Sehr geehrte Damen und Herrn, lieber Stefan Gmünder!
„Ein Staatspreis für einen Zweifler, der in Richtung Glück dort aufs Ganze geht, wo die Optimisten bereits nach Atem ringen, von den Realisten ganz zu schweigen.“ Schreibt der Schriftsteller Martin Prinz anlässlich der Preisverleihung an den Literaturkritiker Stefan Gmünder.
Wer ist nun dieser Literaturkritiker Stefan Gmünder?
Was wissen Sie, sehr geehrte Damen und Herren, über Stefan Gmünder? Muss man über den Literaturkritiker Stefan Gmünder etwas wissen? Wenn ja, was? Lässt sich mit Gewissheit und gutem Gewissen über jemanden anderen, zum Beispiel eben über den Literaturkritiker Stefan Gmünder, überhaupt etwas sagen? Läuft man im Sprechen über jemanden anderen nicht stets Gefahr, die ohnehin bestehenden ‚unsichtbaren Kerker der Definiertheit‘ zu zementieren, um mit Paul Nizon zu sprechen, dessen Werk Stefan Gmünder sehr gut kennt. Dieser Paul Nizon schreibt in seinen Journalen: „Sie“ – gemeint ist die Literatur – „durchbricht die Klischees und die Wände, indem sie benennt, tauft, zusammenschaut, Unschuld errichtet und Freiheit – mit den Mitteln der Kunst, mit der Sprache, die plötzlich fasst und WIRKLICHKEIT schafft (natürlich eine neue Wirklichkeit).“ Ob Stefan Gmünder das auch so oder so ähnlich sieht? Ich bin geneigt zu sagen: vielleicht.
Ich weiß in Wahrheit sehr wenig über Stefan Gmünder. Aber was ich weiß ist, dass er an die Literatur glaubt. Und das nicht zuletzt, weil er sie als einen Ort versteht, an dem das Abweichende, das Ausscherende, das Überschießende, das Himmlische, das Nicht-Sein-Dürfende, das Nicht-Sein-Könnende, das Unnütze, das Ausradierte, das Ausrangierte, das Zerfranste und Zerfledderte, das Unpassendste – usw. – Luft zum Atmen hat, sich entfalten kann. Sich als Teil des Lebens zeigen kann. Gar als das Leben selbst?
Sie, die Literatur, wie die Kunst überhaupt, wird gern – sehr geehrte Damen und Herren, wir kennen das alle – wie ein Hund gehalten, bei schönem Wetter gibt es einen Ausflug und besondere Leckerlies. Stolz präsentieren die Besitzer die besonderen Kunststücke der domestizierten Tiere, betonen das Herausragende der Rasse, stutzen zurecht, was zurecht gestutzt gehört, weil es sich eben gehört, finden dies und jenes liebenswürdig, die Fremdheit vor allem, ach diese Fremdheit der Haustiere usw. Ich weiß nicht sehr viel über Stefan Gmünder, aber ich weiß, dass ihm dieses Halten von Literatur, von Kunst überhaupt, widerstrebt.
Stefan Gmünder wurde nicht als Leser geboren, auch nicht als Literaturkritiker. Wer wird das schon? Es war vielmehr eine sehr grundlegende Unbehaustheit, mit der er sehr früh haushalten lernen musste.
Hineingewachsen ist er erst spät: ins Lesen, in die Kritik. Intensiv verwachsen ist er dafür mit den Texten, die er bespricht: sein Lesen ist keines von oben herab, und doch ist es ein Lesen mit entschiedenem, unbeugsamem Blick für Qualität: und was literarische Qualität heißt: das weiß Stefan Gmünder dem Lesenden zu veranschaulichen: sehr konkret, sehr genau. Was Ilse Aichinger als Anspruch an das eigene Schreiben formuliert hat, scheint der Maßstab für Stefan Gmünders literaturkritische Arbeit zu sein: „Jeder Satz muss durch ungeheuer viele ungeschriebene Sätze gedeckt sein.“ Stefan Gmünder ist kein Mann der schwurbelnden Sätze, Stefan Gmünder ist kein Showman der Literaturbranche. Stefan Gmünders Texte sind karg und konzis. Und sie erzählen stets vom Leben selbst. Wovon sonst zu erzählen lohnte es sich?
Ich weiß nicht sehr viel über Stefan Gmünder, aber ich weiß sehr genau, dass er poetologische Texte liebt. Auch die von Albert Camus, der 1957 in seiner Rede „Der Künstler und seine Zeit“ unter dem Eindruck von Nationalsozialismus und Kommunismus schrieb, dass die Kunst „über kurz oder lang nur dem Schmerz oder der Freiheit der Menschen“ dienen könne. Dass die Literatur, die den Namen verdient, weil sie sich in niemandes Dienst stellen lässt, auch nicht in den Dienst ihrer Zeit, dass diese Literatur häufig in der Erfahrung eines Mangels wurzelt, also in der Erfahrung, dass die Welt, wie sie sich einem zeigt, das Leben, wie es einem beschert ist, wie man es sich nicht ausgesucht hat, nicht ausreicht, nicht genügt: darauf hat Stefan Gmünder immer wieder hingewiesen.
Ich weiß in Wahrheit sehr wenig über Stefan Gmünder. Aber was ich sehr genau weiß ist, dass er sich mit Demut und Respekt der Arbeit von AutorInnen widmet, dass er sich um, ja, so etwas Großes wie Gerechtigkeit bemüht, um Redlichkeit, darum, im Gespräch mit den Menschen zu bleiben, um ihre Nöte und auch Freuden zu verstehen: und das unabhängig davon, welchen Wert ihnen die Gesellschaft aktuell gerade zumisst.
Ich weiß in Wahrheit sehr wenig über Stefan Gmünder, aber ich weiß sehr genau, dass er sich für die Sichtbarmachung folgenden Umstands einsetzt: dafür nämlich, immer wieder aufs Neue zu veranschaulichen, dass wir unsere Demokratie gefährden, wenn wir, auch und nicht zuletzt in den Qualitätsmedien, auf allen Ebenen komplexe Zusammenhänge permanent Simplifizierungsstrategien und damit Verengungsstrategien unterwerfen.
Ich weiß nicht viel über Stefan Gmünder, aber ich weiß sehr genau, dass er sich niemals zugunsten des eigenen Fortkommens in Selbstlügen verstrickt hat. Das ist in Zeiten wie den unseren sehr viel. Verstehen Sie mich nicht falsch, sehr geehrte Damen und Herrn: Stefan Gmünder ist keiner, der Recht haben will, keiner, der Recht behalten möchte. Er ist vielmehr einer, der die eigene Positionierung permanent akribisch prüft. Einer, der sich nicht in einer mehr oder minder originellen Attitüde, in einer mehr oder minder tragfähigen Moralvorstellung eingerichtet und damit von allem abgeschirmt hat. Stefan Gmünder ist einer, der nicht aufhört sich auszusetzen. Das ist in Zeiten wie den unseren sehr viel. War es nicht zu allen Zeiten das, was zu tun ist?
Wer auch immer Stefan Gmünder ist: er hat herausragende literaturkritische Arbeit geleistet und dem Leben, wie es die Literatur nach seiner Definition auch tut, sehr viel Bedenkenswertes, sehr viel Anrührendes, sehr viel Irritierendes hinzugefügt. Hätten wir die Literatur nicht, sehr geehrte Damen und Herren, hätten wir die Kunst nicht, würden wir nicht an uns selbst ersticken?
Lieber Stefan Gmünder: Ich verneige mich vor Ihrer Unbestechlichkeit, Ihrem mangelnden Talent zu Korumpierbarkeit, Ihrer Substanzwuchtigkeit und Ihrem scharfen, schönen Blick, dem etwas Rettendes, zutiefst Würdevolles innewohnt. „Die Welt ist“, um noch einmal mit Ilse Aichinger zu sprechen, „aus dem Stoff, der Betrachtung verlangt.“
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