Comeback für das „Fräuleinwunder“?

Von Amanda Gorman zurück zu Sibylla Schwarz! Von Felix Philipp Ingold

Online seit: 13. August 2021

Mit Amanda Gorman, die zu Beginn dieses Jahres bei der Inauguration der neuen US-Präsidentschaft ein rhapsodisches Gedicht vorgetragen und damit weltweite Resonanz erzeugt hat, kam das literarische „Fräuleinwunder“ nach längerer Pause zu einem wirkungsmächtigen Auftritt. Nicht nur die junge Autorin selbst, auch die künstlerische Literatur insgesamt und die Poesie im Besonderen gewannen dadurch, gleichsam über Nacht, einen außergewöhnlichen Glamourfaktor, wie er in diesem sonst eher marginalen Interessenbereich nur ganz selten zu registrieren ist.1

Der Begriff des girl wonder, erstmals um 1950 in den USA für Models und Pin-up-Girls verwendet, später dann speziell auf weibliche Wunderkinder beziehungsweise hochbegabte junge Frauen übertragen, ist seit der Jahrtausendwende auch im Deutschen gebräuchlich, hier nun aber mit exklusivem Bezug auf literarische Autorschaft. Eine Neuentdeckung war das damals allerdings nicht, denn schon lange vor dem Begriff gab es – wenn auch stets als Ausnahmephänomen – das „Wunder“ frühreifer weiblicher Autorschaft.

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Man muss in die mittleren 1950er-Jahre zurückblenden, um dieses Phänomen auf eindrückliche Weise gleich zweimal konkretisiert zu sehen. Die achtzehnjährige Françoise Sagan und die um zehn Jahre jüngere Minou Drouet erregten damals globales Aufsehen mit ihren literarischen Erstlingen, Drouet mit eigensinnigen Gedichten und lyrischen Chansons, Sagan mit dem Roman Bonjour tristesse (1954), der noch heute unentwegt nachgedruckt wird. Im Unterschied zu Sagan, die sich mit weiteren Romanen nachhaltigen Ruhm erschrieb, blieb die literarische Halbwertszeit der acht- bis zehnjährigen Minou Drouet sehr eingeschränkt: Zwar brachte sie kurzfristig mehrere erfolgreiche, wiewohl kontrovers begutachtete Lyrikbücher heraus, komponierte nebenher eigene Lieder und trat 1957, zehn Jahre alt, in einem Kinofilm von Raoul André als Hauptdarstellerin auf, doch ihre Aura als girl wonder ging in der Folge rasch verloren und hellte sich auch dann nicht wieder auf, als sie 1966, neunzehnjährig, ihren ersten Roman, Nebel in den Augen, vorlegte, derweil Françoise Sagan den internationalen Literaturbetrieb bis zu ihrem Tod, 2004, mit einer Vielzahl von Erzähl- und Bühnenwerken wie auch mit ihrer Person als halbseidene Bestie gewinnbringend alimentierte.

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Um ein irgendwie vergleichbares „Fräuleinwunder“ literaturgeschichtlich namhaft zu machen, braucht es einen tiefen Schwenk ins frühe 19. Jahrhundert. Die deutsch-russische Jungdichterin Jelissaweta Kulman (auch: Elisabeth Kuhlmann, 1808–1825) schuf damals in Sankt Petersburg binnen weniger Jahre ein Werk im Umfang von mehr als 100.000 Versen, doch blieb sie – eine Halbwaise bescheidener Herkunft – zu Lebzeiten völlig unbemerkt. Gefördert wurde das Mädchen schon als Acht- bis Zehnjährige von ihrem Vormund, einem gebildeten Juristen, der ihr den Zugang zu diversen Sprachen und Literaturen eröffnete und nach ihrem vorzeitigen Tod (sie starb mit siebzehn Jahren an einer Lungenentzündung) eine erste umfassende Edition ihrer Dichtungen vorlegte.

Womöglich ist Jelissaweta Kulman das größte „Fräuleinwunder“ aller Zeiten: Als Kind beherrschte sie Deutsch, Russisch, Französisch und Englisch in Wort und Schrift; als Zwölfjährige übertrug sie Lyrik von Anakreon aus dem Altgriechischen in fünf neuzeitliche europäische Sprachen. Weitere Fremdsprachen eignete sie sich so perfekt an, dass sie aus einigen dieser Sprachen wie auch in diese Sprachen (Alt- und Neugriechisch, Altkirchenslawisch, Latein, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch) gleichermaßen zu übersetzen vermochte.

Jelissaweta Kulman
Jelissaweta Kulman (1808–1825)
Illustration: „Deutsche Dichterinen und Schriftstellerinen in Wort und Bild“ (1885)

Vorab und gleichzeitig verfasste die junge Kulman ihre eigenen Versdichtungen und Kunstmärchen, all dies in unterschiedlichsten Tonalitäten zwischen Komik, Ironie, Parodie, Melancholie, Sehnsucht und Tragik, wenn auch beschränkt auf wenige Vers- und Strophenformen nach antikem Vorbild. Hunderte von geschickt und gefällig komponierten Texten solcher Art hat sie hinterlassen, ein „Wunder“ ist nicht bloß ihre Begabung, sondern auch ihr Fleiß, ihre Beharrlichkeit in einer durchwegs außenseiterischen und völlig echolosen Schreibsituation.

Doch selbst dieses eklatante „Fräuleinwunder“ war nur von kurzer Dauer – wohl feierte man sie postum als „Russlands größte Dichterin“ oder als die „nordische Wunderblume“. Am russischen Zarenhof (weniger jedoch unter zeitgenössischen russischen Literaten) war sie vorübergehend hoch geschätzt, und auch in Deutschland gewann sie (bei Voss, bei Goethe, bei Robert Schumann) erhebliches, allerdings wiederum nur kurzfristiges Interesse, bevor ihr ungewöhnliches Prestige in der Folge für lange Zeit verblasste.

Noch heute ist Jelissaweta Kulman eine weithin unbekannte Größe. In der Geschichte der russischen wie der deutschen Dichtung sind von ihr keine bleibenden Spuren und ist schon gar kein „Einfluss“ auszumachen – ihre fulminante Genialität hatte vorwiegend rezeptiven und reproduktiven Charakter, für die Herausbildung einer eigenen dichterischen Stimme und Statur reichte ihre allzu knappe Lebenszeit nicht aus. In einem mehrstrophigen Gedicht „An den Tod“ hat sie all dies lakonisch vorweggenommen:

Ich sterbe jung, und hoffte,
Ich würde alt, sehr alt;
Und sterb’ ich heut, – ist morgen
Mein Namen schon verhallt!

Doch ein „Fräuleinwunder“ war die Kulman allemal.2 Dass demgegenüber in den europäischen Literaturen keine vergleichbaren „Knabenwunder“ überliefert sind, ist ein bemerkenswertes Defizit, das durch frühreife (im Schnitt deutlich ältere) Jungautoren wie Arthur Rimbaud, Hugo von Hofmannsthal (Loris) oder Raymond Radiguet nicht ausgeglichen wird.

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Geht man nochmals um 200 Jahre retour in der deutschen Literaturgeschichte, trifft man unter dem Namen Sibylla Schwarz (auch: „die Schwarzin“) erneut auf eins der raren „Fräuleinwunder“, diesmal auf eine Dichterin mit intellektuellem Familienhintergrund, eine junge Frau aus dem Pommerschen Patriziat, die als umtriebige „Jungfer“ ein ebenso vielfältiges wie voluminöses Œuvre zu Papier brachte, darüber jedoch bereits 1638, im Alter von siebzehn Jahren, verstarb, obwohl sie von der damals grassierenden Pest ebenso verschont geblieben war wie von den Verheerungen des Dreißigjährigen Kriegs.

Den zeitgeschichtlichen Umständen und allzu vielen familiären Verpflichtungen zum Trotz hat sich Sibylla Schwarz schon in jungen Jahren eine weitreichende Allgemeinbildung erarbeitet; sie war im klassischen Altertum ebenso bewandert wie in der deutschen Poeterey ihrer Epoche, beherrschte diverse Sprachen und erprobte innert lediglich fünf Jahren auf beachtlichem Niveau so gut wie alle Spielformen und Themenbereiche der antikisierenden barocken Versdichtung – vom Schäfer-, Liebes- und Klagelied über das Epigramm und das Sonett bis hin zu groß angelegten Hymnen und Oden, zu Brief- und Gelegenheitsgedichten. Insgesamt sind rund zweihundert solcher Dichtwerke von ihr erhalten geblieben und postum von ihrem Lehrer Samuel Gerlach erstmals veröffentlicht worden.3

In wechselnden, auch männlichen Rollen ließ „die Schwarzin“ das lyrische Ich zu Wort kommen, bisweilen mit spöttischer, dann wieder mit melancholischer, wenn nicht rührseliger Intonation, stets jedoch als gottesfürchtige und der weltlichen Obrigkeit ergebene „Weibspersohn“. Obwohl sie zu Lebzeiten nur wenige ihrer Texte zum Druck beförderte und deshalb in der Öffentlichkeit kaum bekannt war, beschwerte sie sich in Brief- wie in Gedichtform mehrfach über den „gemeinen Pöbel und den Neidt“, von dem sie sich angeblich bedrängt fühlte. Der unentwegte Zorn der Jungdichterin über die ihr von einem kollektiven „Poeten-Feind“ erwiesene „Ungunst“ ist wohl weniger auf persönliche Betroffenheit zurückzuführen als vielmehr auf die generelle Verachtung der dichterischen Kultur durch „aller Weisheit Feind“: „Wenn unsere Poesey, die aller Künste Zier, | so ganz verspeiet wird!“

Sibylla Schwarz
Sibylla Schwarz (1621–1638)
Illustration: „Deutsche Poëtische Gedichte“ (1650)

Andrerseits machte Sibylla Schwarz keinen Hehl daraus, dass sie manche ihrer eigenen Dichtungen für „unwürdig“, sogar für „schlecht“ hielt. Dieser kleinlauten Selbsteinschätzung stand das Urteil ihrer wenigen Förderer und Verehrer – lauter Männer – entgegen, die in ihr eine neue „vorpommersche Sappho“, jedenfalls