kurz am rechten Bildrand.
Als hätte man meine Großeltern einfach kontextlos abgefilmt.
Die Szene ist einer der leisen Horror-Höhepunkte des Films, eine eindringliche Darstellung von Ausweglosigkeit und Entrechtung. Aber meine Großmutter wusste das nicht. Sie hat einfach in einer Fronleichnamsprozession mitgespielt. An einem windigen Tag. Mehr wusste sie von dem Erlebnis nicht zu erzählen. Am Ende wurde es ein schöner Film. Mit dem Titel Schöne Tage. Bis in ihr hohes Alter war sie davon überzeugt, in einem berühmten Heimatfilm mitgespielt zu haben, der zeigt, wie schön das Leben in Kärnten ist. Ganz gesehen hatte sie ihn nie, obwohl eine VHS-Kassette im Haus vorhanden war und gelegentlich stolz vorgezeigt wurde. Niemand sah einen Vorteil darin, sie über die wahre Natur der im Film erzählten Geschichte zu belehren.
Auch heute noch ergreift mich dieser grauenvolle Film, viel mehr noch als das Buch, und ich bewundere den Sinn des Regisseurs für das leuchtende Detail: die von unten schielenden Blicke, die schwitzenden Nacken bei der Heuernte, die entseelte Feierlichkeit eines Pfarrers, die Momente sprachloser Übereinkunft, die in alles hineintickenden Stubenuhren, die zermarternde Schönheit der Naturlandschaft. Dass es durchwegs Laienschauspieler sind, die die Geschichte für den Zuschauer lebendig machen, trägt zum außerordentlichen Realismus bei, denn schon als Kind, als ich den Film zum ersten Mal sah, erschienen mir die Figuren vollkommen authentisch, als hätte man meine Großeltern einfach kontextlos abgefilmt. Einige der Laienschauspieler sagen ihren Text vollkommen unüberzeugt und hölzern auf, aber genau so taten das ja auch die Leute in Rottenstein, am Hof meiner slowenischen Großeltern. Erst Schöne Tage, diese einfühlsame Studie, hat mich dazu gebracht, anzunehmen, dass sie dies vielleicht, wie eben auch manche Figuren im Film, nicht aus Dumpfheit oder mangelndem Lebensmut taten, sondern aus einer sanften Protesthaltung gegen die über sie verhängte Schöpfung.
© Spector Books, Leipzig 2022
* * *