Paul Jost ist Beamter in einer Sonderkommission des Innenministeriums zur Aufspürung islamistischer Terrorzellen. Sein Arbeitsalltag ist von an- und abschwellenden Alarmbereitschaftsstufen gekennzeichnet, die eine Hand durchforstet Akten, während die andere allzeit bereit am Handy liegt. Seine Persönlichkeit soll dabei möglichst nicht zum Vorschein treten. „Nicht du als Mensch bist gefragt“, erklärt ihm ein Freund, „sondern deine Funktion zählt.“
Er selbst ist frisch geschiedener Vater von zwei Kindern, der sich seit jeher dagegen sträubt, sein Leben von seinem eigenen Vater vorskizziert zu bekommen, aber außer dem vagen Bedürfnis nach mehr Verantwortung weiß er gar nicht, was er genau damit machen soll. Er beobachtet seine Umgebung allzeit und nimmt mehr an ihr teil statt in ihr. Er weiß, dass nicht nur wichtig ist, wer man ist, sondern auch, wie man wahrgenommen wird, und dass wir uns hin und wieder zu stark von zweiterem verunsichern lassen – kurz gesagt, Paul Jost steckt in einer Midlife-Crisis.
Und nun hängt, wie Tschechows Gewehr, eine Bombendrohung als Damoklesschwert über dem deutschen Parlament, auch wenn sie nie eingelöst würde, ist sie es, die die treibende Kraft der Spannung darstellt. Sie macht jedes Telefongespräch zur Nervenstrapaze und sie verstärkt den unüberwindbaren Graben, den Paul Jost in seinem Kopf zwischen die Dinge keilt: West- gegen Ostdeutschland, Sohn gegen Vater, Paul gegen seine (Ex-)Frau Gesine, ‚wir‘, als Zivilisation, gegen ‚sie‘, die Terroristen. Misstrauen und Übervorsicht bestimmen den Handlungshorizont. Im Beruf verhält er sich als Semiotiker, er entschlüsselt und erahnt Bedrohungen, bevor sie ausgeführt werden, und dann als Richter, der Menschen einer Schuld verdächtigen muss, bevor er sich dessen sicher sein kann. Auch wenn er sich anfangs dagegen wehrt, aber er steht allein mit seiner Position da und weicht der Mehrheit. Ein Mensch wird in einem Satz zum „Vollblutdschihadisten“, die Sprache wird zum Mittäter. „Kein Krieg ohne Definition, wer der Feind sei, Feinde sind aus Worten gemacht.“
Und diese Art zu Denken kommt auch in seinem Privatleben vor. Symptomatisch dafür erinnert sich Paul an eine Episode im Café, in dem Gesine auf das an der Wand geschriebene Wort ‚Leidenschaft‘ zeigt. Die Menschen in seinem Umfeld sind bereit, ihm ihre Gefühle vorzukauen, sie müssen überdeutlich werden, damit er sie beim Wort nehmen kann. In Pauls Denkmuster muss eine Absicht ausgesprochen werden, bevor eine Handlung erwidert werden, bevor ein Gefühl wirklich gefühlt werden kann.
Die sprachliche Gestaltung des Romans entspricht dem Innenleben dieser Figur. Sie hängt sich an Nebensächlichkeiten auf und vernachlässigt interessante Details. Sie ist dabei prägnant, aber abgehackt. Eine Unsicherheit ist allgegenwärtig, und diese Oberfläche scheint alles, was es zu sehen gibt, aber darunter schlummert eine Bedrohung. „Das Spannende ist, was mit den Oberflächen verbunden ist“, erklärt eine neue Liaison Paul ihre Faszination für Modefotografie. Am besten ist Punktlandung gerade, wenn das stille Wasser aufgerührt, wenn eine unterirdische Struktur zwischen scheinbaren Oberflächlichkeiten spürbar wird. Als sich Paul Spiel mir das Lied vom Tod ansieht, erkennt er sich in dem kleinen Jungen wieder, auf dessen Schultern ein Mann mit dem Hals in der Schlinge steht, er wird gehängt, sobald der Junge keine Kraft mehr hat, ihn zu halten. Aber die Szene wird nur in Erinnerung gerufen, seine Gedanken dazu werden nicht ausgeführt. Seine Gefühle werden veräußerlicht und doppelbödig dargestellt, so dass wir als Leser uns mehr im Klaren sind, was er fühlt als er selbst.
Oder die schönste Stelle des Romans, die Szene, als Gesine Paul gesteht, dass sie schwanger ist. Diese Offenbarung ist in einer Leidenschaftlichkeit dargestellt, die sie nicht auszubuchstabieren braucht; Pauls knappe, kontrollierte Art, Eindrücke festzulegen, wird überfordert von Gesines Umfassung. Er erahnt, ohne zu verstehen und der Leser zieht die Fäden vor Paul zusammen, bevor Gesine es endgültig für ihn tut. Die Erinnerung ist nicht verklärt, der sich anbahnende Konflikt nicht vom Tisch, aber sie vermittelt einen vielschichtigeren Eindruck der Verbindung, die zwischen zwei Menschen einmal bestand, als die meisten anderen vergleichbaren Szenen, in denen Paul in halbgarer Nostalgie an glücklichere Zeiten schwelgt. Vielleicht werden Feinde aus Worten gemacht, aber Krupp zeigt, wenn auch leider zu selten, was mit ihnen anderes möglich ist. Die Sprache ist Grund zur Verhärtung der Fronten, aber auch die Möglichkeit sie zu überbrücken, jedes Wort kann Angst schüren oder Schuld sprechen, aber auch Tröstung, Verheißung und Liebkosung sein.
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