Was macht der Zauberer in Drohobycz?

Maxim Biller arbeitet sich seit vielen Jahren an seiner Reizfigur Thomas Mann ab. Zu tun hat dies mit Billers Selbstverständnis als jüdischer Autor in Deutschland. Von Kai Sina

Online seit: 25. August 2021
Thomas Mann
Thomas Mann um 1900

Auf kaum einen Namen reagiert der Autor, Kritiker und Essayist Maxim Biller so gereizt wie auf den Namen Thomas Mann. Einen Eindruck von der Vehemenz seiner Ablehnung konnte man in der Ausgabe des Literarischen Quartetts vom November 2015 gewinnen. Gegenstand der Debatte war die erfolgreiche Familienbiografie Die Manns des Literaturkritikers und Historikers Tilmann Lahme.

Beginnend mit der Feststellung, Lahmes Buch sei von dessen Verlag nur in Auftrag gegeben worden, um die Kaufbereitschaft für Thomas Manns im selben Haus erscheinende Werke neu anzuregen, wendet sich Biller dem biografischen Ansatz des Verfassers zu, dessen konstatierte Analyse- und Reflexionsverweigerung er als „wirklich frustrierend“ bezeichnet: „Heute Nobelpreis, morgen kein Stuhlgang, übermorgen Nazis an der Macht und dann wieder Schreibblockade“ – Lahmes Buch ergehe sich, kritisiert Biller, in der uninspirierten Beiordnung des Bedeutsamen und des Banalen.

Schließlich, nach heftigen Einwänden der Mitdiskutierenden, kommt der Kritiker auf Thomas Mann selbst zu sprechen – und, in einer kaskadenartigen Abrechnung, auf dessen politische Haltung, seine Poetik, seinen Anspruch auf bürgerliche Reprä­sentanz und sein Ansehen in Deutschland: „Ein schlechter Schriftsteller mit seiner schlechten Familiengeschichte. […] Parfümierte, wortreiche, handlungsarme Ideenromane, die deshalb von den Deutschen geliebt werden, weil dieser Mann genauso ein Heuchler war wie sie selbst: ein Scheindemokrat und ein Closet-Schwuler. Und das ist es, was diesen Mann zu einem Dichterfürsten macht, zu einem Praeceptor Germaniae.“

„Heute Nobelpreis, morgen kein Stuhlgang, übermorgen Nazis an der Macht und dann wieder Schreibblockade.“

Man fragt sich, welche Gründe Billers Erregbarkeit in Sachen Thomas Mann hat, und hierbei reicht es nicht aus, seine wahrscheinlich bewusst überzeichnete, wütende Ablehnung bloß als medienwirksames Statement abzutun, wie es der Moderator des Quartetts, Volker Weidermann, nahelegt: „Dafür sind Sie extra in die Sendung gekommen, um das einmal vor großem Publikum zu sagen.“ Nein, wer verstehen will, warum und in welcher Hinsicht Thomas Mann zu einer solchen Reizfigur für Maxim Biller werden konnte, muss dessen literarisches und autobiografisches Werk, ja muss auch unveröffentlichte Quellen einbeziehen. Erst auf dieser Grundlage wird ersichtlich, dass Biller sich äußerst intensiv – und zwar philologisch, literarisch und autobiografisch – mit Thomas Mann und dessen Werk befasst hat, mehr noch, dass wesentliche Teile seines Schaffens als kritisch-produktive Auseinandersetzung mit dem im Literarischen Quartett so dramatisch gescholtenen „Praeceptor Germaniae“ zu verstehen sind.

1.

Maxim Billers germanistische Magisterarbeit, die er im April 1983 an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität eingereicht hat und deren Hauptreferent Wolfgang Frühwald war, trägt den Titel Darstellung und Funktion des Judentums im Frühwerk Thomas Manns. So formelhaft der Titel dieser Arbeit aus heutiger Sicht wirken mag, so bemerkenswert ist diese Themenwahl aus forschungsgeschichtlicher Perspektive: Thomas Manns sich im Lebensverlauf stark wandelnde Beziehung zu den Juden und zum Judentum wurde in der Literaturwissenschaft lange Zeit weitgehend übergangen, ja eigentlich wird sie erst seit den späten Neunzigerjahren intensiv und mit kritischem Impetus verhandelt. Mit seiner Magisterarbeit, die sich entsprechend nur auf vereinzelte Aufsätze stützen kann, betritt der Germanistikstudent Maxim Biller also durchaus wissenschaftliches Neuland.

Die 110 Seiten umfassende Arbeit folgt peinlich genau den Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens, sowohl in formaler, argumentativer als auch methodischer Hinsicht. Ausgehend von einem notwendig kurz ausfallenden Forschungsreferat wendet sich Biller Thomas Manns „Determination“ zu, also seiner selbsterklärten geistigen Herkunft aus dem 19. Jahrhundert. Mit besonderem Fokus auf Manns 1907 erschienenen und bis heute umstrittenen Essay Die Lösung der Judenfrage befasst sich Biller mit dessen philosemitischen Aussagen zur Emanzipation der Juden in der bürgerlichen Gesellschaft, die frappierenderweise durchsetzt sind mit de facto antisemitischen Klischees.

Biller Magisterarbeit © Maxim Biller Privatarchiv
Titelei von Billers Magisterarbeit
Foto: Maxim Biller Privatarchiv

Die sich in Manns Essay manifestierenden Negativstereotype zeichnet Biller sodann in ausführlichen Textanalysen nach, wobei er sich auf den Roman Buddenbrooks und die Erzählung Wälsungenblut konzentriert: auf das typisierte, den einschlägigen Rassentheorien der Zeit entsprechende